Protocol of the Session on November 24, 2005

Aber die schrecklichen Nachrichten der letzten Wochen scheinen immerhin zu einem Prozess des Nachdenkens geführt zu haben, denn heute erklärt überraschend der Jugendsenator, dass er genau dies, nämlich Vorsorgeuntersuchungen zur Pflicht zu machen, für richtig halte. Ich freue mich darüber, dass diese Erkenntnis nun da ist,

und ich möchte ganz ohne Polemik sagen: Herr Senator! Wir nehmen Sie beim Wort. Starten Sie mit uns gemeinsam eine Gesetzesinitiative, die Vorbildcharakter für andere Bundesländer haben kann! Lassen Sie uns nicht Monate abwarten, in denen erneut vernachlässigte Kinder die Schlagzeilen dominieren! Lassen Sie uns hier und heute den Berlinerinnen und Berlinern erklären, dass wir nicht mehr tatenlos zusehen werden, wie kleine, schutzlose Kinder von ihren eigenen Eltern an Leib und Leben geschädigt werden! Unterstützen Sie uns jetzt bei unserer Initiative, und lassen Sie von Ihrem Vorhaben ab, erneut die Jugendhilfe drastisch zu kürzen! Reden Sie mit uns darüber, wie man in Berlin dem Kindeswohl wieder Vorrang geben kann!

[Beifall bei der CDU]

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nunmehr Frau Hämmerling das Wort. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Warum wollen wir jetzt und hier mit Ihnen über ein Palastmoratorium diskutieren?

[Henkel (CDU): Das fragen wir uns auch!]

Ganz einfach: Frau Senatorin Junge-Reyer will einen Abrissauftrag erteilen. In Kürze soll es so weit sein, und dann ist das Ganze nicht mehr rückholbar.

[Beifall bei den Grünen, der CDU und der FDP]

Wir wollen den Abriss nicht,

[Gaebler (SPD): Ihr habt im Bundestag dafür gestimmt! – Zuruf des Abg. Liebich (Linkspartei.PDS)]

und wir befinden uns damit in einer sehr guten Gesellschaft mit mehr als der Hälfte der Bevölkerung in Berlin.

[Dr. Lindner (FDP): Was haben die Grünen im Bundestag gemacht?]

Herr Gaebler! Die Mär, dass die Grünen im Bundestag etwas anderes beschlossen haben,

[Dr. Lindner (FDP): Spricht für sie!]

wird auch dadurch nicht richtig, dass Sie diese Unterstellung von Herrn Liebich wiederholen. Mir liegt das Abstimmungsergebnis vor. Ein Viertel der Grünen im Bundestag hat sich in einer freigegebenen Abstimmung für eine Wiederherstellung des Schlosses entschieden. Der Rest hat sich dagegen und damit für den Palast entschieden.

[Beifall bei den Grünen – Anhaltende Zurufe von der SPD, der CDU, der Linkspartei.PDS und der FDP]

Ein Blick ins Protokoll, Herr Gaebler, reicht aus, um das zu belegen. Erzählen Sie nicht immer so einen Käse.

[Beifall bei den Grünen]

Warum gehen die Wogen hier so hoch, wenn wir über den Palast diskutieren? – Ganz einfach: Weil es ein Thema ist, das auch 16 Jahre nach der Wende noch ideologisch diskutiert wird. Für die PDS war der Palast Sinnbild des DDR-Sozialismus, und für die CDU war er das Gegenteil, nämlich ein Sinnbild der DDR-Diktatur, eine Ruine, ein Schandfleck. Aber historisch betrachtet war der Volkskammersaal nicht nur Machtzentrum der DDR, sondern hier wurden die Beschlüsse zur deutschen Einheit gefasst. In diesem Volkskammersaal wurden die Beschlüsse für die deutsche Einheit von dem ersten frei gewählten Parlament der DDR gefasst. Das ist auch Geschichte. Das müsste eigentlich die kalten Krieger in der CDU zur Besinnung bringen.

[Beifall bei den Grünen]

Aber den vielen jungen Leuten, die heute den Palast besuchen und das Ambiente genießen, ist das völlig egal. Die sehen weder das eine noch das andere in diesem Gebäude. Für sie der Palast das, was er ist, nämlich ein Haus mit einer phantastischen Kunsthalle. Der Rohbau – machen Sie sich das bitte klar –, wie er dort steht, hat einen Sachwert von 100 Mio €. Das reißt man nicht einfach ab. Nicht nur die jungen Menschen sind von dem Ambiente begeistert, sondern auch die Reichen und Schönen dieser Republik haben sich dort in den letzten drei Jahren die Klinke in die Hand gegeben.

[Pewestorff (Linkspartei.PDS): Haben Sie Herrn Lindner dort gesehen?]

Der BDI und der Bund der Architekten haben dort ihre Jahreshauptversammlungen abgehalten. Das spricht dafür, dass das Gebäude mehr ist als eine Ruine. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der BDI, eine Institution, die der CDU und der FDP nahe steht, sich in einer Ruine treffen würde.

[Pewestorff (Linkspartei.PDS): Die machen noch ganz andere Sachen!]

Ich empfehle Ihnen: Schauen Sie sich das Innenleben des Palastes einmal an. Das bildet ungemein. Andernorts nimmt man viel Geld in die Hand, um solche Kunsthallen zu bauen. Hier sollen sie abgerissen werden. Das ist völlig irrsinnig.

Mit dem Abriss des Rohbaus wird die Schlossinsel wieder genau das sein, was die Fläche durch den Abriss der Schlossruine durch Ulbricht wurde, nämlich eine öde und zugige Stadtlandschaft.

[Gaebler (SPD): Das ist sie doch jetzt auch!]

Wer den Palast abreißen will, der muss sich darüber im Klaren sein, dass er nichts anderes mit diesem Ort tut als das, was 1953 durch Ulbricht und die SED passiert ist.

[Zurufe von der SPD, der CDU, der Linkspartei.PDS und der FDP]

Wir haben kürzlich die immobilienökonomische Machbarkeitsstudie zur Kenntnis nehmen müssen. Alles, was sie ausgesagt hat, war: Machbar ist das Humboldtforum nicht, weder hinsichtlich der Flächen noch hinsicht

lich der Finanzierung. Deshalb plädieren wir dafür, dass es eine weitere Zwischennutzung gibt. Natürlich muss der Schandfleck beseitigt werden. So, wie es dort aussieht, kann es nicht bleiben. Aber schauen Sie doch einmal, was Christo mit wenig Mitteln innerhalb kurzer Zeit mit dem Reichstag gelungen ist.

[Gelächter von der SPD, der CDU, der Linkspartei.PDS und der FDP]

Bei einer solchen Übergangslösung wäre es durchaus denkbar, dieses Gebäude künftig in ein Humboldtforum oder was immer dort entstehen wird einzubeziehen.

Ich muss zum Schluss kommen. Ich konnte leider nicht alles vortragen, da ich mich gegen die Lautstärke der Kolleginnen und Kollegen durchsetzen musste. Wir haben heute einen Antrag für ein Palastmoratorium eingebracht, den wir zur Sofortabstimmung stellen. Stimmen Sie diesem Antrag und unserer Aktuellen Stunde zu!

[Beifall bei den Grünen]

Danke schön, Frau Hämmerling! – Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Lindner das Wort. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Debatte zur Regierungserklärung der großen Koalition verglich der Bundesfinanzminister das Verhältnis von Staatseinnahmen, Steuern einerseits und Makroökonomie andererseits mit einem Flugzeug. Franz Josef Strauß sagte, das sei in einer ähnlichen Fragilität wie ein Flugzeug; man müsse darauf achten, dass durch Seitenruder und Querruder der Trimm so stabil ist, dass es nicht eine einseitige Überlast gibt, durch die das Flugzeug zum Absturz gebracht wird. Das war 1966. Es ging damals um ein Staatsdefizit von 3 Milliarden DM. Strauß sagte im Ergebnis: Wenn man zu viele Steuereinnahmen generiert, belastet das die Wirtschaft derart, dass es letztlich durch Transferleistungen im Sozialbereich vor allen Dingen zu einer höheren Arbeitslosigkeit, einem niedrigeren Ertrag der Wirtschaft, einem Anwachsen der Staatsausgaben und einer Abwärtsspirale kommt. Das passiert natürlich auch, wenn man zu wenig Staatseinnahmen hat, um die wichtigen Aufgaben, die der Staat hat – Infrastruktur, damit wieder wirtschaftliches Leben gedeiht –, finanzieren zu können.

Ich stelle fest: Das Flugzeug ist mittlerweile abgestürzt. Nachdem es sich ein paar Jahrzehnte noch einigermaßen in der Luft halten konnte, hat es vor allen Dingen in den letzten Jahren eine Orgie von Erhöhungen bei Abgaben und Steuern auf Bundesebene und in Berlin gegeben. Das hatte insbesondere für die Berliner Wirtschaft und den Arbeitsmarkt verheerende Folgen. Es ging mit den rot-grünen Hinterlassenschaften los: Ökosteuer, Mineralölsteuer, Tabaksteuer – die wird die Berliner Arbeitnehmer durch den Abbau bei Reemtsma demnächst 200 Arbeitsplätze kosten. Wir haben im rot-roten Senat erlebt, wie insbesondere die Immobilie durch eine Erhöhung der Grundsteuer, der Müllgebühren und der Wasserpreise belastet wird. Das ist ein wesentlicher Standortfak

tor. Jetzt soll den Bürgern durch ein so genanntes Straßenausbaubeitragsgesetz erneut in die Tasche gegriffen werden. Es ist ein Standortfaktor, wie die Immobilien belastet und Investitionen letztlich weiter verhindert werden.

Aktuell hinzugekommen ist die Bildung einer schwarz-roten Übergangsregierung auf Bundesebene. Der fällt im Wesentlichen auch nichts anderes ein, als eine Neidsteuer einzuführen und eine Mehrwertsteuererhöhung durchzuführen. Es war gerade ganz lustig: Ich war mit den Kollegen Zimmer und Müller hier beim Sender. Es ging auch um die Mehrwertsteuer. Der Kollege Müller sagte, das sei ein Kompromiss gewesen. Man muss einmal daran erinnern: Die SPD hatte vor der Wahl gesagt, es werde keine Mehrwertsteuererhöhung geben. Die CDU sagte, sie wolle maximal 18 %. Der Kompromiss, den wir jetzt haben, liegt bei 19 %. Das ist ein spannende Kompromissbildung.

[Beifall bei der FDP]

Ich dachte immer, wenn einer sagt, er wolle 10 € bezahlen und der andere sagt, er wolle 20 €, dann liege der Kompromiss bei ungefähr 15 € und nicht bei 25 €. Das ist die neue Mathematik der schwarz-roten Wahlbetrügerkoalition.

Zudem wird weiter die Einkommensteuer erhöht, und zwar dadurch, dass Vergünstigungen gestrichen werden, ohne die Sätze abzusenken. Es gibt also eine Erhöhung der Mehrwertsteuer und der Einkommensteuer und eine Neidsteuer. Das wird in Berlin auch wieder die Handwerker und die kleinen und mittelständischen Betriebe treffen, die – das ist das Besondere an den Berliner Verhältnissen – stärker darauf angewiesen sind, dass es einen Aufschwung gibt. Hier gibt es 17 % Arbeitslose. In Baden-Württemberg gibt es 5 bis 6 %. Berlin wird es deshalb mehr treffen, wenn eine Orgie an Steuer- und Abgabenerhöhungen durchgeführt wird. Wir müssen heute darüber reden, was wir dem entgegensetzen können. Wir schulden es den Berlinerinnen und Berlinern, eine Situation herzustellen, die ihnen die Chance eröffnet wieder in Arbeit zu kommen. Diese rot-rot-schwarze Steuererhöhungsorgie tut es jedenfalls nicht. – Bis später!

[Beifall bei der FDP]

Meine Damen und Herren! Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich lasse zunächst über den Vorschlag der Fraktion der FDP abstimmen, da sie ihr Kontingent auf Berücksichtigung von zwei eingereichten Anträgen gemäß § 52 unserer Geschäftsordnung noch nicht ausgeschöpft hat. Im Ältestenrat ist signalisiert worden, dem Thema zustimmen zu wollen.

Wer dem Antrag der Fraktion der FDP für das Thema der Aktuellen Stunde die Zustimmung zu geben wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. – Das ist die FDP. Die Gegenprobe! – Gegenstimmen sehe ich nicht. Enthaltungen? – Die übrigen Fraktionen haben sich enthalten.

[Heiterkeit]

Damit hat der Vorschlag der Fraktion der FDP eine Mehrheit gefunden. Die anderen Themenvorschläge sind damit erledigt. Ich sehe die Freude bei Ihnen allen – auch bei der FDP, natürlich.

Ich weise auf die Ihnen vorliegende Konsensliste und auf das Verzeichnis der eingegangenen Dringlichkeiten hin. Wenn sich gegen die Konsensliste bis zum Aufruf des entsprechenden Tagesordnungspunktes kein Widerspruch erhebt, gelten die Vorschläge als angenommen. Über die Anerkennung der Dringlichkeit wird dann jeweils wieder an der entsprechenden Stelle der Tagesordnung entschieden.

Sie finden auf Ihren Tischen ein Schreiben der Fraktion Linkspartei.PDS vom 22. November 2005, das auf Veränderungen von Besetzungen in Kuratorien hinweist und die zu Wählenden benennt. Ich schlage vor, dass wir darüber abstimmen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Wer diesen von der Linkspartei.PDS vorgeschlagenen Veränderungen seine Zustimmung zu geben wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. – Danke! Das waren alle Fraktionen. Gegenstimmen? – Sehe ich nicht. Enthaltungen? – Sehe ich auch nicht. Damit sind die Genannten gewählt.

Folgende Entschuldigungen liegen vor: Der Herr Regierende Bürgermeister ist ab ca. 19.45 Uhr abwesend, um zur Vorbesprechung der Ministerpräsidenten der A-Länder in den Bundesrat zu gehen.