Protocol of the Session on April 29, 2004

Nach acht Jahren realen Wirtschaftsrückgangs können wir den Menschen hier keine Aussicht auf Vollbeschäftigung mehr bieten. Berlin schrumpft, was Wirtschaftsleistung und Investitionen angeht, und ist aus eigener Kraft nicht in der Lage, seine Finanzen zu sanieren.

Berlin könnte seine Stärken nutzen und das Sprungbrett nach Osten werden. Das ist wahr, Herr Regierender Bürgermeister! Aber wir sind es nicht. Wir sind nicht einmal gut vorbereitet, wie uns die Institute bescheinigen. Das, was der Senat bisher geleistet hat, reicht auch nicht. Das Erwähnen von 36 Twinning-Programmen beschämt eher, als dass es ermutigt. Es zeigt, wie weit wir von einer guten Vorbereitung entfernt sind.

Dass auch die Politik nicht gut auf die neue Situation vorbereitet ist, beweist schon der Antrag der Koalitionsfraktionen, der heute vorliegt. Lesen Sie ihn genau – insbesondere in seinen Forderungen: Eine gemeinsame Politik mit den Woiwodschaften sei weiter zu entwickeln..., die Kooperation sei zu organisieren..., die Zusammenarbeit sei zu intensivieren und solle zur Kernaufgabe gemacht werden und – als letzte Forderung – die MOEStrategie sei zu konkretisieren! Ein solcher Antrag ist ein Armutszeugnis für den Senat.

[Beifall bei der FDP und der CDU – Heiterkeit bei der PDS – Doering (PDS) und Frau Michels (PDS): Sie haben dem Antrag im Ausschuss zugestimmt! – Weitere Zurufe]

[Beifall bei der FDP – Gaebler (SPD): Peinlich! – Weitere Zurufe von der PDS]

Peinlich ist die Leistungsbilanz dieses Senats, Herr Gaebler! Die Osterweiterung wird die Bedingungen Berlins in der nächsten Zeit sehr verändern. Wir stehen vor äußerst großen Herausforderungen, und wenn wir dann in dieser Debatte sehen, dass der Senat nicht richtig vorbereitet ist, dann ist das peinlich.

[Beifall bei der FDP – Doering (PDS): Ihre Rede ist peinlich – eine Posemuckel-Rede! – Gaebler (SPD): Hochgradig peinlich! – Weitere Zurufe von der PDS]

Wir brauchen einen Senat, der die Wirtschaftskraft stärkt und sich dem Niedergang dieser Stadt entgegen stemmt. Wir brauchen einen Senat, der die Verantwortung für die Region ernst nimmt und sie annimmt.

[Brauer (PDS): Wir brauchen kein Geschwätz!]

Wir brauchen einen Senat, der anpackt, der die Wirklichkeit erkennt, wie sie ist,

[Pewestorff (PDS): Real – surreal!]

der aufbaut und nicht abwickelt. In dieser sensiblen Phase der Entwicklung unserer Stadt und am ersten Plenartag nach Strieders Rücktritt sage ich Ihnen: Wir brauchen in Wahrheit einen neuen Senat, um den Herausforderungen richtig begegnen zu können. – Schönen Dank!

Ich persönlich bin froh, dass wir die Feierlichkeiten auch in unserer Stadt mit dieser heutigen Stunde im Parlament und nicht auf exekutiv veranstalteten oder anderen Festen beginnen. Wenn das Feiern hier bei der Demokra

tie beginnt – so sagte mir gerade bei der Begrüßung ein Botschafter –, dann ist das ein gutes Zeichen, und ich bin sehr froh, dass diese Parlamentsdebatte heute möglich wurde.

Dies braucht vor allem eines: Sie braucht Optimismus, Kreativität und eigene Begeisterung. Sie braucht aber auch Weitsichtigkeit und Geduld. Wer auf schnelle Antworten hofft, der wartet vergebens. Wir alle wissen, dass dann, wenn die Feierlichkeiten vorüber sind, das eigentliche und das schwerste Stück Arbeit beginnt. Es sind die Mühen der Ebenen, die uns bevorstehen, die Umsetzung der hehren Ziele im konkreten Alltag. Dies wird kein einfacher Weg, kein Weg ohne Risiken und Schwierigkeiten. Aber dieser Weg ist alternativlos. Wir wollen diesen Weg gemeinsam gehen.

[Beifall bei der FDP und der CDU – Doering (PDS): Aber nicht mit Ihnen!]

Für die Fraktion der PDS hat nunmehr Frau Michels das Wort. – Bitte schön!

Herr Präsident! Verehrte Exzellenzen und Botschaftsvertreterinnen und -vertreter! Meine Damen und Herren! – Herr Hahn! Ohne Kommentar: Ich glaube, Sie haben die falsche Rede erwischt.

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Wenn morgen um Mitternacht auf Malta ein riesiges Feuerwerk Europasterne in den Himmel steigen lässt und sich am 1. Mai auf dem Europa-Straßenfest am Pariser Platz Menschen aus vielen Nationen zum Feiern treffen, dann ist ein neues Zeitalter der Europäischen Union eingeläutet. Manche sagen – und es erstaunt mitunter, dass das auch in hiesigen Medien immer wieder zu lesen ist –, Europa selbst werde damit größer. Nein! Europa selbst wird damit nicht größer, denn geographisch gehörten die Polen, die Ungarn und die anderen Beitrittskandidaten schon immer zu Europa. An diesem Tag findet Europa vielmehr zu historischen Ursprüngen zurück, und der historische Wert – das haben viele meiner Vorredner und Vorrednerinnen schon gesagt – liegt eben in diesem neuen Zusammenschluss der Europäischen Union, mit dem das Zeitalter des Kalten Krieges beendet und ein neues Kapitel friedlicher, gleichberechtigter und europäischer Zusammenarbeit aufgeschlagen wird. Das ist wirklich ein Grund zum Feiern, und das darf bei allen notwendigen kritischen Sichtweisen nicht klein geredet oder zerredet werden. Herr Hahn! Ihre Rede war ein klassisches Beispiel dafür.

[Beifall bei der PDS und der SPD – Vereinzelter Beifall bei den Grünen]

Mir sagte gestern auf einem Treffen von Botschaftern und Botschafterinnen, von Unternehmern und Unternehmerinnen der Berliner Wirtschaft und von Mitgliedern unseres Ausschusses ein Botschafter aus Tschechien: „Warum können die Deutschen ihre historische Leistung nicht einfach einmal so, wie sie ist, zur Kenntnis nehmen und stolz darauf sein? Die Deutschen sind offenbar ein Weltmeister im Zerreden.“

Herr Hahn! Es hat eigentlich gar keinen Sinn, auf Ihre Rede einzugehen. Sie haben die Schere immer noch im Kopf. Wer sich heute – zwei Tage vor der EUOsterweiterung – hinstellt und Zensuren verteilt oder ein Kapitel, mit dem der Regierende Bürgermeister, wie ich finde, sehr verantwortungsvoll und historisch bewusst umgegangen ist, nämlich das Kapitel der NS-Zeit und Nazi-Diktatur, ausblendet und stattdessen nur über eine Seite der Historie, das Kapitel Sozialismus, reden kann, der hat eigentlich nicht verdient, sich Europäer zu nennen.

[Beifall bei der PDS und der SPD]

[Vereinzelter Beifall bei der PDS und der SPD]

Die neuen Mitglieder werden die EU – das ist vielfach gesagt worden – durch kulturelle Vielfalt, historische Erfahrungen und den Austausch von Ideen und neuen Herangehensweisen bereichern. Aus dieser einmaligen historischen Chance erwächst unsere gemeinsame Verantwortung für die weitere Ausgestaltung dieses vor uns liegenden Prozesses. Von diesem Geist ist die vorgeschlagene Entschließung getragen, die durch den Europa-Ausschuss unseres Hauses gestern einstimmig verabschiedet wurde und die wir heute zur fraktionsübergreifenden Abstimmung empfehlen.

Die neue historische Dimension den Bürgerinnen und Bürgern nahe zu bringen und sie dafür zu begeistern, das ist unsere gemeinsame Aufgabe.

[Hahn (FDP): Sie sind ja auch dafür!]

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Gerade wir aus dieser Stadt Berlin bringen dafür konkrete Erfahrungen aus dem Vereinigungsprozess beider ehemaliger Stadtteile mit, die uns ständig begleiten sollten. Das Wichtigste im bevorstehenden Zusammenwachsen der EU ist nach meiner Überzeugung die gegenseitige Achtung vor der Geschichte und Kultur der jeweiligen Partner, das gleichberechtigte Miteinander und ein von würdevollem Umgang getragenes wechselseitiges Interesse füreinander jenseits von Arroganz oder Besserwisserei.

Berechtigte Ängste beiderseits der ehemaligen alten EU-Grenzen haben oft Ursachen in Unwissenheit. Man darf sie nicht leichtfertig behandeln oder ignorieren. Man muss sie offen aussprechen dürfen und sich offensiv damit auseinandersetzen. Da bestehen zum Beispiel Befürchtungen hinsichtlich der Arbeitsplatzsicherung, sei es durch einwandernde Arbeitskräfte oder durch aktuelle Ankündigungen von Firmenabwanderungen in die neuen Mitgliedsstaaten. Man muss sie ernst nehmen und sachlich darüber diskutieren. Aber – das sage ich auch in aller Deutlichkeit – man darf diese Ängste nicht missbrauchen oder gar schüren.

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Berlin rückt mit dem Beitritt aus der einstigen Randlage in das geographische Zentrum des neuen Europa. Daraus erwächst eine besondere Verantwortung des Landes für die Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten von Osteuropa. Über die Europafähigkeit Berlins hat der Regierende Bürgermeister, wie ich finde, sehr anschaulich im Gegensatz zu Herrn Hahn und mit sehr viel Fakten und sehr sachlich ausführlich berichtet. Aus der Sicht der

grenznahen Metropole Berlin birgt der Beitrittsprozess politisch, aber auch kulturell, wirtschaftlich und wissenschaftlich vor allem Chancen. Rund 240 Berliner Institutionen verfügen über umfangreiche Ost-West-Kompetenzen. Der Berliner Export in die mittel- und osteuropäischen Länder sichert Arbeitsplatzkräfte und stärkt den Wirtschaftsstandort Berlin.

Aktuelle Umfragen von Anfang dieses Jahres, die den ebenso großen Informationsbedarf wie auch das Interesse von Berliner Unternehmen belegen, zeigen folgendes Bild: 46 % der Unternehmen können die Auswirkungen des EU-Erweiterungsprozesses noch nicht einschätzen. Aber 60 % haben Interesse an Kontakten zu geeigneten Partnern in den Beitrittsländern und hoffen auf Unterstützung vor allem bei der Anbahnung von Kooperationen und der Erschließung von Märkten. Nur 7 % der Berliner Unternehmen befürchten negative Effekte durch die EUErweiterung. Wer hier von Müdigkeit gegenüber Europa, wer von Ängsten gegenüber Europa spricht, der hält sich nicht an die Fakten.

Damit für Berlin und die Wirtschaftsregion auf beiden Seiten der Oder die EU-Erweiterung eine große Chance bieten kann, müssen – hier stimme ich allen Rednern ausdrücklich zu – die Anstrengungen sehr wohl verstärkt werden. Von Stettin über Berlin bis Breslau und Posen haben wir in den nächsten Jahren die Möglichkeit, eine neue, grenzüberschreitende europäische Region zu gestalten. Die Wirtschaftspolitik muss jetzt vor allem die praktische Zusammenarbeit in den Mittelpunkt stellen. Erst heute – und in vielen Beispiele davor – hat sich der Wirtschaftssenator Wolf in den Medien über die Anstrengungen und Zielsetzungen des Senats geäußert. Ich kann Ihnen nur zustimmen, an dieser Stelle weiterzumachen. Hier hat Berlin gute Voraussetzungen. Die werden wir auch nutzen!

Die Furcht vor massenhafter Einwanderung von billigen Arbeitskräften ist bei genauerer Betrachtung unbegründet.

[Niedergesäß (CDU): Sie sind doch schon da!]

Der Regierende Bürgermeister hat über die Übergangsfristen und Fakten diesbezüglich bereits gesprochen. Umfrageergebnisse der EU-Kommission sagen gerade einmal eine zu erwartende Abwanderung von 1 % der arbeitsfähigen Bevölkerung der neuen Mitgliedsstaaten in die ehemaligen alten Mitgliedsstaaten über die nächsten fünf Jahre hinweg selbst bei uneingeschränkter Freizügigkeit voraus.

Diese Debatten sind nicht neu. Es hat ähnliche Debatten bereits anlässlich früherer Beitrittsdiskussionen gegeben. Ein Blick in die Geschichte ist dabei sehr hilfreich. So sank beispielsweise die Migration von Spanien beim Beitritt in die EU von 120 000 Arbeitnehmern Ende der 70er Jahre beim Aufnahmeantrag auf schließlich 2 000 bis 3 000 Anfang der 90er Jahre nach dem Beitritt. Fazit dieser Studie ist, dass mittelfristig weniger die Zuwanderung in die derzeitigen Mitgliedsstaaten ein Problem darstellen könnte, sondern dass vor allem die neuen Mitgliedsstaaten mit den Auswirkungen der Abwanderung zu kämpfen haben werden.

Eine ebenso häufig geäußerte Befürchtung ist die nach der wirtschaftlichen Überforderung der alten EU mit diesem Beitritt. Die ungleiche Verteilung des Wohlstands zwischen den gegenwärtigen und den künftigen Mitgliedern der EU stellt dabei sehr wohl eine der größten Herausforderungen dieser Erweiterungsrunde dar. Schätzungen zufolge wird sich das Einkommensgefälle zwischen Ländern und Regionen in der erweiterten EU weiter verdoppeln. Angesichts ihres geringen Entwicklungsniveaus werden die neuen Mitgliedsstaaten vorerst zu den NettoEmpfängern aus dem EU-Haushalt zählen. Doch die Furcht, dass die Erweiterung zu einer unabsehbaren und unkontrollierbaren finanziellen Belastung werden könnte, ist auch hier unbegründet.

Absolut gesehen belaufen sich die Gesamtausgaben der EU für die Erweiterung zwischen 1990 und 2006 auf 69,5 Milliarden €. Relativ gesehen erscheint dies sehr niedrig. Im Vergleich mit dem EU-BIP von 1999 machen die Gesamtausgaben für die Erweiterung innerhalb von 17 Jahren weniger als 1 % aus und die durchschnittlichen Ausgaben nur ungefähr 0,05 %. Ich möchte hierzu einen Vergleich anstellen: Der US-Marshall-Plan von 1948 bis 1951 kostete damals 13, 3 Milliarden $. Das waren damals 2 % des BIP der USA.

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Berlin engagiert sich besonders bei den Hilfen für die neuen Mitgliedsstaaten in dem schwierigen Beitrittsprozess. Herr Hahn, wenn Sie von beschämenden 36 % des Twinning-Programms reden, sage ich Ihnen, dass an Ihnen offensichtlich völlig vorbeigegangen ist, dass es sich bei dem Twinning-Programm um eine vertraglich vereinbarte Partnerschaft zwischen Verwaltungen der EU – genau das, was Sie fordern – und zwischen Verwaltungen der Beitrittsländer handelt. Wenn Berlin – hier haben Sie offensichtlich nicht zugehört – hier melden kann, dass es damit an der Spitze aller Bundesländer der Bundesrepublik Deutschland steht und zwar noch vor Bayern und anderen Ländern, dann finde ich das eine Erfolgsstory, die auch so benannt werden kann. Wir werden sie benennen und sind darauf sogar stolz. Das können wir auch.

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Genau an diesem Punkt besteht der große Bedarf der neuen Mitgliedsländer, hier Hilfestellung zu bekommen. Wir versichern hier an dieser Stelle auch noch einmal allen Mitgliedsländern, dass wir an dieser Hilfe weiter ar

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste aus den Erweiterungsländern, die Sie heute diese Debatte auf der Empore verfolgen! Der 1. Mai 2004 ist in der Tat ein historischer Tag. Mit der Erweiterung der Europäischen Union wird die Nachkriegsepoche abgeschlossen. Mit dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten wir die Spaltung Europas endgültig überwunden.

Wir Deutsche haben besonderen Anlass, für diese Entwicklung dankbar zu sein, denn es war Deutschland, das den Zweiten Weltkrieg begonnen und die Völker Europas mit Krieg, Not und Elend überzogen hat. Vor 65 Jahren wurde das Nachbarland Polen von deutschen Truppen überfallen und besetzt. Auch deshalb bewegt es mich, bewegt es uns, dass Polen – das größte Erweiterungsland – der EU beitritt und dass damit die Oder zu einem gemeinsamen, und nicht mehr zu einem trennenden Fluss wird.

beiten werden, weil wir davon überzeugt sind, dass gerade das an der richtigen Stelle geschieht.

Nach dem Beitritt stellt sich aber auch die Frage nach Strukturwandel und Reformfähigkeit der EU insgesamt. Nach dem Beitritt heißt somit auch vor der Diskussion und vor der Lösung wichtiger Entwicklungsfragen in der EU der nunmehr 25 Mitglieder. Die Kommission hat bereits eine Diskussion über die Zukunft der Struktur- und Kohäsionsfonds und die finanzielle Vorausschau nach dem Jahr 2006 eingeleitet. Wir konnten uns gerade erst kürzlich anlässlich einer Informationsreise unseres Ausschusses in Gesprächen mit den EU-Kommissaren über die Perspektiven informieren. Hier wird Berlin sehr viel an Diskussionspotential einbringen müssen. Hier werden wir kämpfen müssen, denn hier ist nicht automatisch eine bessere Zukunft gesichert, eine bessere finanzielle Ausstattung. Ich kann Ihnen versichern, dass wir hier an dieser Stelle in der Koalition nicht nachlassen werden, auch mit eigenen Vorschlägen, die schon unterbreitet wurden, weiter in die EU-Debatte zu gehen und sie zu fördern. Aus dem Beitritt wird eines deutlich, dass der Beitritt keine Einbahnstraße, sondern eine Wechselwirkung ist. Wir sollten den Beitritt nutzen, um die EU insgesamt – die reformbedürftig ist – auch reformfähig zu machen, und ich denke, wir werden das schaffen.

[Beifall bei der PDS und der SPD]