Protocol of the Session on June 17, 2004

Und eine letzte Äußerung noch zum Thema Dolchstoßlegende, weil das so ein schöner Begriff ist. Den haben ja diejenigen erfunden, die ganz genau wissen, wie man das machen muss, wenn man einen Begriff irgendwo dranpappt und hofft, der bleibt kleben. Das ist nämlich ein relativ gut gewählter politischer Kampfbegriff, Dolchstoßlegende an der Stelle zu sagen. Aber es zieht trotzdem nicht, denn Sie müssten schon erklären, wie es angehen

kann, dass Professor Korioth, der Bevollmächtigte von 11 Bundesländern, eine Gegenäußerung zur Klage von Berlin in Karlsruhe schon im Dezember verfertigt hat und darauf sehr ausführlich eingeht und zitiert aus dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs von Berlin vom 31. Oktober 2003 über verfassungswidrigen Haushalt 2002/03. Selbstverständlich ist das eine Vorlage, um in Karlsruhe zu argumentieren, das Land Berlin habe seine ihm zuzumutenden und notwendigen Eigenanstrengungen nicht erbracht, um aus der Haushaltsnotlage wieder herauszukommen. Selbstverständlich ist das dafür eine Vorlage. Meine ganz persönliche Meinung dazu ist, dass dieses Vorgehen nicht verantwortlich ist, als Abgeordneter, der hier das Land Berlin und die Interessen des Landes Berlin zu vertreten hat und nicht nur die einer Partei oder einer Fraktion.

[Beifall bei der PDS, der SPD und den Grünen]

Vielen Dank, Herr Kollege Matz! – Wir fahren fort in der Rednerliste. Jetzt hat der Kollege Dr. Felgentreu das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! – Herr Matz, Hochachtung! Das war Zivilcourage.

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Und jetzt für Herrn Kaczmarek eine angstfreie Rede von einem Vertreter einer Regierungsfraktion.

Die Koalitionsfraktionen in Berlin gehen einen haushaltspolitischen Mittelweg. Der war von Anfang an schwierig und ist durch das Urteil des Verfassungsgerichtshofs über den Doppelhaushalt 2002/03 nicht leichter geworden. Vorher ging es darum, die Balance zu halten zwischen der Sanierung des Haushalts einerseits und dem Erhalt des sozialen Friedens und der Entwicklungsmöglichkeiten Berlins andererseits. Hinterher musste der Haushalt außerdem komplett neuen Kriterien für seine verfassungsgemäße Aufstellung gerecht werden. Dem Verfassungsgerichtshof gebührt dabei ein großes Lob. Durch sein ausgewogenes Urteil ist der Primat der Politik erhalten geblieben. Die Politik muss erklären und im Haushalt darstellen, wie Berlin seine durch die Landesverfassung definierten Aufgaben erfüllt. Wir begrüßen deshalb, dass die CDU die Herren Zimmer und Kaczmarek „zurückgepfiffen“ und zu einer verantwortungsvollen Haltung zurückgefunden hat. Ihr Kalkül, Herr Zimmer, war nicht unrealistisch. Die SPD ist zwar überzeugt, dass der Doppelhaushalt 2004/2005 der Verfassung entspricht,

[Zurufe von der CDU]

aber bekanntlich kann man auf See und vor Gericht nie ganz sicher sein. Vielleicht hätte Ihre Klage doch noch einmal Erfolg gehabt.

[Hoffmann (CDU): Die hätte auch Erfolg!]

Klagen kostet nichts. Und eine zweite Niederlage vor dem Verfassungsgerichtshof würde diese Koalition vielleicht nicht überstehen. Das wäre es doch! Es gäbe viel zu ge

winnen, und das ohne großes Risiko. Was kann eine Opposition sich Bequemeres wünschen?

Und trotzdem wäre eine Wiederholung des Vorgangs eine Katastrophe gewesen, und zwar für die ganze Stadt. Zu möglichen Auswirkungen auf unsere Klage in Karlsruhe haben Ralf Wieland und auch Herr Matz einiges gesagt. Diese Gefahren bestünden auch dann, wenn eine solche Klage scheiterte. Aber wenn sie Erfolg hätte, käme es zu drei verhängnisvollen Entwicklungen. Die erste ist rechtspolitischer Natur. Die zweite Aufhebung eines Landeshaushalts wäre mit einer extremen Einengung politischer Spielräume verbunden, und zwar für jede zukünftige Regierung. Wer diese Entwicklung vorantreibt, riskiert die Abtretung politischer Gestaltungshoheit an die Gerichte, die zur Gestaltung weder legitimiert noch kompetent sind. – Herr Zimmer! Auch für einen Juristen ist es ein Trugschluss, dass die Gerichte der natürliche Verbündete der Opposition sind. Das können und das wollen sie auch nicht sein.

Zum Zweiten hätte ein solches Vorgehen unabsehbare Folgen für die politische Kultur unserer Stadt. Die neuen Spielregeln, die Sie hier definieren, gelten doch für alle. Glauben Sie ernsthaft, die Vernünftigen in einer oppositionellen SPD könnten die Rachlüsternen bremsen? Jeder Haushalt würde auf absehbare Zeit vor dem Verfassungsgerichtshof landen. Eine solche Selbstkastration des Parlaments wäre ein würdeloses Schauspiel und die größte Gefahr für das Ansehen der Politik.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der PDS]

Die dritte und wichtigste Folge aber betrifft unsere gemeinsame Verantwortung für das Volk von Berlin. Diese Koalition ist angetreten, um den Haushalt zu sanieren und den sozialen Frieden und die Entwicklungsmöglichkeiten Berlins zu bewahren.

[Henkel (CDU): Gelingt euch ja prima!]

Wie schwierig es ist, diesem Ziel gerecht zu werden, zeigen die heftigen Auseinandersetzungen, mit denen wir konfrontiert sind und denen wir uns stellen – Auseinandersetzungen um Entscheidungen wie das Ende der Anschlussförderung, die neuen Hochschulverträge, den Abbau freiwilliger Leistungen und den Solidarpakt. Viele Entscheidungen haben wir schweren Herzens getroffen, aber stets aus Überzeugung von der Notwendigkeit. Deswegen sind wir trotz aller Konflikte auch zuversichtlich, dass – erstens – die überwiegende Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner unsere Einsicht in grundsätzliche Notwendigkeiten teilt, auch wenn sie im Detail nicht mit allem einverstanden sind, und dass – zweitens – unsere Maßnahmen dem eigenen Anspruch gerecht werden. Wir tun alles Notwendige, um bis 2007 belegbar nicht mehr auszugeben, als wir einnehmen, und um zugleich die Lebensqualität und den sozialen Frieden zu erhalten. Erzwungene Verschärfungen hingegen halten wir für unverantwortlich. Ich möchte nicht wissen, was in den sozial belasteten Stadtquartieren passiert, wenn wir die Mittel für Hilfen zur Erziehung und für das Quartiersmanage

ment radikal zusammenstreichen müssen. Was passiert, wenn wir Kitaplätze und Betreuungsplätze auf ein Minimum reduzieren müssen? Was passiert, wenn wir bei Polizei, Justiz und Schulen noch mehr Stellen streichen müssen, wie es der Finanzsenator ausführt hat? Was passiert, wenn Preise für Sozialmieten, Müllabfuhr, BVG und Wasser drastisch ansteigen? Das sind die Folgen einer Politik, wie Zimmer, Kaczmarek und Lindner sie sich vorstellen. Aus Sicht der SPD wäre sie nicht nur aus stadtpolitischen Gründen nicht zu verantworten; wir sind überzeugt, dass eine Regierung, die so handelt, auch gegen die Grundsätze unserer Verfassung verstößt.

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Danke schön, Herr Kollege Dr. Felgentreu! – Es folgt die FDP. Der Kollege Dr. Lindner hat das Wort. – Bitte schön!

[Wechselberg (PDS) und Pewestorff (PDS): Wir wollen wachsen!]

Nur keine Aufgeregtheiten! – Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Niemand anderes als Sie bricht hier die Verfassung, Herr Kollege Felgentreu. – Und jetzt zu Ihnen, Herr Senator Sarrazin! Sie werfen uns immer wieder vor, es gebe keine Vorschläge, es sei nur heiße Luft da.

[Zuruf des Abg. Gaebler (SPD)]

Wir hatten in den laufenden Haushaltsberatungen in Ihrem System – nicht durch große Strukturmaßnahmen – Einsparvorschläge von über einer halben Milliarde € gemacht – 509 374 831 €. Da können Sie immer wieder erzählen, es habe keine Vorschläge gegeben. Das macht es nicht wahrer und nicht besser.

Jetzt bin ich beim entscheidenden Punkt. Niemand aus der FDP-Fraktion fordert oder forderte Sie auf, zusätzlich 3 Milliarden € Einsparungen im laufenden Haushalt vorzunehmen.

[Liebich (PDS): Sondern? Sagen Sie die Zahl!]

Entweder Sie kürzen die Ausgaben, oder Sie erhöhen die Einnahmen. Wir haben Ihnen dazu ausreichende Vorschläge im Bereich der Vermögensaktivierung unterbreitet. Entscheidend ist aber, dass es auch uns – genauso wie Ihnen – gar nicht um eine kurzfristige Frage geht. Auch wir halten es für unmöglich, laufende Ausgaben in Höhe von 3 Milliarden € zu kürzen.

[Zuruf des Abg. Liebich (PDS)]

Es geht uns genauso um eine langfristige Perspektive für diese Stadt. Daran mangelt es Ihnen. Das ist Ihr Problem.

Und da bin ich wieder beim Kernthema Verwaltungsreform. Sie werden in Ihrem zeitlichen Horizont doch nicht im Ernst 3 000 bis 4 000 Stellen pro Jahr neu besetzen können, ohne sich um das Thema Privatisierung und Wegfall von Aufgaben, Aufgabenkritik und Verwaltungsreform zu bemühen. Das ist nicht realistisch. Realistisch ist, dass Sie einfach die Zahlen hineinschreiben und es

Dr. Felgentreu

dann – bei den bestehenden Arbeitsabläufen und dem anfallenden Arbeitsumfang – auf Druck aus der Verwaltung bei dem jetzigen Personalumfang belassen. Das wird wahrscheinlich eintreten, wenn Sie in der Weise weitermachen. Deswegen sagen wir: Das Herzstück einer Sanierung muss – erstens – eine durchgreifende Verwaltungsreform sein.

Zweitens: Sie sagen, betriebsbedingte Kündigungen sind nicht möglich. Man muss sie möglich machen, um dann zu vernünftigen Aufhebungsvereinbarungen und Abfindungszahlungen an die Beschäftigten zu kommen. Da gibt es im Moment drei Blockaden: das Personalvertretungsgesetz, das Kündigungsschutzgesetz, das für die Privatwirtschaft gedacht ist, und die bestehenden Tarifverträge. Da müssen wir herangehen, wenn Sie ernsthaft und schneller abbauen wollen. Schneller abbauen – das ist das, was Sie erreichen, nicht von heute auf morgen, aber in einem deutlich kleineren Zeitrahmen, als Sie es sich vorstellen.

Der nächste Punkt: Vermögensaktivierung. Das ist nur eine zusätzliche Maßnahme, aber sie hat auch laufende Spareffekte – Zinseffekte, vor allen Dingen Risikominimierung, wie Sie jetzt wieder bei Vivantes sehen, eine ganz wesentliche Geschichte, und den dritten Effekt, dass es Private in der Regel günstiger und sogar besser machen können. Das haben wir in allen Fällen erlebt, dass Sie neben den Vermögensaktivierungen auch da bei Zuweisungen und Zuschüssen laufende Einspareffekte haben.

Zum Schluss komme ich noch einmal auf das, was hier in den Raum gestellt wird: dass alle Verbände und die Wirtschaft keine Klage wollen. Davon kann keine Rede sein. Zitieren Sie einmal jemanden außerhalb der Gewerkschaften, der sich eindeutig gegen eine weitere Klage stellt, die meine Fraktion mit einer Gegenstimme beschlossen hat. Es ist unsinnig. Vielmehr ist alles, was wir in unsere Sanierungsforderungen aufgenommen haben, unter anderem auch von dem neu gewählten IHKPräsidenten gefordert worden: Bürokratieabbau, Senken der Staatsquote, Investition in Wissenschaft und nicht zuletzt auch Offenhalten des Flughafen Tempelhofs zu vertretbaren Konditionen. Der Einzige, der hysterisch darauf reagierte, war der Regierende Bürgermeister. – Es wäre vielleicht ganz angenehm gewesen, wenn Sie sich heute zu diesem wichtigen Thema selbst zu Wort gemeldet hätten. Aber die großen Reden behalten Sie sich wahrscheinlich für Calabasas vor, hier verschonen Sie uns damit. Es wäre aber erforderlich gewesen, von einem Regierenden Bürgermeister, der noch einen Rest von Selbstanspruch, einen Rest von Politikverständnis hat, in solch einer zentralen Frage etwas zu hören. Aber dazu sind Sie wahrscheinlich gar nicht in der Lage. Das Einzige, was Sie lesen, sind Einladungskarten, und das Einzige, was Sie schreiben, sind Autogrammkarten. Das ist zu wenig an Politik- und Amtsverständnis. Auch in der Hinsicht muss wieder etwas mehr passieren in diesem Land. – Herzlichen Dank!

[Beifall bei der FDP – Vereinzelter Beifall bei der CDU – Ah! von der SPD]

Das Wort hat nun Herr Kollege Schruoffeneger. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es sind schon eigenartige Verhältnisse im Land Berlin eingetreten, wenn die CDU Bertolt Brecht gegen SPD und PDS zitieren muss.

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der CDU – Liebich (PDS): Falsch zitiert!]

Aber so ist eben die Realität in dieser Stadt, und wenn man sich die Reden von Herrn Liebich anhört oder die etwas übersensiblen Aktivitäten von Herrn Gaebler sieht, wenn die Stichworte „Enquetekommission“ und „Nachtragshaushalt“ fallen, kann man nur sagen: Nehmen Sie sich ein Beispiel an Herrn Kurth! Trainieren Sie mit ihm für den Marathon, treiben Sie Sport, powern Sie sich aus! Das beruhigt die Nerven und stärkt das seelische Gleichgewicht, und das scheinen Sie im Moment sehr nötig zu haben.

[Beifall bei den Grünen]

Eines aber, Herr Liebich, ist schwierig. Wir wissen mittlerweile, wie Sie mit den Oppositionsparteien umgehen. Damit können wir relativ gut leben.

[Dr. Lindner (FDP): Sehr gut leben!]

Die Arroganz aber, die Sie den Bürgerinnen und Bürgern gegenüber an den Tag legen, wenn Sie von den Herrn Studienräten und den frustrierten Polizisten reden,

[Liebich (PDS): Sind das Ihre Freunde, Herr Schruoffeneger?]

wird Ihnen über kurz oder lang schon noch das Genick brechen, denn das lassen sich die Berlinerinnen und Berliner nicht auf Dauer gefallen.

[Beifall bei den Grünen, der CDU und der FDP]

Man kann von diesem Volksbegehren halten, was man will – auch wir unterstützen das nicht –, aber man muss schon ernst nehmen, wie die Stimmung in der Stadt ist und warum die Menschen in dieser Stadt mittlerweile mit dieser Politik der großen Koalition – das ist ein freudscher Versprecher, aber man kann das wirklich kaum noch unterscheiden – nicht mehr zufrieden sind.

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Liebich?