Protocol of the Session on January 16, 2003

Gemessen an der Realität in Berlin ist unsere Kritik außerordentlich zurückhaltend, und wir setzen Sie – das mag Ihnen nicht passen – unter den Druck besserer Alternativen.

[Liebich (PDS): Wo denn?]

Wir werden im Parlament keine Obstruktion leisten. Darauf können Sie sich verlassen. Denn im Gegensatz zum Bundesratspräsidenten Wowereit ist uns das Land wichtiger als die Partei.

[Beifall bei der CDU – Doering (PDS): Ich sage nur Koch!]

[Beifall bei der CDU und der FDP – Liebich (PDS): Da war kein einziger Vorschlag dabei!]

Danke schön, Herr Dr. Steffel! – Das Wort für die SPD-Fraktion hat nunmehr der Fraktionsvorsitzende Herr Müller. – Bitte schön, Herr Müller!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Wird ein Arbeitnehmer krank, braucht er Rechtschutz, verliert er seine Arbeit, wird er im Betrieb gemobbt oder entstehen andere Probleme in der Arbeitswelt, hilft ihm die Gewerkschaft.“ Dies ist ein Zitat aus dem sogenannt DGB-ABC, das der DGB seinen Mitgliedern zur Verfügung stellt.

Zweifellos haben die Gewerkschaften in der Vergangenheit sehr viel für die Arbeitnehmer geleistet und sind dabei auch von der SPD unterstützt worden. In der gegenwärtigen Situation gerade in Berlin müssen die Gewerkschaften die Frage beantworten, ob sie mit ihrem Verhalten auch den Arbeitslosen und gerade den jungen Leuten im Osten helfen, oder ob sie momentan nur denjenigen helfen, die bereits einen sicheren Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst haben. Genau darum geht es heute. Das ist die entscheidende Frage in dieser heutigen Diskussion!

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Ich möchte auch im Wesentlichen auf diesen Punkt in meiner Rede eingehen. Er spielt die entscheidende Rolle. Das ist das Thema auch im übrigen dieser Regierungserklärung, Herr Steffel. Sie haben weiter Ausflüge in alle

Obwohl wir das Thema Solidarpakt am 31. Oktober in einer Aktuellen Stunde diskutiert haben, möchte ich zunächst noch einmal auf das Angebot des Senats zu den Solidarpaktverhandlungen eingehen. Ich habe den Eindruck, dass es viele immer noch nicht verstanden haben. Nach dem Motto: „Tausche Einkommen gegen Freizeit“ sollten die Angestellten des öffentlichen Dienstes in den nächsten vier Jahren auf Tariferhöhungen von rund je 2 % sowie anteilig auf das 13. Monatsgehalt und das Urlaubsgeld verzichten. Ich will es noch einmal deutlich sagen: Es soll keinen Abzug vom Bestand geben. Nur künftige Erhöhungen sollen nicht mitgemacht werden. Dafür wäre im Gegenzug die Arbeitszeit auch auf 37 Stunden verrin

gert und eine Beschäftigungsgarantie über 2004 hinaus gegeben worden.

Außerdem – das ist der wesentliche Punkt – beinhaltete das Angebot des Senats einen Einstellungskorridor für rund 7 000 Nachwuchskräfte, 4 000 Lehrer, 1 900 Polizisten, mehrere 100 bei Feuerwehr, Justiz und Finanzämtern. 7 000 Nachwuchskräfte für die Bildung, Sicherheit und für insgesamt mehr Service in der öffentlichen Verwaltung, für eine junge und modernere Verwaltung, hätte es gegeben.

Von den Gewerkschaften ist dieses Angebot verworfen worden. Sie haben die Gespräche mit dem Argument abgelehnt, das Angebot des Senats sei den Angestellten des öffentlichen Dienstes nicht zumutbar. Sie sagen allen Ernstes: Dieses Angebot sei nicht zumutbar. Sie haben sich wohl nicht bei den vielen Arbeitnehmern in der Stadt umgehört, die auf Grund ihrer eigenen Situation ein solches Angebot für höchst attraktiv gehalten hätten. Dennoch haben wir immer wieder betont, dass wir jederzeit zu Verhandlungen bereit sind. Wir haben auch betont, dass unser Angebot natürlich nicht 1:1 umgesetzt werden muss, sondern dass es Verhandlungsspielraum etwa beim 13. Monatsgehalt oder beim Urlaubsgeld gibt. Dabei muss man natürlich berücksichtigen, dass man nicht alle Einkommen über einen Kamm scheren kann. Nicht alle Arbeitnehmer sind in unserer Stadt gleich belastbar.

Politikbereiche bis in die Bundespolitik hinein gemacht. Ich vermute, Sie haben es eher deshalb getan, weil Sie sich bei diesem Thema eben unsicher fühlen, weil Sie nicht Farbe bekennen wollen, wo Sie in der Frage stehen. Das ist doch der Punkt!

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Natürlich gibt es in jeder Tarifauseinandersetzung unterschiedliche Positionen. Auch von der Arbeitgeberseite ist in den letzten Jahren – das muss man offen sagen – nicht immer alles gehalten worden, was versprochen war. So hat beispielsweise nicht jeder Lohnverzicht zu den von Arbeitgeberseite versprochenen neuen Arbeitsplätzen geführt. Sicherlich ist der Kampf um Tariflohnerhöhung eines der Hauptanliegen einer Gewerkschaft. Gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Fortschritt müssen natürlich auch mit einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer einhergehen. In normalen Zeiten sind dies völlig normale Forderungen. Nur befinden wir uns eben nicht in diesen normalen Zeiten.

Berlin kann ganz grundlegende Dinge nicht mehr zahlen. Wir müssen vielen Menschen in unserer Stadt in allen Bereichen, in allen Politikfeldern Belastungen auferlegen, die hart an der Grenze des Zumutbaren sind. Deswegen müssen auch in diesen Verhandlungen mit den Gewerkschaften andere Vorzeichen gelten.

[Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Fortschritt bestehen nicht nur darin, die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer zu verbessern, sondern wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Fortschritt definiert sich heutzutage in allererster Linie darüber, dass Arbeitsplätze erhalten und neue Arbeitsplätze geschaffen werden und dass vor allem junge Menschen in Arbeit gebracht werden. Wir diskutieren dies hier vor dem Hintergrund, dass es knapp 300 000 Arbeitslose in unserer Stadt gibt. Das ist eben die besondere Problematik. Man muss an der Stelle einen etwas größeren Zusammenhang sehen.

Menschen, die Arbeitsplätze haben oder neue bekommen, geben auch wieder aus. Sie konsumieren. Sie beleben Wirtschaft und schaffen wiederum in anderen Wirtschaftsbereichen neue Arbeitsplätze. Auch das entlastet uns und hilft den Menschen.

Ich hatte den Eindruck, dass es doch so langsam hier im Abgeordnetenhaus in den letzten Tagen und Wochen einen Lern- und Denkprozess an der Stelle gegeben hat und alle Fraktionen sagen, dass dies eigentlich doch eine vernünftige Ausgangsbasis für Verhandlungen war. Nur heute, Herr Steffel, nach Ihrer Rede, habe ich den Eindruck, dass Sie vielleicht gar nicht in dieser Stadt leben. Vielleicht nehmen Sie auch Haushaltszahlen gar nicht zur Kenntnis; vielleicht haben Sie gar keine Lust, sich mit den Realitäten, in denen wir uns bewegen, zu befassen. Fast alle Ihre Vorschläge, die Sie unterbreitet haben, bewirken finanziell überhaupt nichts. Da bleiben Sie sich treu. Sie wollen immer weiter allen alles versprechen. Machen Sie doch einmal intelligente, praktikable Vorschläge, wo man stattdessen in dieser Stadt in welchen Politikbereichen sparen kann! Nichts ist von Ihnen an dieser Stelle zu hören. Hier kommt die CDU-Fraktion kein Stück weiter!

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Sie sprechen von Vertrauen. Vertrauen soll man offensichtlich auch in Ihre Politik haben. Dazu müssen Sie aber sagen, wo Sie an der Stelle stehen. Was wollen Sie wirklich für die Stadt erreichen? Was wollen Sie den Arbeitnehmern, was wollen Sie dem öffentlichen Dienst abverlangen und was nicht? Genau das muss man sagen. Nein, Herr Steffel, auch wenn Sie hier so etwas ansprechen und sagen, Arbeitnehmer und Mittelstand ziehen an einem Strang. Wissen Sie wirklich, worüber Sie sprechen? Haben Sie sich mit der Situation auseinandergesetzt? Gibt es eigentlich inzwischen in Ihrem Unternehmen einen Betriebsrat?

Denn allein die Tariferhöhung nach dem Schlichterspruch hätte für Berlin eine zusätzliche Belastung von 180 Millionen € bedeutet. Dass Berlin diese zusätzliche Belastung unter keinen Umständen tragen kann, steht außer Frage. Wer das nicht einsehen will, hat immer noch nicht verstanden, in welcher Haushaltsnotlage Berlin sich befindet: Nicht eine einzige Erhöhung können wir uns leisten. Das haben wir auch immer wieder deutlich gemacht.

Das Land Berlin kann und wird jetzt eigene Tarifverhandlungen führen. Das kann auch eine Chance für Berlin sein. Denn das Unternehmen Berlin ist pleite. Und wer Arbeitsplätze retten und sogar einen Einstellungskorridor eröffnen will, der muss zu Gesprächen bereit sein, der muss Kompromisse machen. In vielen Betrieben der Bundesrepublik ist das ganz selbstverständlich. Dort gehen die Gewerkschaften diese Kompromisse ein, um Arbeitsplätze zu erhalten. Die Gewerkschaften tragen damit regionalen und strukturellen Unterschieden Rechnung. Nichts anderes fordern wir von den Gewerkschaften für das Land Berlin, als auf diese besondere Situation einzugehen –denn pleite ist pleite, ob es sich um ein Unternehmen oder um ein Bundesland handelt.

Es gibt eine erstaunliche Information. Frankfurt (Oder) ist Mitglied im kommunalen Arbeitgeberverband. Dort hat Verdi Berlin-Brandenburg einen Haustarifvertrag verhandelt. Dieser sieht folgendermaßen aus: Statt 40 Stunden wird zukünftig nur noch 38 Stunden gearbeitet. Dabei verzichtet man auf 5 % Lohn. Dafür gibt es wiederum im Gegenzug eine Beschäftigungsgarantie.

[Doering (PDS): Weiß er nicht!]

Ich bin mir nicht so sicher, ob Sie wirklich alles das auch selbst leben, was Sie uns erzählen.

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Nein, es gibt von der CDU-Fraktion keinen praktikablen Vorschlag. Es gibt nicht einmal Einigkeit im Weg.

Herr Henkel hat vorgestern erzählt, man müsse an dieser Stelle hart bleiben. Herr Zimmer spricht genau von dem Gegenteil. Sie machen hier heute wieder den Landowsky wie in seinen besten Zeiten. Es ist nicht zu erkennen, wohin die CDU-Fraktion will!

[Beifall bei der SPD und der PDS – Beifall des Abg. Matz (FDP)]

Innerhalb einer Solidargemeinschaft muss füreinander gehandelt werden. Zur Verantwortung sozialdemokratischer Politik gehört es natürlich, daran zu erinnern und dafür einzutreten. Meine Damen und Herren von den Gewerkschaften, ich möchte Sie daran erinnern, dass der größte Teil der Bevölkerung nicht im öffentlichen Dienst arbeitet, also keinen sicheren Arbeitsplatz hat. Viele sind sogar schon seit langem arbeitslos. Im Sinne eines Solidarpakts sollten Sie mehr Solidarität auch mit denen zeigen, die arbeitslos sind und mit der nachfolgenden Generation.

Es kann nicht sein, dass die Gewerkschaften in allererster Linie nur für diejenigen da sind, die bereits Arbeit haben. Im Gegenteil: Es wird sogar an der Stelle noch schlimmer. Durch die Verweigerungshaltung sind auch die einseitigen Maßnahmen, von denen der Regierende Bürgermeister gesprochen hat, notwendig. Wenn wir zu keinem Ergebnis kommen, kann es bedeuten, dass ab 2004 auch Arbeitsplätze abgebaut werden. Welche sind das? Es sind diejenigen für die Mitarbeiter, die noch nicht 15 Jahre oder länger im öffentlichen Dienst arbeiten. Es sind die jungen Menschen, die Beschäftigten im Ostteil unserer Stadt, die zuerst betroffen wären. Das kann doch niemand im Ernst wollen!

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Die Verweigerungshaltung der Gewerkschaften musste zwangsläufig dazu führen, dass wir vergangene Woche aus den beiden kommunalen Arbeitgeberverbänden ausgetreten sind. Nur so konnten wir verhindern, dass das Land Berlin den erzielten Tarifabschluss auf Bundesebene übernehmen muss. Herr Steffel, Sie haben danach gefragt: Ja, ich glaube, es ist richtig. Ich bin fest davon überzeugt, dass es richtig ist, diesen Weg gegangen zu sein. Denn nur dadurch erhalten wir uns ein Minimum an Handlungsspielraum, um genau das zu tun, was Politik auch machen muss, Menschen auch in anderen Politikfeldern zu helfen, in der Bildungspolitik, in der Jugend- und Sozialpolitik. Auch dafür muss man einen solchen Weg gehen. Genau das ist richtig!

[Beifall bei der SPD und der PDS]

[Zuruf des Abg. Niedergesäß (CDU)]

[Sen Böger: Hört, hört!]

Das ist genau das, was wir hier im Solidarpakt angeboten haben. Was in Berlin abgelehnt wurde, wird in Frankfurt (Oder) gemacht. Genau darum geht es: auf besondere Situationen individuell zu reagieren.

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Herr Kollege Müller! Gestatten Sie eine Zwischenfrage? – Nein. – Bitte, fahren Sie fort!

Viele Kommentatoren haben es in den letzten Tagen geschrieben: Die Tariflohnerhöhung bedeutet für nicht wenige Länder und Kommunen – und für Berlin träfe das auch zu, wenn wir die Erhöhung bezahlen müssten –: mehr Schulden, massiver Stellenabbau, weniger Angebote für Bürger. Weniger Angebote für Bürger – was heißt das konkret? – Das heißt konkret, dass wir etwas machen müssen, was wir gar nicht wollen, nämlich in vielen Bereichen noch mehr Leistungen streichen, und zwar über das Maß hinaus, das wir als Sozialdemokraten für vertretbar halten. Und das nur, um Tariferhöhungen im öffentlichen Dienst zu finanzieren! Eine Tariferhöhung ginge einher mit tiefen Einschnitten, die bald jede Bürgerin und jeder Bürger in Berlin spüren würde. Das kann nicht Sinn unserer gemeinsamen Politik sein, und das darf auch nicht der Sinn von Sparen und Kürzen sein. Es muss darum gehen, diese Handlungsspielräume zu erhalten

Herr Regierender Bürgermeister! Sie haben vorhin gesagt, Sie seien vor einem Jahr angetreten, um den Mentalitätswechsel in dieser Stadt herbeizuführen. Sie können sich nächsten Jahr wieder hier hinstellen und ihn beschwören und noch mal und noch mal.

Mentalitätswechsel – und daran werden Sie geprüft – müssen herbeigeführt werden und nicht herbeigeredet. Was Sie in den letzten zwölf Monaten gemacht haben, ist konzeptionslos, ein bisschen Herumwursteln. Die Veräußerung von Landesvermögen und eine gezielte Standortpolitik sind ganz unter Ihren tatsächlichen Möglichkeiten geblieben. In diesem Bereich ist gar nichts passiert.

Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele, damit Sie sehen, wovon wir hier reden. Dafür zitiere ich aus der Regierungserklärung des Herrn Wowereit, gehalten am 21. Februar 2002. Nehmen wir einmal einen mir nahe liegenden Bereich, die Justiz: