Protocol of the Session on September 25, 2003

Lfd. Nr. 16:

Große Anfrage

Zuwanderung gestalten – Integration fördern – Flüchtlingspolitik liberalisieren

Große Anfrage der Grünen Drs 15/1821

[Beifall bei den Grünen und der FDP – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Andere Länder haben die Multikulturalität ihrer Gesellschaft längst zum Standortfaktor im Globalisierungsgeschehen ausgebaut. Sie wissen, dass die jungen Menschen der nächsten Generation alle – einheimische wie ausländische – von einem interkulturellen Lehrplan mit entsprechender Didaktik und Lehrerausbildung profitieren.

Und bei uns? – Ein hoher Ausländeranteil in der Schulklasse muss unweigerlich zu der Frage der Eltern führen: Ist das die richtige Schule für mein Kind? Versage ich ihm hier die notwendige Förderung? Wo andere Potentiale aufbauen, sehen wir nur schwarz am Ende des Tunnels. Das muss sich ändern.

[Beifall bei den Grünen]

Nicht nur theoretisch, wenn es um den demographischen Knall der sozialen Sicherungssysteme geht, die wir vielleicht mit Migrantinnen und Migranten abgefedert bekommen. Es geht um das Hier und das Jetzt. Es geht um die Grundlage für die Zukunft. Es geht darum, dass die bereits hier Lebenden bleiben können. Wir wollen nicht erleben, dass dieser Senat auch in diesem Punkt wieder die Zukunft der Stadt verspielt.

Deshalb brauchen wir eine klare Integrationspolitik, und diese Integrationspolitik braucht eine Stimme, und zwar nicht eine – wie Herr Piening heute im „Tagesspiegel“ gesagt hat – beratende, sondern eine laute. Es ist sicher richtig, dass er nicht der Robin Hood der Migrantinnen und Migranten ist, aber wenn der Innensenator sich wie der Sheriff von Nottingham aufführt,

Offenbar ist der Senat wieder einmal stolz darauf, bei seiner Entscheidung niemanden mitgenommen zu haben, in klarer Tradition des Nicht-sehen-, Nicht-hören- und Nicht-sehen-Wollens. Wo sind Sie, meine Damen und Herren im Senat? – Gehen Sie, oder sitzen Sie mit den Blockierern im Bundesrat? Verteidigen Sie, dass Deut

scher nur werden kann, wer das richtige Blut hat, oder geht es mit Ihnen endlich ins 21. Jahrhundert?

Meine Damen und Herren! Ich gehe davon aus, dass die Fraktion der Grünen damit rechnet, dass ich zumindest einen Teil der gestellten Fragen beantworte. – Herr Ratzmann, ich sehe es auch so, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Einwanderung und Integration im Interesse derjenigen, die zu uns kommen, und derjenigen, die in dieser Gesellschaft leben, zu gestalten, gehört zu den zentralen politischen Aufgaben, auch in Berlin.

Dazu bekennt sich der Senat, Kollege Ratzmann, und er lässt es nicht bei dem Bekenntnis, sondern er tut auch etwas dafür.

[Liebich (PDS): Otto Schily – sage ich nur!]

dann braucht es schon ein bisschen Robin Hood, und den auch in der Position eines Beauftragten für Migration.

[Beifall bei den Grünen]

Wir haben hier, glaube ich, schon einen kleinen OttoSchily-Ersatz in dieser Stadt. Jedenfalls versucht er, sich genau so zu gerieren, wenn es um diese Fragen geht.

[Liebich (PDS): Das schafft der nie!]

Was wir brauchen, ist eine vorschulische Betreuung, die entscheidende Kulturtechniken vermittelt, also auch die Sprache. Wir brauchen echte Angebote an Menschen ausländischer Herkunft, Teil dieser Gesellschaft zu werden, und zwar nicht nur in Kreuzberg, sondern auch in Zehlendorf. Dafür müssen sie Deutsche werden können, mit allem Respekt vor ihrer Kultur und mit dem klaren Ziel, etwas Gemeinsames, eine gemeinsame demokratische Gesellschaft aufbauen zu können.

Es kann doch nicht sein, dass wir die drittmeisten ausländischen Studierenden weltweit haben und sie dann nach dem Abschluss wieder nach Hause schicken. Wir wollen, dass die Menschen hier bleiben, hier arbeiten, sich selbstständig machen, Familien gründen als fester Bestandteil dieser Gesellschaft. Das ist das Entscheidende, dass sie sich mit dieser Gesellschaft identifizieren können. Das ist auch der Scherbenhaufen der verfehlten Ausländerpolitik, vor dem wir heute stehen, weil wir ihnen die Pässe verwehrt haben, weil der Staat immer auf ein „Die-gehen-schon-wieder-nach-Hause“ gesetzt hat.

Das Ergebnis: Viele junge Menschen in diesem Land sind zwar schon hier geboren, aber sie finden ihren Platz nicht. Einige kommen nie an in dem System, fallen heraus und bestätigen das Vorurteil, dass Ausländer Geld kosten und kriminell sind. Dieses Problem lösen wir nicht mit Abschiebungen. Was diese jungen Menschen brauchen, sind echte Entwicklungsmöglichkeiten. Wir müssen ihnen aus diesem Haus heraus sagen: Ihr werdet gebraucht, Ihr seid wesentlicher Bestandteil des Potentials der Zukunft dieser Stadt! Macht mit!

Gerade Berlin braucht das Zuwanderungsgesetz. Berlin braucht das Bekenntnis, dass wir ein Einwanderungsland sind. Das ist die Grundlage für jede sinnvolle Integrationspolitik. Auf dieses Signal warten wir, von Herrn Körting, von Herrn Böger, von dem Beauftragten für Integration. Wir warten nicht auf das, was wir gestern zu dem so genannten Kopftuchurteil hören mussten: Bayern, Hessen und Berlin in einer Phalanx wollen sofort aktiv werden. Keine Debatte, keine Diskussion, Herr Böger verkündet: Das Kopftuch Tragen wird verboten.

Die Menschen in Berlin können nicht länger warten. Sie brauchen endlich eine Antwort.

[Beifall bei den Grünen – Zillich (PDS): Das habe ich aber nicht alles verstanden!]

Danke schön! – Zur Beantwortung erhält Frau Senatorin Knake-Werner das Wort – bitte sehr!

[Beifall bei der PDS und der SPD]

[Beifall bei der PDS und der SPD]

13 % aller Berlinerinnen und Berliner sind zugewandert, und wenn man die in den vergangenen Jahren eingebürgerten Zuwanderer hinzuzählt, dann sind es noch viel mehr. Zuwanderung ist ein Markenzeichen für ein offenes, demokratisches Land. So sieht es der Senat. Deshalb will er Zuwanderung aktiv gestalten. Wegen der gravierenden Veränderungen in der Altersstruktur der Bevölkerung brauchen wir eine aktive Zuwanderungspolitik, denn Zuwanderinnen und Zuwanderer bringen fachliche Qualifikationen und kulturelle Vielfalt in diese Stadt. Das können wir gut gebrauchen. Dabei muss völlig klar sei, dass die Integration neuer Zuwanderer in unsere Gesellschaft die eine Seite ist, aber die Integration der bereits hier lebenden Migrantinnen und Migranten darf darüber nicht vernachlässigt werden. Das gilt für junge Menschen, aber zunehmend auch für ältere oder gar pflegebedürftige Migrantinnen und Migranten. Hier kommt ein ernsthaftes Zukunftsproblem auf uns zu. Deshalb fördert der Senat zum Thema „Älterwerden in Deutschland“ interkulturelle Modellprojekte. Das ist eine wichtige Initiative.

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Die Grundlage unserer Zuwanderungspolitik ist die Überzeugung, das humanitäre Grundsätze einerseits und die langfristigen, berechtigten demographischen und wirtschaftlichen Interessen Berlins andererseits gleichermaßen berücksichtigt werden müssen. Dazu brauchen wir ein Zuwanderungsgesetz. Je eher es kommt, desto besser. Der Senat unterstützt den Gesetzentwurf der Bundesregierung. Das hat er im Bundesrat zum Ausdruck gebracht.

Frau Sen Dr. Knake-Werner

Integration verstehen wir als einen Prozess, der die gleichberechtigte Teilhabe der Migrantinnen und Migranten in allen Lebensbereichen zum Ziel hat, aber dieser Prozess ist eben auch keine Einbahnstraße. Sprachbarrieren sind oft das entscheidende Hemmnis für Integration, und leider ist es so, dass bei Migrantinnen und Migranten der dritten und vierten Generation die Sprachkenntnisse oft völlig unzureichend sind. Die Folge ist häufig ein Rückzug auf die Herkunftskultur und -sprache. Das ist ein Zustand, den wir nicht gebrauchen können. Es kommt darauf an, gemeinsam mit den großen Communities etwas zu tun. Diese verschließen die Augen längst nicht mehr vor dem Problem, sondern sind bereit, sich aktiv in die Diskussion einzubringen.

Wir haben Projekte in dieser Hinsicht gerade auch mit dem Türkischen Bund besprochen. Es gibt das Projekt der Elternlotsen und viele andere, die natürlich auch für die anderen großen Migrantinnen- und Migrantengruppen in Berlin notwendig sind.

Angesichts der PISA-Ergebnisse hat der Senat ein umfassendes Qualitätskonzept vorgelegt. Es würde den Zeitrahmen sprengen, wenn ich die einzelnen Maßnahmen vortragen würde. Ich biete Ihnen deshalb an, diese Auflistung schriftlich vorzulegen. Das wird Ihrem Informationsbedürfnis sicher am besten gerecht.

Es wäre schön, wenn in der Bundesregelung die Sprachförderung künftig ausgebaut statt reduziert würde. Das ist ein zentraler Punkt. Denn Integration und Qualifikation sind zwei Seiten derselben Medaille. Wer beruflich qualifiziert ist, der hat bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Und wer einer Arbeit nachgeht, der hat es leichter in seinem gesellschaftlichen Umfeld, weil sich die Stellung in der Gesellschaft nach wie vor ganz entscheidend über Erwerbsarbeit bestimmt. Darum gilt es, die Möglichkeiten eines flexiblen Einwanderungsgesetzes zu nutzen und die Zuwanderung von Fach- und Führungskräften, von Studierenden, Akademikern, gebildeten Menschen und anderweitig Qualifizierten zu fördern. Voraussetzung dafür ist aber ein Zuwanderungsgesetz, wie es jetzt vorliegt. Man kann nur hoffen, dass es in seiner Substanz erhalten bleibt. Natürlich schließt das überhaupt nicht aus, dass fehlende Fachkräfte durch die Qualifizierung hiesiger Beschäftigter gewonnen werden. Ich bin davon überzeugt, dass es in dieser Hinsicht bei den hier lebenden Migrantinnen und Migranten große Reserven gibt.

11 % aller Berliner Schülerinnen und Schüler verließen im vergangenen Jahr die Schule ohne Abschluss. Das ist dramatisch. Aber bei den Schülerinnen und Schülern nichtdeutscher Herkunft waren es sogar 25 %. In der Altersgruppe der 16- bis 20-Jährigen nichtdeutscher Herkunft befinden sich nur knapp 17 % in einer beruflichen Ausbildung. Von den deutschen Jugendlichen in der gleichen Altersgruppe sind das 47 %. Das ist viel zu wenig. Deshalb unternimmt der Senat große Anstrengungen, um diese Situation zu verbessern und auch für junge Migrantinnen und Migranten ausreichende Qualifikations- und Ausbildungskapazitäten bereitzustellen. Das wird auch so bleiben.

[Beifall bei der PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Klar ist aber auch, dass an dieser Stelle die Wirtschaft gefordert ist. Sie hat die Möglichkeit, Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen, und sie muss deutlich mehr für die Ausbildung tun – gerade auch für junge Migrantinnen und Migranten. Das muss sie nicht nur aus dem Eigeninteresse heraus tun, den künftigen Bedarf an qualifizierten Fachkräften zu sichern, sondern auch um mitzuhelfen, diesen jungen Menschen eine Zukunftsperspektive zu geben.

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Um schulische und berufliche Chancen junger Menschen nichtdeutscher Herkunft zu verbessern, wird die Förderung der Sprachkompetenz ein wesentlicher Schwerpunkt der Politik des Senats bleiben müssen. Mit der Sprachförderung, den offenen Deutschkursprogrammen und dem Zielprogramm VHS-Mütterkurse wurden bereits erfolgreiche Maßnahmen umgesetzt. Es bleibt weiterhin erklärtes Ziel, diese Kurse nicht nur im bisherigen Umfang fortzusetzen, sondern auf weitere Schulen und Kitas entsprechend dem Bedarf auszudehnen.

[Beifall bei der PDS – Beifall der Frau Abg. Dr. Klotz (Grüne)]

Mit der Einrichtung des Landesbeirats für Integrations- und Migrationsfragen hat der Senat ein wichtiges Instrument zur Lösung all der von mir angesprochenen Probleme und Fragen geschaffen.

[Beifall bei der PDS]

Es wird nicht mehr ohne, sondern mit den Migrantinnen und Migranten – auf gleicher Augenhöhe – über die Weiterentwicklung ganzheitlicher Integrationskonzepte beraten. Das ist eine neue Qualität der Berliner Integrationspolitik.

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Das Programm zur Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Antisemitismus und die Umsetzung der Leitsätze zur interkulturellen Ausrichtung der Verwaltung sind weitere wichtige Schritte auf dem Weg zu wechselseitiger Akzeptanz und Toleranz zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Deshalb werden wir auch diese Arbeit in den nächsten Jahren fördern und voranbringen. Auch das halte ich für einen ganz bedeutsamen Ansatz in unserer Integrationspolitik.

Ein weiterer Punkt der Großen Anfrage betrifft das Problem, das Sie aufgeworfen haben, Herr Ratzmann, dass männliche Jugendliche nichtdeutscher Herkunft nicht überproportional häufig bestimmter Straftaten verdächtigt werden. Wir können uns die Ursachen für diese Situation alle gemeinsam sehr gut vorstellen. Da geht es vor allen Dingen um das Gefühl der Ausgrenzung durch die so genannte Aufnahmegesellschaft. Da geht es um das Ge

Frau Dr. Knake-Werner

Asylbewerbern muss die Möglichkeit geboten werden, bis zur Entscheidung über ihren Antrag ih

ren Lebensunterhalt in Würde und Sicherheit zu sichern durch Beschäftigung oder durch staatliche Unterstützung.