Protocol of the Session on December 9, 2004

lfd. Nr. 2:

Aktuelle Stunde

Bildung in Berlin – klug reformieren, Chancen gerecht verteilen, mehr investieren!

Antrag der Grünen

Herr Kollege Mutlu von den Grünen hat das Wort. In der ersten Rederunde gibt es bis zu 10 Minuten Redezeit pro Fraktion, wobei ich alle Redner darauf aufmerksam machen möchte, dass wir rechts eine Uhr stehen haben, auf der der Beisitzer jetzt 10 Minuten einstellt. Die läuft dann rückwärts, so dass jeder bei der Rede sehen kann, wie viel Minuten Zeit er noch hat und damit auch pünktlicher aufhören kann. – Wenn Redezeiten überschritten werden, werden wir das entsprechend ahnden.

[Ritzmann (FDP): Sonst gibt es einen Elektroschock!]

Danke schön, Herr Kollege Mutlu, dass Sie das so nett mitgemacht haben. Sie haben jetzt das Wort!

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der PDS]

[Beifall bei den Grünen]

Deshalb sind mehr Anstrengungen notwendig, diese Gruppe gezielt zu fördern und diese Jugendlichen für diese Gesellschaft zu gewinnen.

Unser Schulsystem verschwendet zu viel Energie auf das Sortieren und zu wenig darauf, die Schülerinnen und Schüler möglichst optimal und individuell zu fördern. Bildungssysteme, in denen jedes einzelne Kind individuell nach seinen Talenten und Bedürfnissen optimal gefördert wird, erzielen insgesamt die besten Ergebnisse. Dabei steht sich die Förderung von leistungsstärkeren, unseren Exzellenzen, und der leistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler nicht gegenüber, sondern das sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Fördern und Fordern, darauf kommt es an.

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der PDS]

Viele der erfolgreichen PISA-Länder haben eine Gemeinsamkeit. Die Schülerinnen und Schüler werden möglichst lange gemeinsam unterrichtet. Begleitet wird das Ganze von einer Lern- und Unterrichtskultur, in der die Schülerin und der Schüler im Mittelpunkt steht. Individuelle Förderung ist in diesen Ländern keine Floskel, son

Mutlu

Klug reformieren, das ist eine weitere wesentliche Aufgabe der Bildungspolitik. Wenn ich die Politik der rot-roten Koalition oder Ihre Politik der letzten Jahre, Herr Böger, bewerten müsste, sage ich: Sie haben schon wichtige Weichenstellungen in Angriff genommen. Aufzuzählen wäre die frühe Einschulung, die flexible Schulanfangsphase, die Sprachförderung oder die stärkere Eigenverantwortung. Dann kommt jedoch schon das Aber: Einerseits sagen Sie, Bildung habe Priorität, andererseits streichen Sie Referendariatsplätze. Einerseits betonen Sie die Bedeutung der frühkindlichen Bildung, dann kürzen Sie bei den Kitas. Einerseits sagen Sie, die Sprache sei

wichtig und der Schlüssel für die Integration, andererseits bieten Sie die Sprachfördermaßnahmen und -kurse nur den Schülerinnen und Schüler an, die keine Tageseinrichtung besuchen. Einerseits schreiben Sie die Integration von behinderten Kindern in der Schule als Regelfall ins Schulgesetz, andererseits kürzen Sie die Integrationszuschläge für behinderte Kinder im Schulhortbereich und schaffen die Förderausschüsse in den Schulen ab. Last but not least: Einerseits schreiben Sie im neuen Schulgesetz eine verstärkte Eigenverantwortung für die Schulen vor, andererseits reglementieren Sie diese durch Ausführungsvorschriften und Rundschreiben und sorgen dafür, dass Eigenverantwortung zur Mangelverwaltung ausartet. Ihre Koalition ist in der Bildungspolitik unglaubwürdig, hat keine klare Linie. Sie gehen die Reformen zu zaghaft an und haben keine Unterstützung im Senat, wenn man Herrn Sarrazin und die anderen Senatskollegen sieht.

Wir meinen, Bildung ist in unserem rohstoffarmen Land der Rohstoff der Zukunft und nicht nur für die Wirtschaft, sondern für die Gesellschaft insgesamt. Aus dem Grund dürfen wir nicht im europäischen Mittelmaß stecken bleiben. Bei den Bildungsinvestitionen zu sparen heißt, den Ast abzusägen, auf dem wir sitzen. Mehr investieren ist in Anbetracht der Berliner Haushaltslage nicht ohne weiteres möglich, das sehe ich ein. Deshalb schlagen wir vor, die Erbschaftssteuer zu reformieren, weil es eine Landessteuer ist, weil beim Erben die Eltern ihren Kindern einen Teil ihres Erbes abgeben können und in diesem Zusammenhang nur die Kinder etwas davon haben, deren Eltern auch ein Vermögen haben. Wir meinen, die großen Erbschaften geringfügig höher zu besteuern und das Geld gezielt in die Bildung zu investieren, schafft ein Stück Generationsgerechtigkeit, das hilft allen jungen Menschen, unabhängig vom Geldbeutel ihrer Eltern.

dern die Regel. Deshalb sagen wir als Partei und als Fraktion ganz klar und eindeutig: Mittel- bis langfristig wollen wir eine integrative Schule, in der alle Schülerinnen und Schüler bis zur 10. Klasse gemeinsam und voneinander lernen.

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der PDS]

Um einem Missverständnis hier vorzubeugen – das wird uns immer wieder vorgeworfen –: Wir wollen keine Einheitsschule à la DDR, wir wollen aber auch keine Gesamtschule alten Stils. Wir meinen, erst wenn unsere Lehrkräfte nicht mehr die Möglichkeit haben, Schülerinnen und Schüler in Schubfächer zu stecken und sie immer wieder abzuschieben, können individuelle Förderkonzepte greifen und kann sich erst eine neue Unterrichtskultur entfalten.

Dazu ein Wort an Herrn Böger: Lieber Herr Böger! Wir wollen auch keine ideologisierte Strukturdebatte.

[Frau Dr. Tesch (SPD): Das ist ja neu!]

Ihre Parteikollegin, die Frau Bundesbildungsministerin Bulmahn, oder auch der PISA-Koordinator, Herr Andreas Schleicher, wollen das auch nicht. Worum es geht, ist etwas völlig anderes. Wir wollen das einzelne Kind in den Mittelpunkt der Bildungspolitik stellen und nicht die Institution.

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der PDS – Frau Dr. Tesch (SPD): Wir auch!]

Nicht die Schülerinnen und Schüler sollen sich den verschiedenen Schulformen anpassen, sondern die Schule soll sich den Schülerinnen und Schülern anpassen. Wir wollen eine Schule, die sich auf die individuellen Voraussetzungen und Fähigkeiten eines jeden Kindes einstellt und es auch fördert.

Aber die Konzentration auf Auslese und Aussortieren ist meiner Meinung nach in diesem Zusammenhang ein großes Hindernis, wenn es darum geht, umzudenken, neu zu denken und pädagogisch neue Wege zu beschreiten. Wir wollen eine neue, moderne, integrative Schule, in der Heterogenität und individuelle Förderung keine Fremdwörter sind, und eine Lern- und Unterrichtskultur, die den Anforderungen unserer Zeit und unserer Gesellschaft gerecht wird.

[Beifall bei den Grünen]

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der PDS]

Herr Böger! Was wir brauchen, sind nicht halbherzige Reförmchen, wir brauchen einen Aufbruch, eine Bildungspolitik, die an den Kindern, an den Schulen und an der Zukunft orientiert ist. Wir brauchen eine optimale Förderung für jedes einzelne Kind. Das heißt, wir müssen ernst zu nehmende Bildungsangebote schon im frühkindlichen Alter entwickeln und als ersten Schritt auf diesem Weg die Kita für alle im letzten Jahr vor dem Schuleintritt kostenlos anbieten. Wir brauchen mehr Zeit zum Lernen in echten Ganztagsschulen, in Ganztagsschulen, die den Namen auch verdienen, und das nicht nur für diejenigen, die in Arbeit sind, sondern auch für diejenigen, deren Eltern nicht arbeiten und studieren. Wir müssen eine inhaltliche Reform der Lehrerausbildung auf den Weg bringen statt, wie es in Berlin geschehen ist, eine reine organisatorische Umgestaltung vorzunehmen. Das Stichwort lautet in diesem Zusammenhang Förderung der diagnostischen und pädagogischen Fähigkeiten, insbesondere der Fähigkeiten zum Umgang mit heterogenen Gruppen. Wir müssen endlich die Bedeutung des Sports und der Musik für die Entwicklung der Kinder begreifen und dies auch berücksichtigen.

Mutlu

Nun ist nach der vorgezogenen offiziellen Bekanntgabe der PISA-II-Studie am Nikolausabend um 18 Uhr die Bildungsdebatte in allen Medien neu entbrannt. Die GEW fordert die Einheitsschule, der Deutsche Lehrerverband

will alles so lassen, wie es ist, und das DIW möchte die Hauptschule erhalten. Die Ergebnisse der zweiten PISAStudie sind geringfügig besser als diejenigen der ersten Studie. Man soll die deutsche Schule daher nicht in Bausch und Bogen schlecht reden, aber auch nicht in euphorische Jubelrufe ausbrechen. Man muss diese neuen Ergebnisse vielmehr ernst nehmen, auch wenn man in drei Jahren bei allen Reformen noch keine totale Trendwende erwarten kann. Lassen Sie uns daher sachlich und unaufgebracht über Reformprojekte in der Berliner Schule diskutieren.

Damit komme ich zum ersten Punkt der Aktuellen Stunde: klug reformieren. Wir haben mit dem neuen Schulgesetz eine Reihe von notwendigen Reformen in der Bildungspolitik angestoßen. So beginnt die Bildung bereits in der Kita. Mit der Verbesserung der Erzieherinnenausbildung und dem überall gelobten Bildungsprogramm werden die Kitas zu vorschulischen Einrichtungen, die die Kinder adäquat auf die Grundschule vorbereiten. Ein Sprachlerntagebuch begleitet die Kinder von Anfang an. Dort werden ihre individuellen Fortschritte notiert, und das Sprachlerntagebuch wird in der Grundschule fortgeführt. So können sich die Grundschullehrerinnen und -lehrer von Beginn an auf den Sprachstand ihrer Kinder einstellen.

(D

Außerdem müssen sich alle Kinder bei der Anmeldung zur Grundschule einem Sprachtest unterziehen – dem neuen Test Deutsch Plus. Wenn nach diesem Test ihre Deutschkenntnisse nicht ausreichen, um erfolgreich eingeschult werden zu können, müssen sie einen halbjährigen, verpflichtenden Deutschkurs belegen. Da auch die neuen PISA-Ergebnisse belegen, dass die deutschen Schülerinnen und Schüler zwar in Mathematik, in den naturwissenschaftlichen Fächern und im problemorientierten Denken etwas besser geworden sind, das Lese- und Textverständnis im Allgemeinen hingegen sehr schlecht ausgebildet ist, gilt es vor allem, die Deutschkenntnisse zu verbessern. Dies gilt sowohl für Schülerinnen und Schüler mit einem deutschsprachigen Hintergrund, als auch für Migrantenkinder und deren Eltern. Deshalb appelliere ich an dieser Stelle erneut an den Senat, die so genannten Mütterkurse, die sich einer großen Beliebtheit erfreuen, beizubehalten und gegebenenfalls auszubauen,

[Zuruf der Frau Ströver (Grüne)]

Wir brauchen verbindliche Bildungsstandards und Instrumente der Rückmeldung an die Schulen über das Erreichen der Ziele. Gleichzeitig müssen wir tragfähige Unterstützungssysteme für die Schulen entwickeln und sie bei der Qualitätsverbesserung und der Schulentwicklung unterstützen. Wir müssen den Schulen ein ausreichendes, von ihnen selbst zu verwaltendes Budget für schulbezogene Fort- und Weiterbildung zur Verfügung stellen. Wir brauchen also echte Gestaltungsspielräume für die Schulen.

Statt immer wieder einmal die Unterrichtsverpflichtung für die Lehrkräfte zu erhöhen, brauchen wir eine völlig neue Arbeitszeitregelung für die Lehrerinnen und Lehrer, –

Herr Kollege! Darf ich an das Auslaufen der Zeit erinnern!

Ja, Herr Präsident, ich habe es schon gemerkt. – die sich nicht mehr nach der Unterrichtsverpflichtung bemisst. Die Schule der Zukunft braucht Lehrerinnen und Lehrer, die an der Schule sind und mit den Schülern gemeinsam die Schule fortentwickeln können. Gemeinsam lernen und individuell fördern, so muss das Motto der Schule der Zukunft lauten. Ich sage: Möge der zweite PISA-Schock ein heilsamer sein. In der Richtung haben Sie unsere Unterstützung.

[Beifall bei den Grünen]

Vielen Dank, Herr Kollege Mutlu! – Es naht Frau Dr. Tesch für die SPD. Sie hat das Wort. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Noch nie ist in diesem Haus so viel über Bildungspolitik diskutiert worden wie in dieser Legislaturperiode.

[Frau Ströver (Grüne): Das stimmt! – Frau Senftleben (FDP): Warum wohl?]

Das begrüße ich ganz ausdrücklich. Es ist längst ein gesamtgesellschaftlicher Konsens geworden, dass Bildung kein weicher Topos ist, sondern die Investition in die Zukunft, in unsere Kinder. Deshalb schreibt die antragstellende Fraktion das Wort „Bildung“ auch groß. Das ist richtig so. Herr Mutlu, ich konnte den Anfang Ihrer Rede fast vollständig unterschreiben, aber Sie haben um den heißen Brei herumgeredet. Was wollen Sie hier eigentlich?

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der PDS – Frau Jantzen (Grüne): Zuhören! – Sen Böger: Erbschaftssteuer!]

[Frau Senftleben (FDP): Genau!]

[Zuruf des Abg. Mutlu (Grüne)]

denn die Beherrschung der deutschen Sprache ist der Schlüssel zum Tor des deutschen Bildungssystems.