Jede Fraktion hat für die Beratung eine Redezeit von bis zu zehn Minuten zur Verfügung, die auf zwei Redner aufgeteilt werden kann. Es beginnt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Herr Esser. – Bitte schön, Herr Esser!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der öffentliche Nahverkehr ist für uns Grüne ein besonderes Lieblingskind. Jeder weiß, dass wir ihm weit mehr Passagiere wünschen, als er im Augenblick hat. Jeder weiß, dass uns deshalb das Angebot an Bus- und Straßenbahnlinien nicht groß genug sein kann. Manchmal träumen wir davon, die U-Bahn und S-Bahn führen im Zwei-Minuten-Takt, und der Bus oder die Straßenbahn kämen alle fünf Minuten um die Ecke, und das Ganze am liebsten rund um die Uhr und zum Nulltarif. Das ist ein Traum!
Ein Traum, den nicht nur wir träumen, sondern Hunderttausende, die in dieser Stadt morgens um sechs oder nachts um halb eins im Regen an der Bushaltestelle stehen.
Aber wir wissen alle, dass das ein Traum bleiben wird, weil ein derartiges Verkehrsangebot nicht finanzierbar ist, schon gar nicht im Pleiteland Berlin mit seinen 60 Milliarden € Schulden. Sie werden aber verstehen, meine Damen und Herren von SPD und Linkspartei, dass wir jenseits aller Träume deshalb mit aller Kraft dafür kämpfen, dass das Angebot des öffentlichen Nahverkehrs in Berlin erhalten bleibt und nicht derart abgebaut wird, wie wir es in den letzten Jahren erleben mussten.
Wir wollen, dass dieses Angebot bezahlbar bleibt, dass Schluss ist mit immer neuen Fahrpreiserhöhungen weit
über der allgemeinen Teuerungsrate. Seit SPD und Linke in Berlin regieren, haben sie die Leistungen der Straßenbahnen, gemessen an der Linienlänge, um 20 Prozent gekürzt. Das Busangebot wurde um 18 Prozent gekürzt, die Leistungen der U-Bahn um fast 5 Prozent. Im gleichen Zeitraum haben Sie die Monatskarte für die treuen Kunden – für so jemanden wie mich zum Beispiel – um 25 Prozent und das Sozialticket für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger – also für die, die es besonders notwendig haben – um 63 Prozent verteuert. Höhere Preise für weniger Leistung – das ist die Quintessenz Ihrer Politik! Das ist umweltfeindlich und unsozial! Wenn Sie so weitermachen, sieht der Fahrplan eines Tages so aus wie der Speiseplan des Herrn Sarrazin.
Die Fahrgäste müssen dafür bluten, dass es Ihnen in sechs Jahren Regierungszeit nicht gelungen ist, den wesentlichen Dienstleister in unserer Stadt, die BVG, zu dem leistungsfähigen Verkehrsunternehmen zu machen, das wir uns alle wünschen.
Die Patientin BVG ist seit Jahren chronisch krank, und noch immer ist nicht abzusehen, ob und wann sie gesund wird.
750 Millionen € Schulden hat die BVG aufgetürmt, obwohl sie mit Vermögensverkäufen wie dem der BVGWohnungen dagegen angekämpft hat. Die Krise hält an. 2006 hatte die BVG einen operativen Verlust von 55 Millionen € zu beklagen, und 2007 wird das Jahresergebnis wohl einen Verlust von rund 70 Millionen € ausweisen – und das trotz der Fahrpreiserhöhungen und der Ausdünnung der Verkehrsleistungen. Jeder weiß, meine Damen und Herren Zwischenrufer da drüben, so kann das nicht weitergehen!
Der BVG ist viel bittere Medizin von Ihnen verabreicht worden, aber geholfen hat das wenig. Nach wie vor sind in Berlin die Zuschüsse aus dem Landeshaushalt höher und die Verluste des Unternehmens trotzdem größer als anderswo.
Nein! – Es ist nämlich, Herr Liebich, wie im wirklichen Leben: Wenn man nicht gesund wird, ist das Problem nicht nur der Patient, sondern gleichermaßen der Arzt, der am Krankenbett herumdoktert. Der Arzt heißt in diesem Fall Klaus Wowereit. Um es vorwegzunehmen: Er macht seine Arbeit schlecht. Er ist auch jetzt nicht da.
Der Regierende Bürgermeister hat im Juni 2005 die Zukunft des Nahverkehrs und die Sanierung der BVG zur Chefsache gemacht. Nach einer langen Verhandlungsnacht – wir erinnern uns – erschien er am 16. Juni 2005 hier im Plenum und gab eine Regierungserklärung ab, in der er sich zu der Behauptung aufschwang – ich zitiere –:
Ich bin sicher, dass dieser Abschluss ein Modell nicht nur für Berlin, sondern für die gesamte Republik ist.
Dieses Modell sah folgendermaßen aus: Die BVG bekommt das Monopol auf Verkehrsdienstleistungen bis 2019 und verzichtet auf betriebsbedingte Kündigungen bis 2019. Die neu eingestellten Mitarbeiter der BVG werden nach den bundesweit üblichen Standards entlohnt, die bereits vorhandenen Altbeschäftigten behalten einen Gehaltsvorsprung von nur noch 600 bis 700 € im Monat gegenüber dem Bundesstandard. Ich nehme an, dass der Rest der Republik kopfschüttelnd auf die aktuelle Berliner Situation schaut und auf die Modellbehandlung von Herrn Doktor Wowereit dankend verzichtet.
Dort geht man nämlich eigene und erfolgreichere Wege, denn die Sanierung von Verkehrsunternehmen ist möglich. Das haben insbesondere die Sozialdemokraten in Hamburg bewiesen, Herr Gaebler! Sie haben es geschafft, die Hamburger Hochbahn zu sanieren. Sie zeigen Ihnen, wie ein gut geführtes öffentliches Verkehrsunternehmen aussieht, das sich nicht schamhaft verstecken muss, sondern der Deutschen Bahn und auch anderen privaten Unternehmen selbstbewusst Konkurrenz macht. In Berlin ist der Verlustausgleich pro Fahrgast – wohlwollend gerechnet – 15 Cent höher als in Hamburg. Diese 15 Cent haben es in sich. 15 Cent weniger Subvention pro Fahrgast an die BVG würden bedeuten, dass der Zuschuss aus dem Landeshaushalt 135 Millionen € geringer ausfallen könnte, als er ist.
Anders als die BVG kommt die Hochbahn mit dem vergleichsweise weit geringeren Zuschuss auch hin und produziert nicht obendrein noch rote Zahlen. Das ist eine Leistung, an der Sie sich messen lassen müssen, wenn Sie hier seit sechs Jahren regieren und über den Zustand bei der BVG jammern.
Wenn ich die Zeichen der Zeit richtig deute, möchte Herr Wowereit gern Chef aller Sozialdemokraten in Deutschland werden. Dann beweisen Sie doch erst einmal, dass Sie die Chefsache öffentlicher Nahverkehr zu einem gleich guten Ende bringen können wie Ihre Genossen in Hamburg! Diese Leistung wird nicht auf dem roten Teppich der Berlinale vollbracht, sie ist aber von überragender ökologischer und sozialer Bedeutung für unsere Stadt. [Beifall bei den Grünen]
Der gute Herr Wowereit hat sich am 8. Dezember 2005 während der Haushaltsberatungen hier im Plenum zu fol
Da sind nicht Geschenke verteilt worden, sondern die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben in einem Solidarpakt bis 2019 auf jegliche Gehaltserhöhung verzichtet. Das ist der Mentalitätswechsel, den ich zu Recht eingefordert habe, und er hat auch gegriffen.
Wenn ich mich nicht irre, ist heute der 14. Februar 2008, und wir befinden uns mitten im Arbeitskampf. Es ist eben so gekommen, wie es kommen musste. Was Herr Wowereit damals bewusst verschwiegen hat: Er hat vor drei Jahren alle eigenen Wohltaten bis 2019 garantiert und gleichzeitig unterschrieben, dass die Gegenleistungen der Gewerkschaft nur bis 2008 gelten.
Natürlich nutzen die Gewerkschaften – das ist ihre Aufgabe – jetzt die erste Gelegenheit, aus dem Solidarpakt auszubrechen. Der Streik platzt mitten in den Sanierungsprozess der BVG. Von einem Unternehmen mit 75 Millionen € Jahresverlust wird verlangt, ca. 50 Millionen € zusätzliche Gehaltskosten zu schultern. Sie wissen selbst, dass das nicht geht.
Bei der BVG ist nichts zu holen. Deshalb ist das, was wir jetzt erleben, faktisch ein Streik für höhere Fahrpreise oder aber für einen höheren Zuschuss aus dem Landeshaushalt.
Über die unsoziale Wirkung von Fahrpreiserhöhungen in der erforderlichen Größenordnung von 10 Prozent brauche ich kein Wort zu verlieren. Vielleicht wäre etwas zu den Illusionen über die finanzielle Leistungskraft des Staates im Landes Berlin zu sagen, aber das können wir uns in diesem Haus jetzt vielleicht auch schenken. Im Berliner Haushalt herrscht nämlich nach wie vor brutaler Verdrängungswettbewerb. Da stehen dann die Lohnforderungen der BVG gegen die Lohnforderungen der Beschäftigten der Bezirke und der Hauptverwaltung und sie alle zusammen gegen bessere Schulen und Kitas, den Erhalt der Schwimmbäder, die Sanierung der öffentlichen Gebäude, gegen Kultur und Wissenschaft, Jugendhilfe, Kinderschutz usw. Soziale Politik, die ich anmahne, gerät hier zur hohen Kunst des Regierens, die die verschiedenen Bedürfnisse intelligent und kreativ austariert.
Den Beweis, das zu können, sind Sie uns bisher schuldig geblieben. Ich kann keine klare Linie bei Ihnen erkennen.