Protocol of the Session on April 29, 2004

Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Als ich neulich wieder einmal über den Kollwitzplatz in meinem Heimatortsteil Prenzlauer Berg gelaufen bin, war ich über die Entwicklung einmal mehr sehr angetan. Vieles hat sich dort zum Positiven verändert.

Die Veränderungsprozesse sind schon fast atemberaubend. Das Zukunftspotential dieses Ortsteils ist groß. Nicht umsonst schreibt die „Berliner Zeitung“ in ihrer gestrigen Ausgabe, dass nach der Statusrangliste der Prenzlauer Berg auf Platz 1 steht. Um so erstaunter war ich, dass der Kollwitzplatz im Ranking nur Platz 228 von 291 belegt. Dies zeigt: Statistiken können so oder auch anders interpretiert werden. Es ist ja wohl eindeutig klar, dass in einem Ortsteil mit überdurchschnittlicher Anzahl von Studenten das Pro-Kopf-Einkommen niedriger ist. Wenn dies beispielsweise für den Platz 228 ein entscheidendes Kriterium gewesen ist, dann kann ich das nicht nachvollziehen. Die Statistiker können wohl doch nicht alles erklären. Trotzdem: Der Sozialstrukturatlas 2003 ist eine sinnvolle Erhebung über die Sozialstruktur Berlins. Der Sozialstrukturatlas muss im Zusammenhang mit dem vom Senat herausgegebenen Armutsbericht gesehen werden. Ebenfalls mit einzubeziehen ist die etwas umstrittene Studie von Innensenator Körting zu den problemorientierten Kiezen. Ich hätte mir gewünscht, dass alle drei Studien aufeinander aufbauen. Leider tun sie das nicht. Folglich kommt es automatisch zu Widersprüchen.

Unsere derzeitigen Handlungsansätze sind zu hinterfragen und sind sicherlich nicht so effizient, dass wir davon ausgehen können, dass wir schon das Nonplusultra in dieser Frage entdeckt haben.

Die Chancen und Grenzen von Konzepten zur Verringerung sozial bedingter Ungleichheit werden häufig nicht im Zusammenhang mit den Lebenswelten und Lebensumständen der Menschen betrachtet. Daher ist es eine Frage der Orientierung auf Zielgruppen oder eine integrierte, sozialraumbezogene Handlungsstrategie, die sicherlich mehr Wirksamkeit bringt. Bisherige Ansätze zielgruppenspezifischer Interventionen werden auch weiterhin nötig sein, das möchte ich nicht in Abrede stellen. Sie erreichen aber nur einen Teil derer, die wir erreichen wollen. Soziale Benachteiligung wirkt sich zunehmend mit allen Folgen in sozialen Räumen, Stadtteilen und Regionen aus. Das haben die Ergebnisse der Sozialberichterstattung deutlich gemacht. Mit einem Blick auf die gerade in der Sozialarbeit in besonderen Stadtteilen und der Förderung von nachbarschaftlichen Hilfe gemachten Erfahrungen spricht viel dafür, für das Land Berlin gerade die sozialräumlich integrierten Interventionsansätze weiter zu entwickeln und auszubauen. Hier müssen wir Antworten auf folgende Fragen finden: Welche konkreten Interventionen und welche kompensatorischen Möglichkeiten verhindern soziale Ungleichheit? Wo liegen die Kompetenzen der Akteure in dieser Stadt? Wie können wir Ressourcen besser und gezielter einsetzen, um diese Ziele zu erreichen? Die Verankerung von Präventionskonzepten in den Lebenswelten und Handlungsfeldern von kommunaler Politik scheint als Strategie zur Verhinderung von sozialer Ungleichheit und Gesundheit wirksamer und nachhaltiger zu sein, weil dort an den Wurzeln und mit ganzheitlichem Bezug speziell auf diesen Sozialraum gedacht und auch gehandelt werden kann. Dort, wo die Menschen leben, haben sie ihren Lebensmittelpunkt, dort bilden sie spezifische Lebensstile heraus. Wenn nun – wie in manchen Gebieten in Berlin – die Gemeinsamkeit der Bewohner eines Sozialraumes von Arbeitslosigkeit, Sozialhilfebezug und sozialer Ungleichheit geprägt ist, dann besteht die Gefahr, dass sich dort durch Benachteiligung und durch den Mangel an Netzwerken im sozialen Umfeld Gestaltungsmöglichkeiten nicht entwickeln können und sich Faktoren bündeln, die wir kritisch bewerten müssen und an denen wir ansetzen müssen.

Der erst 2002 für Berlin herausgegebene Armutsbericht belegt gerade diese These: Dort, wo die Arbeitslosenquote am höchsten ist, wo die meisten Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger dieser Stadt leben, dort bündeln sich genau diese Faktoren. Betrachtet man dazu die jeweiligen Gesundheitsberichte der Bezirke, wird schnell klar, dass die Präventionskonzepte in eine Sozial-, Gesundheits- und Jugendhilfeplanung eingebettet werden müssen, die den gesamtheitlichen Ansatz im Blick hat und die nicht dazu beiträgt, Stigmatisierungen in dieser Stadt voranzutreiben. Armuts- und Gesundheitsberichterstattung sind also einzubetten in soziale Stadtentwicklung; sie müssen dazu beitragen, soziale Polarisierung abzubau

en und den jeweiligen Anforderungen vor Ort Rechnung zu tragen. – Danke schön!

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Vielen Dank, Frau Kollegin Schulze! – Es folgt die FDP, das Wort erhält der Kollege Lehmann. – Bitte schön!

[Zuruf des Abg. Over (PDS)]

Man spürt die Dynamik am Kollwitzplatz, aber eigentlich doch im gesamten Gebiet Prenzlauer Berg. Dabei sind es nicht nur die Kneipen, die einem ins Auge fallen. Internetfirmen, Rechtsanwaltskanzleien oder Immobilienfirmen haben sich dort angesiedelt.

[Zurufe der Abgn. Over (PDS) und Pewestorff (PDS)]

Im amerikanischen Wahlkampf 1992 hat ein amerikanischer Kolumnist eines großen Nachrichtenmagazins dem damaligen Präsidenten George Bush Folgendes ins Stammbuch geschrieben: „It’s the economy, stupid?“, übersetzt: Ist es die Wirtschaft, Dummkopf? – Bush hatte es ignoriert, weil er sich zu sehr um Außenpolitik kümmerte, und verlor die Wahlen.

[Zuruf der Frau Abg. Jantzen (Grüne)]

In der Tat, wer die teilweise negativen sozialen und bildungspolitischen Entwicklungen in unserer Stadt unterbinden möchte, wer eine Trendwende auf dem Arbeitsmarkt einleiten möchte, wer, mit anderen Worten, wie

Lehmann

Wir haben in Berlin ABM, bezirkliche Beschäftigungsbündnisse, Weiterbildung, Stadtteilgenossenschaften, Hilfe zur Arbeit usw. Wie soll das nächste Programm heißen? Glauben Sie im Ernst daran, dass man mit weiteren künstlich aufgelegten Beschäftigungsprogrammen die Kieze vor dem Umkippen retten kann? Haben Sie einmal

mit den Agenturen für Arbeit Kontakt aufgenommen? – Die werden sicherlich begeistert sein, wenn sie wieder mehr Geld ausgeben dürfen.

Die Sozialsenatorin fordert weiterhin ein Modellsozialamt. Seitdem ich Mitglied dieses Abgeordnetenhauses bin, ist mir in meiner politischen Arbeit fast täglich fast irgendein Modellprojekt begegnet. Dafür gibt es Zuschüsse von Landes-, Bundes- und europäischer Seite. Wenn die Laufzeit beendet war, wurde es schließlich begraben. Modellsozialämter schaffen keine neuen Jobs und heben auch nicht den Bildungsstand von Jugendlichen. Wir brauchen keine neuen Modellprojekte diesbezüglich, sondern ein effektives System, das die Menschen schnell und unbürokratisch anleitet, sich eine Arbeit zu suchen. Negative Einkommensteuer, Einstiegsgeld oder Stärkung des Dienstleistungsbereichs sind hier Stichworte.

Die vom Senat erwünschte Weiterentwicklung des Quartiersmanagements geht ebenfalls in die falsche Richtung. Fakt ist, dass sich in den 17 Quartiersmanagementgebieten die soziale Lage nur in dreien verbessert hat.

dergewählt werden möchte, muss für die wirtschaftliche Erholung Berlins sorgen. Davon hängt fast alles ab.

[Beifall bei der FDP – Beifall des Abg. Hoffmann (CDU)]

Diejenigen Bezirke mit der geringsten Arbeitslosenquote haben gleichzeitig die beste Sozialstruktur, die wenigsten Sozialhilfeempfänger und stehen bei der Bildung ebenfalls ganz weit oben. Zu nennen wären hier SteglitzZehlendorf und Treptow-Köpenick. Solche Aussagen werden den Damen und Herren zu meiner Linken und in der Mitte nicht gefallen.

[Zillich (PDS): Hä?]

Sie können ihnen auch nicht gefallen, weil der Senat eine katastrophale Wirtschaftspolitik betreibt. Man kann schließlich jeden Euro nur einmal ausgeben.

[Doering (PDS): Von wann sind diese Daten?]

Der Umverteilungsstaat geht dementsprechend dem Ende entgegen. Das müssen auch Sie zur Kenntnis nehmen, Herr Doering.

[Doering (PDS): Ich habe nur gefragt, von wann die Daten sind!]

Deshalb sage ich: Die beste Sozialpolitik der Welt ist eine gute Wirtschaftspolitik, die dazu führt, dass die Menschen ihr Geld wieder verstärkt selbst verdienen können.

[Beifall bei der FDP – Zuruf des Abg. Over (PDS)]

Die beste Sozialpolitik ist weiterhin die Schaffung von Arbeitsplätzen.

[Niedergesäß (CDU): Richtig!]

Solang diese Faustformel bei weiten Teilen der politischen Klasse beiseite gewischt wird, so lange werden die besten sozialen Absichten ins Leere laufen. Herr Wolf und der Regierende Bürgermeister müssen mehr Unternehmen und Betriebe ansiedeln. Dann klappt es auch mit den positiven Nachrichten über die Sozialstruktur Berlins.

[Doering (PDS): So einfach ist es! – [Over (PDS): Der Sozialstrukturatlas geht in die Zeiten der großen Koalition zurück!]

Welche Maßnahmen schlägt der Senat dagegen vor? – Die Antwort des Senats ist, gelinde gesagt, mehr als dürftig. Es ist ein Weiter-So in staatlicher Alimentierung. So fordert die Sozialsenatorin mehr kommunale Beschäftigung. Wo, bitte schön, wollen Sie denn das Geld für mehr Arbeitsplätze auf dem zweiten Arbeitsmarkt hernehmen? Anscheinend gibt es für Sie keine Berliner Haushaltskrise.

[Frau Sen Dr. Knake-Werner: Das ist schön, dass Sie darauf auch kommen!]

[Liebich (PDS): Das ist eine tolle Idee! – Frau Sen Dr. Knake-Werner: Auf der Höhe der Zeit!]

[Over (PDS): Trotz Quartiersmanagements!]

Das liegt zum Teil nicht an der effektiven Arbeit der Manager, sondern am sozialen Wandel in den Kiezen.

[Beifall der Abgn. Over (PDS) und Hoffmann (CDU)]

Am Falkplatz im Ortsteil Prenzlauer Berg haben sich verstärkt Familien mit höherem Einkommen angesiedelt. Es ist klar, dass dann die Problemlage besser aussieht. Der Senat hat bislang ca. 35 Millionen € im Jahr für das Quartiersmanagement ausgegeben. Angesichts der dramatischen Ergebnisse scheint die Frage berechtigt zu sein, ob der Erfolg sich dementsprechend eingestellt hat. Ich glaube nicht.

[Beifall bei der FDP]

So kann und darf es nicht Aufgabe der Quartiersmanager sein, einen Schwerpunkt auf die Integration und Chancenverbesserung auf dem Arbeitsmarkt zu setzen. Sie überfordern damit die Manager. Für die Arbeitsmarktpolitik sind die Agenturen oder die privaten Arbeitsvermittler zuständig. Hier sind viele Mittel fehlgeleitet worden. Ich möchte nicht so weit gehen, das Quartiersmanagement gänzlich zu diskreditieren, schlage aber vor, einen Teil des Geldes beispielsweise direkt in Integrationsmaßnahmen oder in Bildung zu investieren. Es ist nun einmal eine Binsenweisheit, dass Menschen mit einem guten Schul- und Berufsabschluss weniger in die Sozialhilfefalle tappen oder kriminelle Tendenzen aufweisen werden.

[Frau Oesterheld (Grüne): Oder andere Kriminalität!]

Warum nehmen wir uns z. B. nicht vor, dass in zwei oder drei Jahren alle Schulanfänger aus Migrantenfamilien Deutsch können? Warum nehmen wir uns nicht vor, die Arbeitslosigkeit der türkischen Mitbürgerinnen und Mit

Lehmann

Der Sozialstrukturatlas 2003 bestätigt den Trend der früheren Sozialberichte. Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst. Soziale Unterschiede zwischen den Bezirken verstärken sich. Gebiete mit ungünstiger Sozialstruktur konzentrieren sich weiterhin um den Innenstadtring. Es kommen nun allerdings neue hinzu: Marzahn z. B. im Osten und Teile von Spandau im Westen.

Verfolgen wir die Reaktionen auf die Vorstellung der Sozialstrukturatlasse in der Vergangenheit oder auch anderer Sozialberichte, dann können wir feststellen, die Probleme werden benannt, teilweise beklagt, ressortübergreifende Zusammenarbeit und eine besser aufeinander abgestimmte Berichterstattung werden wie heute angemahnt. Die von Frau Knake-Werner und anderen aufgestellte Forderung, dass Mittel an die Bezirke nach Wertausgleichskriterien verteilt werden sollen und gezielter in sozial benachteiligte Gebiete investiert werden muss, alles ist nicht neu. Sie können es in den Debatten der Vergangenheit, in den Mitteilungen der verschiedenen Senatsverwaltungen und der Presse nachlesen. Von dem Verlassen eingefahrener Gleise also auch hier keine Spur.

Neu ist ebenfalls nicht, dass wenige Tage nach Veröffentlichung des Sozialstrukturatlas von den Regierungsfraktionen eine Aktuelle Stunde zu den Konsequenzen und Schlussfolgerungen angemeldet wird. Ich kann zwar nicht mehr nachvollziehen, was für Koalitionsprobleme SPD und CDU 1998 hatten, die sie mit der Aktuellen Stunde übertünchen wollten, dass aber die PDS und die SPD die Debatte um den Abgang von Strieder und die Neuwahl der Stadtentwicklungssenatorin aus der Fernsehzeit wegdrücken wollten, das ist mehr als deutlich.