Protocol of the Session on March 13, 2008

in Verbindung mit

Dringlicher Entschließungsantrag

Berlins Bürger im Streik fair behandeln!

Entschließungsantrag der FDP Drs 16/1286

Jeder Fraktion steht eine Redezeit von bis zu zehn Minuten zur Verfügung, die auf zwei Redner aufgeteilt werden kann. Es beginnt die Fraktion der SPD mit Herrn Gaebler. – Bitte sehr, Herr Gaebler!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir wollen in der Aktuellen Stunde über die Auswirkungen des Streiks sprechen. Neun Tage Streik bei der BVG, neun Tage keine U-Bahn, keine Straßenbahn, wenige Busse – das ist ein Thema, das die Menschen bewegt, das in ihren Alltag eingreift und worüber wir uns als Politiker unterhalten müssen.

Den Betrachtungen dazu möchte ich einen Dank an diejenigen vorweg stellen, die zur Zeit noch das, was an Mobilität im ÖPNV garantiert werden kann, aufrechterhalten. Das sind die Kolleginnen und Kollegen bei der S-Bahn Berlin und bei den privaten Busunternehmen, die den Notverkehr fahren. Vielen Dank für den Einsatz und für das, was an Mobilität noch garantiert wird!

[Beifall bei der SPD, der Linksfraktion, den Grünen und der FDP]

Mein Dank gilt aber auch den Berlinerinnen und Berlinern, die sich erst einmal auf die Situation eingestellt haben, die weitere Wege laufen müssen, die das Fahrrad oder das Auto benutzen und relativ klaglos im Stau stehen. Das ist eigentlich das Erstaunliche – klar, es gibt mehr Staus, es sind mehr Autos und Räder unterwegs, viele Fußgänger sind auf dem Weg zu den S-Bahnhöfen – , im Großen und Ganzen könnte man aber den Eindruck gewinnen, es laufe alles auch ohne BVG. Das ist zum einen natürlich nicht richtig, und zum anderen müssen wir uns mit den Problemen beschäftigen, die man nicht sieht. Wie sagt es eine Sozialarbeiterin des Johannesstift: „Wer auf die BVG angewiesen ist, der bleibt momentan zu Hause.“ Das sind die Leute, die man nicht sieht – die Alten, die Kranken, die Mobilitätsbehinderten, die Kinder und Jugendlichen, die vielen, die in Haushalten ohne Auto wohnen und nicht mit dem Rad in der Stadt unterwegs sein können oder wollen. Über sie muss man in dieser Runde reden, über sie muss man auch bei denen zum Nachdenken einladen, die ihre berechtigten Interessen als Beschäftigte vertreten. Ich zitiere dazu aus einer Mail, die mir eine Bürgerin aus Wilmersdorf geschrieben hat. Sie bittet mich und uns als Politikvertreter, alle Möglichkeiten einzusetzen, damit dieser lange BVG-Streik ein Ende findet. Sie schreibt:

In meiner Gegend wohnen sehr viele ältere Menschen, meistens alleinstehende und behinderte Frauen. Für den Einkauf müssen sie schon seit langem mit dem Bus einige Haltestellen weit fahren, weil alle Supermärkte das Weite gesucht haben. Viele von ihnen können sich nur mit einem Rollator fortbewegen; dazu gehören auch Arztbesuche, Sparkasse, Banken und z. B. Besuche des Seniorenfreizeitheims, um an Veranstaltungen und Kursen teilzunehmen. Zur Zeit muss dies alles für viele von ihnen ausfallen, und die soziale Bindung ist weggebrochen. Auch die Schüler sind hart betroffen, wenn sie jetzt in den bevorstehenden Ferien keine Möglichkeit haben, zu angebotenen Freizeitaktivitäten zu kommen. Darauf machte mich eine meiner Enkelinnen aufmerksam. Dieser Streik wird vor allem auf dem Rücken der Menschen ausgetragen, die sich nicht wehren können.

Das ist so, und das sollte uns und den BVG-Beschäftigten und Verdi zu denken geben.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion – Björn Jotzo (FDP): Dem Senat!]

Deshalb würde ich mich freuen, wenn bei allem Streit im Detail, bei allen Schuldzuweisungen, wer was nicht rechtzeitig gemacht hat, von dieser Debatte ein gemeinsames Signal ausgehen würde, das Signal: Liebe Beteiligten der Tarifauseinandersetzung! Nutzt die Gespräche, die jetzt laufen, nehmt Verhandlungen auf und setzt diesen Streik im Interesse der Menschen dieser Stadt aus! Sucht eine Einigung am Verhandlungstisch und nicht auf der Straße!

[Beifall bei der SPD, der Linksfraktion und den Grünen]

Wir haben eine lange Zeit der Sprachlosigkeit zu konstatieren,

[Volker Ratzmann (Grüne): Besonders auf Ihrer Seite!]

wobei man vorwegschicken sollte, dass bei einzelnen Personen eine gewisse Sprachlosigkeit wünschenswert wäre.

[Frank Henkel (CDU): Bei Herrn Sarrazin!]

Wenn sich der Finanzsenator in der Öffentlichkeit vehement als tarifführende Partei, die er nicht ist, darstellt, dann ist das nicht immer hilfreich. Es ist gut, dass er sich in den letzten Tagen etwas zurückgehalten hat. Diejenigen, die die Tarifverhandlungen führen sollen, die Vertreter des kommunalen Arbeitgeberverbandes, werden dafür bezahlt, die sollen das machen und auch ihre Spielräume haben. Es gab zu lange zu wenige Gespräche und zu wenige Angebote.

Ein Hinweis noch zu den Äußerungen, wer was mit wem vergleicht.

[Joachim Esser (Grüne): Das hörte sich vor vier Wochen noch ganz anders an. Da konnten Sie den Hals nicht voll kriegen!]

Herr Esser, ich weiß gar nicht, worüber Sie sich so aufregen.

[Joachim Esser (Grüne): Über Sie!]

Dann ist es ja gut, dann scheine ich ja etwas richtig gemacht zu haben. Zu Ihnen und Ihren Aussagen zu den Verkehrsverträgen komme ich noch. – Man muss vorsichtig sein mit den Vergleichen, wer was verdient. Steuerfachangestellte sind kein probater Vergleich. Ein Steuerfachangestellter hat sicherlich eine wichtige Funktion und Verantwortung, das Gesundheitsrisiko beschränkt sich in der Regel aber darauf, dass ihm vielleicht einmal ein Aktenordner auf den Kopf fällt. Bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der BVG – das haben die vergangenen Wochen und Monaten gezeigt – gibt es ein wesentlich größeres Risiko, persönlich von Gewaltvorfällen betroffen zu sein. Auch das muss sich in der Entlohnung niederschlagen.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Der Betrieb muss aber natürlich auch die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Mitarbeiter vor solchen Vorfällen geschützt werden. Das wünsche ich mir im Übrigen auch als Bestandteil der Tarifgespräche. Den Mitarbeitern wäre an manchen Stellen mehr damit geholfen, wenn der Betrieb und das Land Berlin Geld investieren würden, um eine bessere Ausstattung, bessere Schutzmaßnahmen, eine zusätzliche Überwachung und Kontrolle zu gewährleisten, als wenn der einzelne Beschäftigte mehr Geld erhält, diesen Vorfällen aber immer noch ausgesetzt ist. Hier besteht aus meiner Sicht Spielraum, um im Interesse der Mitarbeiter etwas zu bewegen, ohne dass es konkret zu gehaltswirksamen lementen kommt. E Worüber reden wir eigentlich? – Das Land Berlin zahlt der BVG 422 Millionen € in diesem Jahr. Das sind keine Peanuts, das ist ein erheblicher Teil des Landeshaushalts.

Was Verdi fordert, würde 50 Millionen € Mehrkosten für die BVG bedeuten. Wie soll das finanziert werden? Soll die Verschuldung des Landes oder der BVG erhöht werden? – Das ist wohl eher unwahrscheinlich. Insofern bleiben nur die Alternativen Fahrpreiserhöhung – hier steht die Koalition zu der Aussage, dass wir keine Erhöhungen über die Inflationsrate hinaus wollen –, oder es muss einen weiteren Personalabbau geben, wo auch immer dieser möglich ist. Es kann aber nicht sein, dass gesagt wird: Uns ist egal, woher das Geld kommt, Hauptsache es landet bei uns. Deshalb ist die Standardformel von Verdi, dass jedes Angebot des Arbeitgebers eine Provokation sei, eine Leerformel. Sie gleicht Formeln auf dem Fußballplatz, wo gerufen wird: Auf geht’s, Bohra schießt ein Tor! Irgendwann glaubt niemand mehr daran, dass er wirklich ein Tor schießt, weil es so oft wiederholt wird, ohne dass etwas passiert. Auch diese Bezeichnung als Provokation hat sich abgenutzt, und Verdi tat gut daran, gestern zu den Gesprächen beim kommunalen Arbeitgeberverband zu gehen und sie heute fortzusetzen. Es gibt sicherlich Leute, die es als Provokation verstehen, wenn eine Gewerkschaft beharrlich wiederholt: „12 Prozent Lohnsteigerung für alle, ansonsten gehen wir gar nicht erst an den Verhandlungstisch zurück.“ Also insofern: Ein guter Weg, dass die Gespräche beginnen, und sie sollten fortgesetzt werden.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Wir haben uns als Koalition dafür eingesetzt, dass es ein schriftliches Angebot und eine Flexibilität auch bei den Verhandlern gibt. Das haben die Fraktionsvorsitzenden gemacht. Verdi hat das immer gefordert. Verdi hat gesagt: Kein Angebot – kein Verkehr! – Es gibt jetzt ein Angebot. Es gibt leider immer noch keinen Verkehr. Insofern wäre es die nächste Konsequenz zu sagen: Es gibt ein Angebot, es gibt Verhandlungen, also fahren auch die Busse, Straßenbahnen und U-Bahnen wieder. Es liegt in der Verantwortung der Vertreter der Arbeitnehmer, jetzt Stärke zu beweisen, ernsthaft in die Verhandlungen einzusteigen und zu sagen: Wir wollen jetzt eine Lösung am Verhandlungstisch suchen. Das wäre im Interesse der Berlinerinnen und Berlin, aber auch der Arbeitnehmer. Streik ist als letztes Mittel der Tarifauseinandersetzungen legitim, er kann aber nicht Hauptelement sein.

Dieser Senat und die Koalition stehen zum öffentlichen Unternehmen BVG. Wir stehen zum Verkehrsvertrag bis 2020 und zur Beschäftigungsgarantie für die Beschäftigten. Wir erwarten von Verdi und den Beschäftigten aber auch Vertragstreue. Die Zugeständnisse, die sie gemacht haben, waren Teil dieser Vereinbarungen. deshalb müssen sie auch weiterhin Beachtung finden.

Wenn Herr Henkel heute im besten Landowsky-Stil wieder gesagt hat: Liebe BVGerinnen und BVGer! Bei uns wäre das alles ganz anders, wir haben Verständnis für euch!,

[Mario Czaja (CDU): Dann hat er recht!]

möchte ich schon einmal auf die lfd. Nr. 23 verweisen, wo die CDU sich entlarven wird.

[Beifall bei der SPD]

Da fordert sie nämlich, bei der BVG die Fremdvergabequote zu erhöhen und den Verkehrsvertrag neu zu verhandeln. Die Grünen haben sich dem angeschlossen. Das ist die Vertragstreue, wie Grüne und CDU sie verstehen. – Vielen Dank für dieses deutliche Beispiel von gelebter Dialektik, Herr Henkel!

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Die Grünen bezeichnen die Altbeschäftigten der BVG wiederholt als überbezahlt. Herr Esser hat das vorhin wieder getan. Die FDP will alles ausschreiben.

[Zurufe von den Grünen]

Insofern ist Verdi gut beraten, die Gespräche mit diesem Senat und dieser Koalition fortzusetzen. Wer nicht kämpft, hat schon verloren, ist eine alte Weisheit. Wer zu viel fordert, kann anschließend auch mit leeren Händen dastehen, das ist genau so eine alte Weisheit. Endlose Kampfstreiks schaden der Stadt, dem Unternehmen BVG und letztendlich auch Verdi und der Gewerkschaftsbewegung, und daran haben wir kein Interesse. – Vielen Dank!

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Gaebler! – Für die CDU-Fraktion hat nun der Abgeordnete Dr. Pflüger das Wort. – Bitte!

[Oh! von der SPD]

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU-Fraktion begrüßt die neue Gesprächsrunde. Ich glaube, alle in diesem Haus hoffen im Interesse der Berlinerinnen und Berliner, dass dieser Streik, der auf der Stadt lastet, durch einen vernünftigen Kompromiss schnell beendet wird, damit diese Stadt wieder zur Normalität zurückkehren kann.

[Beifall bei der CDU]

Der Streik hat unzählige Menschen in der Stadt beschwert, alte und kranke Menschen vor allem, Menschen, die über kein Auto verfügen, Kinder. Es gibt vor allen Dingen große Probleme beim Einzelhandel. Da gibt es viele kleine Unternehmen, Würstchenstände, Kioske, Buchhandlungen, Bäckereien in den U-Bahnhöfen. Viele Menschen sind an den Rand ihrer Existenz gekommen. Sie haben 90 Prozent Einbußen, sie können ihre Kredite nicht mehr bezahlen. Das alles lastet auf dieser Stadt. Dazu kommen Äußerungen wie von Herrn Nerger, der sagt, das schade dem Ansehen Berlins, durch den lang anhaltenden Streik entstehe für den Tourismus ein großer Schaden.

Dieser Streik muss schnell beendet werden. Aber es gehört auch zur Wahrheit, dass dieser Senat und Sie, Herr Wowereit, ganz persönlich eine große Mitschuld daran

tragen, dass es überhaupt zu dieser Eskalation und zu diesem Streik gekommen ist.

[Beifall bei der CDU – Zurufe von der SPD]

Der erste und wichtigste Punkt, warum das so ist: Wir haben eine Haushaltsdebatte erlebt, in der vor wenigen Monaten nur noch Erfolgsmeldungen verkündet worden sind. Da wurde gesagt: Ein Riesenerfolg für die Berliner Finanzen, wir haben unseren Haushalt ausgeglichen! Jetzt sind wir über den Berg. Wir machen es anderen Bundesländern vor. – Herr Wowereit hat im Zusammenhang mit dem Hauptstadtvertrag von einem Quantensprung für Berlins Finanzen gesprochen. Da wurde ein Überschuss von 80 Millionen € gefeiert. Wenn die Berliner Finanzen jetzt so gefeiert werden, nachdem man vor einem Jahr noch gesagt hat, wir sind in einer Haushaltsnotlage, darf man sich nicht wundern, wenn aus dieser Beweihräucherung des Senats Begehrlichkeiten der BVG und des öffentlichen Dienstes im Ganzen entstehen.

[Beifall bei der CDU – Zuruf von Dr. Fritz Felgentreu (SPD)]