Protocol of the Session on April 1, 2004

Berlin kann, was die Dynamik des Osthandels angeht, im Vergleich mit anderen Bundesländern trotz seiner Lagevorteile bisher nicht Schritt halten. Zehn Prozent des Berliner Exports gehen in die Länder Mittel- und Osteuropas.

Weiter hieß es:

Beim wirtschaftlichen Handel und Wandel hinkt die Stadt trotz schöner Absichtsbekundungen hinterher, und das kurz vor der Osterweiterung. So gesehen ist es nicht besonders kurios, dass sich ausgerechnet Dortmund als Tor zum Osten anpreist. Nordrhein-Westfalen wickelt fast ein Viertel des deutschen Handels mit Polen ab.

Nicht nur Nordrhein-Westfalen, auch andere Länder sind schneller und besser als wir. Wien zum Beispiel fungiert schon lange als Drehscheibe und Tor zum Osten. Dort heißt es schon lange: „Go east from Vienna“. Auch im Norden tut sich mehr; zum Beispiel in Kopenhagen.

Berlin dagegen hat die längste Zeit verschlafen. Die Berliner Politik wiegt sich nach wie vor in der Illusion,

alles laufe von allein, weil Berlin demnächst in der geographischen Mitte der erweiterten EU liegt. Das bloße geographische Faktum bedeutet jedoch heutzutage nichts für die Wirtschaftsentwicklung der Stadt, Herr Regierender Bürgermeister.

[RBm Wowereit: Ein bisschen schon!]

Die Entwicklung droht sogar an Berlin vorbeizugehen. Berlin muss endlich aufwachen und aktiv handeln, die eigene Wirtschaftskraft stärken und gleichzeitig Verantwortung für die Region beiderseits der Oder übernehmen.

[Beifall bei der FDP]

Berlin war einst ein Laboratorium der Moderne. Es muss jetzt wenigstens die Ideenwerkstatt für die Entwicklung der Oderregion werden. Dazu müssen wir die viel beschworenen Netzwerke mit Polen endlich knüpfen.

Berlin hat die Entwicklung lange verschlafen. „Die Werbung für den Wirtschaftsstandort Berlin ist de facto in den Beitrittsländern nicht existent“, schreibt die CDU in der Begründung. Das ist richtig und beschämend zugleich. Das Positionspapier des Senats meint dazu nur:

Es geht darum, Kooperationen aufzubauen …. Wir brauchen eine gezieltere Verzahnung von Aktivitäten zwischen Politik, Wirtschaft, Kultur …. Anzustreben ist der Wissenschaftleraustausch …. Die kleinen und mittleren Unternehmen müssen sensibilisiert werden ….

Wir sind eben anderen gegenüber sehr weit zurück. Dabei ist nicht alles negativ, manches kommt – wenn auch spät - in Gang, aber schon die Analyse unserer Schwächen im Positionspapier greift zu kurz. So wie das Tabuisieren der Risiken falsch ist, so ist es ein Fehler, sich nicht ehrlich und schonungslos einzugestehen, wo wir stehen. Denn, wenn schon die Bestandsaufnahme falsch ist, können die Rezepte nicht richtig werden.

Ich weiß, Herr Regierender Bürgermeister, Sie werfen uns gern mangelnden Patriotismus vor, wenn wir die Schwächen Berlins ansprechen. Wenn wir aber hier unter uns diskutieren oder im nationalen Rahmen um Verständnis und Unterstützung für Berlin werben, müssen wir die Lage schonungslos beschreiben. Im Übrigen, Herr Regierender Bürgermeister, mangelnder Patriotismus kam mir in den Sinn, als wir letzte Woche beim Moskauer Oberbürgermeister Luschkow saßen und Sie ihm lang und breit die schlechte Finanzlage Berlins darlegten und zum Schluss mit der Bemerkung schlossen, Berlin sei „arm, aber sexy“.

[RBm Wowereit: Das stimmt auch!]

Das stimmt – ich habe mir aber die Gesichter der Russen auf der gegenüberliegenden Tischseite angesehen und hatte den Eindruck, sie fragten sich in diesem Moment betreten: Wären wir nicht besser beraten gewesen, uns mit Bayern oder Baden-Württembergern als mit Berlinern zu treffen? – Bei der Gelegenheit hätten Sie Patriotismus zeigen können, dort hätten Sie werben sollen, anstatt die Schwächen Berlins aufzudecken.

[Beifall bei der FDP – Doering (PDS): Ist „sexy“ eine Schwäche?]

Meine Damen und Herren, Wenn wir uns auf die geographische Mitte beziehen, in die Berlin durch Osterweiterung der EU zurückkehrt und sagen, dass Berlin dadurch das Tor zum Osten wird, muss ich Ihnen sagen, wir leben nicht mehr im Zeitalter der Eselskarawanen,

[Henkel (CDU): Bald wieder!]

die in Berlin durch die Spreefurt mussten. Heute kann man von Warschau aus bequem nach Brüssel jetten, wenn man über Subventionen verhandeln will, oder nach Frankfurt oder gleich nach London, wenn es um Finanzierungen geht. Niemand muss mehr in Berlin Zwischenstation machen. Berlin muss attraktiv sein und viel attraktiver werden, als es ist, um im Ost-West-Handel eine Rolle zu spielen.

Wenn wir dagegen schauen, wo wir derzeit stehen – das Ranking der Bertelsmannstiftung rufe ich nur in Erinnerung –, dann ist die Befürchtung eben nicht unberechtigt, dass die Entwicklung an uns vorbeigeht. Wir sind bald nicht einmal mehr als Absatzmarkt für polnische Waren interessant, weil die Kaufkraft der Stadt zu gering dafür ist. Am Ende werden so nur noch die Autobahnraststätten in Brandenburg von der Ostentwicklung profitieren.

Immerhin, es kommt jetzt einiges in Gang. Die Anregung für die Bildung einer gemeinsam handelnden Oderregion stammt vom polnischen Präsidenten Kwasniewski. Wir sollten ihm das hoch anrechnen, denn genau in diese Richtung muss die Entwicklung voran getrieben werden. Da ist auch der Blick auf die Geschichte nicht falsch; denn dort können wir durchaus Rezepte für die Gegenwart finden. Man muss nur immer wissen, in welcher Zeit man lebt, und sehen, was unter heutigen Bedingungen brauchbar und machbar ist.

Ich wiederhole zum Schluss: Berlin muss endlich aufwachen, aktiv handeln, die eigene Wirtschaftskraft stärken, Verantwortung für die Region beiderseits der Oder übernehmen. Wir waren einst ein Laboratorium der Moderne, wir müssen wieder die Ideenwerkstatt für die Entwicklung der Region werden. Dazu müssen wir die besten Köpfe binden. Wir müssen aufbauen, nicht abwickeln, investieren, nicht strangulieren, im Blick nach Osten klotzen, nicht kleckern. Wir müssen raus aus dem toten Winkel.

[Beifall bei der FDP]

Danke schön, Herr Kollege Hahn! – Das Wort hat nunmehr für die Fraktion der PDS Frau Michels. – Bitte schön, Frau Michels!

[Beifall bei der PDS]

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Hahn! Wenn das eben Wachrütteln gewesen sein soll, dann weiß ich nicht, welche „euphori

schen“ Ausbrüche wir noch erwarten können. Wenn Sie das Thema Europa so behandeln, wie Sie es gerade getan haben, und das als „Wachrütteln“ bezeichnen, dann war das aus meiner Sicht lediglich beschämend. Beschämend an ihrer Rede war vor allem die Oberflächlichkeit, mit der Sie versuchen, die Berlinerinnen und Berliner, für das Thema Europa zu begeistern.

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Europa hat für mich zuerst etwas mit Chancen und einer optimistischen Grundhaltung zu tun, die wir in diesem Parlament gut gebrauchen könnten, die wir gut an die Bürgerinnen und Bürger weitertragen könnten. Zumindest wir der Koalition und Senat lassen uns von dieser optimistischen Sicht leiten, wenn wir das Thema Europa in die Stadt transportieren. Es sind weniger Ängste und Sorgen gefragt, sondern unser Anliegen ist es, darüber zu reden, wo die Chancen liegen und welche Herausforderungen vor uns stehen. Wenn Herr Tromp sagt, dass kaum einer der Bürger oder der Bürgerinnen weiß, was am 1. Mai passiert, dann weiß ich nicht, mit wem er redet. Ich sehe das für die Stadt, die Bundesrepublik und Europa anders. Ich beschäftige mich mit Europapolitik und finde, dass das Thema Europa die Öffentlichkeit sehr wohl beschäftigt. Das Thema wird durchaus als das wahrgenommen, was es ist: Eine der größten historischen Herausforderungen in der Integrationsgeschichte am Vorabend des Beitritts der zehn ost- und mitteleuropäischen Nachbarstaaten.

[Beifall bei der PDS – Beifall des Abg. Gaebler (SPD)]

Künftig werden in der Europäischen Union 450 Millionen Menschen leben. Diese neue EUGemeinschaft hat außerordentliche politische, ökonomische, soziale, ökologische sowie kulturelle Aufgaben zu bewältigen. Aus meiner Sicht ist dies ein wichtiger Schritt im Interesse von Frieden und Stabilität

[Krestel (FDP): Sozialismus!]

in Europa. Berlin, darauf ist schon mehrfach hingewiesen worden, tritt aus seiner Randlage in der EU heraus in die geographische Mitte, woraus sich eine besondere Verantwortung unserer Stadt für den europäischen Integrationsprozess ableitet. Diese Aufgabe allein auf die Regierung abzuschieben, wäre vermessen. Sie ist allein durch den Senat, allein durch die Koalition nicht zu bewältigen. In dieser Verantwortung stehen parteiübergreifend alle Fraktionen, gesellschaftlichen Kräfte und Bewegungen.

Ich freue mich sehr, dass das Thema die CDU nun endlich auch erreicht hat.

[Wegner (CDU): Das ist ja ein Witz!]

„Berlin für Europa fit machen“ – ich gebe gern zu, dass ich neidvoll auf diesen Titel geschaut habe. Dieser Titel ist ein gut gewähltes Motto, das die Zielstellung der Europapolitik kurz und klar umschreibt. Ja, Herr Tromp, das war das bisherige Leitmotiv aller Debatten und Aktivitäten der Koalition – und das wird auch so bleiben.

[Beifall bei der PDS – Brauer (PDS): Genau!]

Sie haben uns an Ihrer Seite, wenn es um die Ausgestaltung der neuen Herausforderungen und Chancen geht, die Berlin in Zusammenarbeit mit den östlichen und mittelosteuropäischen Nachbarstaaten annehmen und ergebnisorientiert nutzen will.

Wir werden uns mit Ihren Anträgen im Einzelnen im Ausschuss befassen. Deshalb gestatte ich mir hier nur einige grundsätzliche Bemerkungen. Das Motto, meine Herren von der CDU und der FDP, „Berlin für Europa fit machen“ trifft nur ins Schwarze, wenn man es als eine kontinuierliche Aufgabe betrachtet, die nicht erst jetzt, wenige Wochen vor dem Beitritt auf der Tagesordnung steht und auch nicht in wenigen Wochen abgearbeitet sein wird. Ein wenig hat es, liebe CDU, den Anschein, als wären Sie gerade aufgewacht und präsentierten mit dieser Serie von acht Einzelanträgen, die viel Schaum enthalten und deren Inhalt sich in zwei bis drei Anträgen gut hätte bündeln lassen, eine Kampagne, die eigentlich schon vor längerer Zeit angebracht gewesen wäre. „Guten Morgen!“ kann ich dazu nur sagen. Europa gehört doch nicht erst jetzt in die Lehrpläne, wie Sie es fordern, meine Herren, und eine Öffentlichkeitskampagne über Chancen und Risiken der EU-Osterweiterung vier Wochen vor dem Beitritt zu fordern, ist aus meiner Sicht weltfremd.

[Brauer (PDS): Die kommen eben etwas spät!]

Wenn der Senat bislang keine Öffentlichkeitskampagnen, oder Sie es offenbar nicht bemerkt haben, zu diesem Thema durchgeführt hätte, wäre es jetzt zu spät dafür. Dass dieses Thema bislang überhaupt nicht publik gemacht worden sei, ist eine Behauptung, die nur jemand aufstellen kann, der die entsprechenden Aktivitäten des Senats entweder nicht zur Kenntnis nehmen will oder sehr geringschätzt. Die EU-Osterweiterung ist erklärter Schwerpunkt – Sie wissen das aus Ausschussberatungen, auf Grund von Aktivitäten unseres Hauses, auch aus den Reihen von uns Parlamentariern und Parlamentarierinnen, Herr Tromp, sehr genau. Sie wissen, dass die Osterweiterung ein erklärter Schwerpunkt der Öffentlichkeitsarbeit des Europareferats in der Senatskanzlei, sogar Chefsache des Regierenden Bürgermeisters ist.

[Zuruf des Abg. Cramer (Grüne)]

Wenn Sie es nicht bemerkt haben sollten, hier einige Hilfestellungen zur Beseitigung Ihrer Gedächtnislücken: Zum Beispiel hätte ein Blick in das Programm der diesjährigen Europawoche in Berlin genügt, die Europatour des Regierenden Bürgermeisters durch Berlin gemeinsam mit zahlreichen Journalisten, die zahlreichen Diskussionsveranstaltungen der letzten Wochen und Monate, auch die vor wenigen Tagen erfolgreich beendete Woche Berlin in Moskau gehört zu solchen Aktivitäten. Hinzu kommt, dass wir uns alle in die Öffentlichkeitsarbeit einbringen können. Auch das Parlament, Herr Tromp, hat mit seiner Öffentlichkeitsarbeit, wie ich finde, gute Signale gesetzt. Ich erwähne zum Beispiel unseren letzten Tag der offenen Tür, offen für alle Bürgerinnen und Bürger,

mit dem Thema „Polen und die EU-Osterweiterung“. Der diesjährige Tag der offenen Tür wird sich mit den baltischen Staaten befassen. Ich weiß nicht, wo Sie leben, ich weiß nicht, was Sie wahrnehmen. Das von mir Genannte ist nur ein ganz kleiner Ausschnitt zum Thema Öffentlichkeitsarbeit, aber bereits dieser kann sich sehen lassen. Gleichwohl ist es richtig – hier stimme ich Ihnen zu –, auch wir sagen: Genug ist nicht genug. Deshalb werden wir uns in Zukunft für noch mehr Öffentlichkeitsarbeit einsetzen.

Noch ein Wort zum in einem Ihrer Anträge erwähnten 3. Kohäsionsbericht, weil dies ein wichtiges Thema mit weit reichenden Konsequenzen auch für Berlin ist. Es ist richtig, mit dem 3. Kohäsionsbericht und den darin enthaltenen Reformvorschlägen beginnt eine neue Runde der Diskussion über die Veränderung der Förderstrukturen der Europäischen Union. Doch auch hier gilt: Der Senat ist nicht erst mit dem 3. Bericht aufgewacht und beginnt auch nicht erst jetzt, sich in die Debatte der Neugestaltung der Strukturfonds im Rahmen der Vorbereitung der Haushaltsplanung der EU für den Zeitraum bis 2013 einzubringen, es hat dies bereits langfristig und mit dem 2. Bericht getan.

Frau Kollegin! Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Nein, das lenkt nur ab. – Seine Vorstellungen hierzu sind in einem entsprechenden Positionspapier Ende 2002 festgehalten worden, das im Übrigen dem Parlament zur Kenntnisnahme und Diskussion vorgelegen hat. Für die darin entwickelten Konzepte hat der Senat geworben und sich damit für die Interessen Berlins eingesetzt. Sie kennen die entsprechenden Debatten aus unserem Ausschuss. Berlin ist mit diesem Positionspapier über die Vorstellungen über Fördergrundsätze, Übergangsregelungen oder Verwaltungsvereinfachung, vor dem Hintergrund der dazu nun auf dem Tisch liegenden Vorschläge der Kommission in der jetzigen Reformdiskussion nicht einmal schlecht aufgestellt.

[Frau Jantzen (Grüne): Aber auch nicht gut!]

Aus meiner Sicht haben wir genügend Zeit, um uns im Ausschuss mit der gebotenen Ernsthaftigkeit über alle Fragen auszutauschen. Wir haben in wenigen Tagen als Ausschuss die Gelegenheit, uns zu diesem wichtigen Thema vor Ort auszutauschen. Wir werden die Ergebnisse in die Diskussion in Brüssel mit EU-Kommissaren einfließen lassen.

Mir bleibt abschließend festzuhalten: Wenn wir bei Ihren Anträgen den Schaum, der sozusagen um die Anträge herum ist, und die heiße Luft abstreichen und uns auf die Kernaussagen, die in den Anträgen enthalten sind, konzentrieren werden, glaube ich, werden wir eine sehr interessante und wahrscheinlich auch ergebnisorientierte Diskussion haben. – Herzlichen Dank!