Protocol of the Session on October 27, 2005

Jugendhilfe am Ende – gemeinsam Kahlschlag stoppen!

Antrag der CDU Drs 15/4349

Gegen die Dringlichkeit erhebt sich offensichtlich kein Widerspruch.

Für die Beratung steht den Fraktionen eine Redezeit von bis zu fünf Minuten zur Verfügung. Es beginnt die antragstellende Fraktion. – Das Wort hat der Kollege Sascha Steuer. – Bitte schön!

Ist ein Vertreter der Senatsverwaltung für Bildung in der Nähe? Dann wäre das günstig, ihn bitte zu uns zu holen, damit wir auch das richtige Echo haben. – Wir warten so lange.

Der Senator ist nun im Raum. Ich bitte Herrn Steuer, jetzt zu beginnen!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Haushaltsentwurf des Senats sieht vor, erneut bei der Jugendhilfe zu kürzen, dieses Mal um 33 Millionen €. Nachdem die Jugendhilfe in den letzten beiden Haushalten bereits massiv gekürzt wurde, ist dies der dritte Sparhammer. Kein anderer Haushaltsbereich wurde so drastisch gekürzt wie die Jugendhilfe in Berlin. Um es hier bereits zu sagen: Ja, Berlin lag bei den Hilfen zur Erziehung vor 4 Jahren deutlich über vergleichbaren Bundesländern. Schier grenzenlos wurden Hilfen bewilligt, die Platzkosten und die Anzahl der Empfänger stieg immer mehr an. Aber diese Situation ist schon lange vorbei. Schon seit ein, zwei Jahren kämpfen die Jugendämter mit den neuen Kürzungsvorgaben. In fast allen Bezirken mussten Defizite im Jugendetat gemacht werden, um dem Rechtsanspruch der Kinder und Jugendlichen gerecht zu werden. Eltern, die zurückgewiesen werden, müssten ihre Ansprüche nun gerichtlich durchsetzen, und das ist für viele Eltern kein gangbarer Weg.

Dies führt in der Tat zu einem Umsteuern in der Jugendhilfe. Anstelle einer sinnvollen Prävention, anstelle von kostengünstiger ambulanter Hilfe werden Hilfen nur noch genehmigt, wenn alles schon zu spät ist, wenn eine Heimunterbringung nicht mehr vermieden werden kann. Erst wenn nichts anderes mehr geht und Eltern nicht mehr zurückgewiesen werden können, weil die Situation so schwierig ist, werden nun teurere Hilfen genehmigt, als vorher notwendig gewesen wären.

In der Koalitionsvereinbarung von SPD und PDS – vielleicht sollten Sie zuhören – heißt es: „Wir wollen nicht an der Jugend sparen, sondern für die Jugend.“ – Welch ein Hohn ist das in den Ohren der über 7 000 Jugendlichen, die bereits keine Hilfen mehr erhalten. Über 40 % hat Rot-Rot bei den Hilfen zur Erziehung bereits eingespart. Es sind Jugendliche, die eine LeseRechtschreib-Schwäche haben, die in Spandau vielleicht eine Hilfe erhalten und in Mitte vielleicht nicht. Um es deutlich zu sagen: Es gibt einen Rechtsanspruch auf die Hilfen zur Erziehung. Dieser ist im Kinder- und Jugendhilfegesetz verankert. Aber in diesem Gesetz steht nicht, ab welchem Grad der Legasthenie ein Kind einen Rechtsanspruch hat. Deshalb läuft auch die Argumentation der SPD von dem sonst sehr geschätzten Kollegen Flemming gestern im Hauptausschuss ins Leere. Natürlich werden die Ansprüche nun auf niedrigstem Niveau genehmigt, wenn diese Kürzung um 33 Millionen € Wirklichkeit wird. Anders kann es gar nicht gehen. Und Sie, sehr geehrte Damen und Herren von der Koalition, bringen die Bezirke in die Situation, gegenüber den Menschen Ihre Sparbeschlüsse vertreten zu müssen und erklären zu müssen, warum notwendige Maßnahmen für Kinder und Jugendliche nicht bewilligt werden können.

Die Liga der freien Wohlfahrtsverbände spricht zu Recht von einem Feldversuch, der in Berlin stattfindet.

Die Menschen in Berlin werden einem Test ausgesetzt, wie es ohne Jugendhilfe gehen kann. Das ist sehr befremdlich angesichts der Polemik von SPD und PDS gegen die Verlagerung der Jugendhilfe auf Landesebene. Denn würde diese Verlagerung, die im Bundesrat diskutiert worden ist, Wirklichkeit werden, dann sähe die Situation in Berlin noch ganz anders aus. Wären PDS und SPD nicht nur zuständig für die Bewilligung der Hilfen, sondern auch für die Gesetzesvorgaben, dann würden wir hier eine ganz andere Situation bekommen. Deshalb beobachten andere Bundesländer mit Erschrecken, was sich in Berlin bei den Hilfen zur Erziehung abspielt.

[Beifall bei der CDU]

Es gibt keine fachliche Grundlage für diese Kürzung. Dies musste auch die Bildungsverwaltung im letzten Jugendausschuss eingestehen. Dies ist auch gestern noch einmal von der Finanzverwaltung so im Hauptausschuss bestätigt worden. Es wurde angedeutet, dass die Bezirke eventuell die Hälfte ihrer Haushaltsüberschreitungen bei der Jugendhilfe später ausgeglichen bekommen. Eins kann doch nur sein – das muss man ganz deutlich sagen –: Entweder es gibt Rechtsansprüche, dann sind diese auch zu 100 % in den Bezirkshaushalten zu finanzieren, oder es gibt keine Rechtsansprüche. Es gibt ja nicht 50-%Rechtsansprüche, deshalb ist das, was Sie machen wollen, einfach sinnwidrig.

[Beifall bei der CDU]

Fassungslos hörten wir gestern den zuständigen Fachsenator Böger hierzu im Hauptausschuss. Er sprach allen Ernstes – das ist im Protokoll nachzulesen – von einer Erfolgsgeschichte der Entwicklung der Jugendhilfe in Berlin in den letzten Jahren. Die Tatsache, dass erst 7 000 und nun noch einmal 1 500 Jugendliche keine Unterstützung mehr erhalten sollen, ist also in den Augen des Jugendsenators eine Erfolgsgeschichte. Zynischer geht es nicht mehr. Wie unberührt von dem Schicksal der betroffenen Familien, wie ignorant gegenüber dem Sinn der Kinder- und Jugendhilfe muss man eigentlich sein, um sich zu dieser Aussage zu versteigen, es handele sich hier um eine Erfolgsgeschichte, Herr Senator Böger?

[Beifall bei der CDU]

Nein, es ist keine Erfolgsgeschichte, wenn nicht mehr alle Kinder die Möglichkeit auf ein selbstbestimmtes Leben haben. Es ist keine Erfolgsgeschichte, wenn die Heimunterbringung stagniert und gleichzeitig ambulante günstigere und sinnvollere Hilfen abgebaut werden. Nein, es ist keine Erfolgsgeschichte, wenn Träger mit einer hohen Professionalität kaputtgehen und einige Bereiche nicht mehr abgedeckt werden. Nein, es ist keine Erfolgsgeschichte, Herr Senator Böger, wenn Jugendpolitik nur noch durch die Brille des Finanzsenators gesehen wird und Sie anscheinend diese Brille auch manchmal aufhaben und die Koalition sich bei der Familien- und der Bildungspolitik zurückzieht und die Kinder und Familien sich selbst überlässt.

Deshalb fordern wir Sie auf: Rücken Sie von Ihrem Vorhaben ab! – Wir erinnern die Abgeordneten von SPD

und PDS an ihre Wahlkampfversprechen und an das, was sie in der Koalitionsvereinbarung aufgeschrieben haben. Geben Sie den 1 500 Kindern in Berlin eine Chance!

[Beifall bei der CDU]

Danke schön, Herr Steuer! – Das Wort hat jetzt Senator Böger. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Abgeordnete Steuer hat mich eben von diesem Pult aus zitiert und mir eine Aussage unterstellt, die infam und falsch zugleich ist. Es sind einige Kolleginnen dabei, die im Hauptausschuss waren, und glücklicherweise gibt es da auch ein Wortprotokoll. Selbstverständlich habe ich dort nicht von einer Erfolgsgeschichte gesprochen mit dem Kontext, dass Jugendliche nicht mehr ihr zustehendes Recht erhalten, sondern ich habe von einer Erfolgsgeschichte gesprochen, weil dieser Senat exakt den Vorgaben der so genannten Scholz-Kommission gefolgt ist – der Herr heißt Rupert Scholz von der CDU –, die damals einvernehmlich in der großen Koalition mit dem Ziel gemacht wurden, die vergleichsweise hohen Ausgaben in Berlin gemeinsam zu reduzieren. Und Sie, Herr Steuer, stellen sich hier hin auf der einen Seite, und manche Ihrer Leute reden beständig darüber, dass in Berlin konsolidiert werden muss, und dann wird in einem Bereich – und zwar wird das von den Fachleuten auch anerkannt – wichtig und erfolgreich konsolidiert, ohne die Substanz der Leistung zu beschneiden – das ist eine Erfolgsgeschichte. Das habe ich gestern gesagt und nichts anderes.

[Beifall bei der SPD und der Linkspartei.PDS]

Wer hier mit hoher moralischer Attitüde auftritt, Fraktionen oder Senat diffamieren will, sie hätten nicht das Interesse von Jugendlichen im Auge, was sachlich schon falsch ist, und zugleich einen Senator in dieser Art und Weise diffamiert, mein lieber Herr Steuer, der verlässt die Ebene einer rationalen Argumentation und begibt sich auf billige Polemikebene. Das sollten Sie nicht tun.

[Beifall bei der SPD und der Linkspartei.PDS]

Vielen Dank, Herr Senator! – Es folgt die Fraktion der SPD. Das Wort hat Frau Müller. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Bis vor wenigen Minuten habe ich mich gefragt, warum wir schon wieder einen Antrag der CDU, diesmal sogar einen dringlichen, auf der Tagesordnung haben. Jetzt ist es mir klar: Herr Steuer sucht hier immer ein Podium für seine populistischen und nicht wahrheitsgemäßen Äußerungen.

[Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU: Na, na!]

Wir beschäftigen uns hier seit langem auf Wunsch der CDU mit Fragen zu Hilfen zur Erziehung. Ich will dieses Thema überhaupt nicht abwerten, es ist sehr wichtig. Vor allem die finanzielle Ausstattung dieses Bereichs der Jugendhilfe ist ein wichtiges Anliegen. Aber man muss auch

etwas zu sagen haben. Man muss etwas Neues zu sagen haben. In der vorigen Sitzung vor den Herbstferien – sie ist vier Wochen her – hatten wir einen Antrag der CDU bzw. die Beschlussempfehlung aus dem Ausschuss auf der Tagesordnung, unter dem Titel: „Kinder und Jugendliche nicht im Stich lassen – Hilfen zur Erziehung retten“. Das wurde hier im Plenum ausführlich besprochen. Nun ist die Jugendhilfe am Ende. Jetzt haben wir den nächsten Antrag, diesmal einen dringlichen Antrag der CDU. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, was passiert ist, so dass wir das Thema erneut besprechen müssen, und bin zu der Erkenntnis gekommen: Nichts ist passiert. Es gibt nichts Neues. Die 2. Lesung im Hauptausschuss steht noch an. Wir haben denselben Stand wie vor vier Wochen. Nach dem Motto: Gut, dass wir darüber geredet haben. – Ich will nicht die Sozialarbeiter diffamieren, aber vielleicht, Herr Steuer, hätten Sie Sozialarbeiter werden sollen.

[Beifall bei der SPD]

Es ist ein wichtiges Anliegen, über die Hilfen und deren finanzielle Ausstattung zu reden. Es ist sehr problematisch, über die von der Finanzverwaltung vorgeschlagenen Kürzungen zu debattieren, wenn es zum einen Bezirke gibt, die die Zuweisungen – wohlgemerkt, nach den verkündeten Einsparungen – als durchaus auskömmlich bezeichnen, wenn die Bezirke die mittels Globalsumme zugewiesenen Beträge für die Hilfen zur Erziehung nicht Kindern und Jugendlichen zugute kommen lassen, sondern in andere Haushaltstitel umleiten, und – zum Dritten – wenn die Bezirke die zugewiesenen Mittel in dem Titel gar nicht ausschöpfen. Dann kann doch die Finanzverwaltung nur auf die Idee kommen, hier noch weiter sparen zu wollen. Der springende Punkt bei diesem Thema ist der Umgang mit den geplanten Mitteln, nicht nur die Summe, die für diesen Bereich der Jugendhilfe zur Verfügung steht. Es geht um den äußerst schwierigen Balanceakt, dass die Mittel für die Hilfen zur Erziehung auskömmlich sind und in den Bezirken auch zweckentfremdet verwendet werden.

Auf Hilfen zur Erziehung besteht ein individueller und nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz geregelter Rechtsanspruch. Diese Leistungen müssen geeignet sein – so will es der Gesetzgeber –, die Erziehungskompetenz der Eltern zu verbessern und zu fördern. Der Rechtsanspruch ist gewahrt und wird gewahrt bleiben. Die Bezirke versichern immer wieder, dass keine Rechtsbrüche zugelassen worden sind oder zugelassen werden. Somit erhalten alle Familien die notwendigen und geeigneten Hilfen. Ausgehend von der Tatsache, dass wir es hier mit einer sehr schwierigen Situation zu tun haben – immer auch unter der Maßgabe, dass der Haushalt von Berlin Not leidend ist –, haben wir mit unseren Haushältern intensive fachliche Auseinandersetzungen und Diskussionen geführt. Ich glaube, dass eine angemessene Lösung sehr nahe ist. Wir werden uns mit den Haushältern noch einmal über dieses Problem verständigen. Ich bin zuversichtlich, dass wir bis zur Abstimmung über den Haushalt eine einvernehmliche Lösung gefunden haben werden. Ich stehe dafür, dass die Bezirke nicht dafür finanziell belastet werden dürfen,

wenn der Rechtsanspruch umgesetzt wird, der durch die Jugendämter selbst nicht steuerbar ist. – Vielen Dank!

[Beifall bei der SPD und der Linkspartei.PDS]

Danke schön, Frau Kollegin Müller! – Jetzt hat der Kollege Steuer das Wort zu einer Kurzintervention. – Bitte schön!

Danke sehr! – Frau Müller! Ich frage mich, wo Sie eigentlich sind in der Stadt,

[Zurufe von der SPD]

wenn die Probleme auftauchen, anscheinend nicht dort, wo die Probleme sind und wo die Menschen sind. Wenn Sie mit den Menschen redeten, dann wüssten Sie, wie die Situation in den Bezirken ist und wie damit umgegangen wird, dass Kinder und Jugendliche einen Rechtsanspruch auf bestimmte Leistungen haben, der aber leider nicht genauer definiert ist. Ich war auch bei der Demonstration der Liga der freien Wohlfahrtsverbände. Ich bin mit den Trägern im Gespräch. Ich weiß nicht, wo Sie sind. Ich habe Sie dort nirgends gesehen.

[Zuruf der Frau Abg. Flesch (SPD)]

Herr Senator Böger, Sie sprachen gestern im Hauptausschuss in der Tat von einer Erfolgsgeschichte. Das wird sich sicherlich im Wortprotokoll nachlesen lassen. Der Kontext war der, über den wir hier reden. Sie sprachen von einer Erfolgsgeschichte der Jugendhilfe in den letzten vier Jahren. Und weil Sie die Scholz-Kommission und den Namen so deutlich angesprochen haben: Ja, die Scholz-Kommission hat festgestellt, dass die Jugendhilfe in Berlin auf einem anderen Niveau liegt als in Hamburg.

[Zuruf des Abg. Gaebler (SPD)]

Aber der von mir sehr geschätzte haushaltspolitische Sprecher der PDS-Fraktion, Herr Kollege Wechselberg, hat ihm dann ins Stammbuch geschrieben, dass er nicht der Auffassung sei, dass man Berlin und Hamburg gleichsetzen könne, sondern dass es Unterschiede in der Sozialstruktur gebe, auf die man unterschiedlich reagieren müsse. – So die Worte von Herrn Wechselberg, und er hatte durchaus Recht. Eines ist klar: Es gibt Grenzen des Sparens.

[Beifall bei der CDU]

Danke schön, Herr Kollege Steuer! – Frau Müller, möchten Sie erwidern? – Dann haben Sie das Wort.

Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Das kann man einfach nicht im Raum stehen lassen. Natürlich weiß ich, wie es in der Stadt aussieht. Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Steuer, weiß ich aber auch, was in den Bezirken geredet wird. Ich kenne die Aussagen der Bezirke, die sagen: Wir kommen damit aus. Uns reicht das. –

[Zurufe von der CDU und den Grünen]

Dann ist es sehr schwer, damit umzugehen. Ich glaube nicht, dass hier der richtige Ort ist, über die Bezirke im

Einzelnen zu reden. Wir können es gerne unter vier Augen machen.

[Steuer (CDU): Nennen Sie einen Bezirk hier im Plenum!]

Ich denke, dass ich sehr wohl weiß, wovon ich rede! –