Dazu liegt mir die Wortmeldung von Frau Dr. Tesch für Fraktion der SPD vor. – Frau Dr. Tesch hat jetzt das Wort!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich betonen, dass ich es ausdrücklich begrüße, dass das Thema Bildung von allen Fraktionen für die heutige Aktuelle Stunde augewählt wurde.
Danke! – Die Wichtigkeit dieses Themas wird zusätzlich dadurch betont, dass auch der Bundeskanzler die Bildung zur Chefsache gemacht hat und als erster Bundeskanzler dazu heute eine Regierungserklärung abgegeben hat.
Die SPD-Regierung hat zum ersten Mal seit 1982 den Bildungsetat um 20 % erhöht, während die Regierung Kohl in diesem Bereich nur gekürzt hat.
Bereits die Ergebnisse der PISA-Studie schreckten die Nation auf. Die SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus und der Senator für Bildung haben umgehend Eckpunkte definiert, die aufgrund dieser Ergebnisse im Berliner Schulsystem verändert werden müssen. Ich nenne hier exemplarisch 5 Hauptpunkte: 1. Ausbau der Binnendifferenzierung, vor allem an den Grundschulen, um das didaktische Prinzip „die Lernschwächeren fördern, die Lernstärkeren fordern“ umsetzen zu können; 2. Verstärkung des Förderunterrichts, insbesondere auch für Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache; 3. Verwirklichung der verlässlichen Halbtagsgrundschule – das heißt, die Kinder sind von 7.30 Uhr bis 13.30 Uhr in der Schule – und weiterer Ausbau von Ganztagsschulen; 4. Reform der Aus- und Fortbildung von Lehrerrinnen und Lehrern, um zu einer veränderten Methodik zu gelangen, und schließlich 5. eine umfassende Qualitätsentwicklung und -sicherung.
Nun liegt seit dem 5. Juni das Ergebnis einer weiteren Studie vor: „Bärenstark“. Diese Sprachstandsfeststellung zukünftiger Erstklässler wurde in 4 Innenstadtbezirken durchgeführt. Die Ergebnisse sind bestürzend. Zwei Drittel der überprüften Kinder haben einen Förderbedarf, 36 % von ihnen benötigen sogar eine intensive Unterstützung beim Erwerb der deutschen Sprache. Die Ergebnisse müssen jedoch differenziert betrachtet werden. Während einige Bezirke nicht so stark belastet sind, besteht in anderen ein akuter Handlungsbedarf. Bestürzend ist hier ferner die Tatsache, dass auch ein Teil der deutschen Schülerinnen und Schüler große Defizite in der Sprachbeherrschung aufweist. Hier darf man manche Eltern nicht aus der Pflicht nehmen. Sie können ihre Kinder nicht 6 Jahre lang vor dem Fernseher parken und dann erwarten, dass die Schule alles repariert.
Der „Spiegel“ titelt: „Das Versagen der Eltern“, ich meine aber, dass eine pauschale Verunglimpfung aller Eltern wenig hilfreich ist.
Ich plädiere hier auch keineswegs für die Forderung, die Frauen sollten wieder ins Heim und an den Herd zurückkehren. In Skandinavien ist es die Regel, dass die Frauen nach der Geburt an den Arbeitsplatz zurückkehren. Die PISA-Studie hat bewiesen, dass deshalb die Lernleistungen der Schüler nicht geringer werden. Auch aus Kindern von alleinerziehenden Müttern oder Vätern kann etwas werden. Vielleicht darf ich mich an dieser Stelle selbst als Beispiel anführen. Wir brauchen aber auf alle Fälle wieder Eltern, die Verantwortung tragen und sich um ihre Kinder kümmern.
Das Leben in Gebieten sozialer Brennpunkte besteht nicht aus Schule allein. Hier ist die soziale Stadtentwicklung als übergreifendes Programm gefragt. Der Vorschlag, eine Ausländerquote an Grundschulen durch Bustransfer zu erreichen, ist unsinnig und unpraktikabel. Im Übrigen ist er in Berlin bereits in den 90er Jahren verworfen worden. Er ist unpraktikabel, weil man das Einverständnis sowohl der deutschen als auch der ausländischen Eltern benötigt, ihre Kinder täglich durch die Stadt
transportieren zu lassen, und er ist unsinnig und – ich betone – unsozial, weil die Kinder aus ihrer sozialen Umgebung gerissen werden. Dort, wo sie lernen, sollen sie auch spielen. Freundschaften müssen sich entwickeln, auch zwischen deutschen und ausländischen Kindern. Es muss daher noch verstärkt auf eine Verzahnung von Schule und außerschulischen Aktivitäten hingewirkt werden.
Wir werden nur vorankommen, wenn sich Eltern, Schule und Jugendeinrichtungen gemeinsam an einen Tisch setzen und zu machbaren Lösungen gelangen.
Ein weiteres differenziertes Ergebnis von „Bärenstark“ ist die Tatsache, dass Kinder, die eine Kita oder Vorklasse besucht haben, besser abschneiden als Kinder ohne vorschulische Erfahrungen. An diesen Bildungseinrichtungen wird also bereits gute Arbeit von den Erzieherinnen und Erziehern geleistet. Aber auch hier sind Verbesserungen möglich. Wir möchten und müssen den Erwerb der deutschen Sprache in den Kindergärten verstärken. Die Vermittlung von Deutsch als Zweitsprache gehört in die Erzieherinnenausbildung, so wie dies von den Kommissionen der Universitäten, die sich mit den neuen Bachelor- und Masterstudiengänge für das Lehramt beschäftigen, bereits vorgesehen ist. 734 Lehrerstellen stehen bereit, um die Fördermaßnahmen Deutsch als Zweitsprache durchzuführen. Außerdem habe ich mich schon wiederholt für eine Aufwertung der Erzieherinnen- und Erzieherausbildung ausgesprochen. In den Staaten, die bei PISA deutlich besser abgeschnitten haben als die Bundesrepublik Deutschland, genießen die Erzieherinnen und Erzieher eine Fachhochschulausbildung.
Unsinnig ist der Vorschlag, die Kinder nach Herkunftssprache zu separieren und zunächst in ihrer Muttersprache zu alphabetisieren. Diese Ghettobildung ist unsozial und widerspricht dem Integrationsgedanken. Außerdem ist die These, dass sich eine neue Sprache n u r über das System der Muttersprache erwerben ließe, auch sprachwissenschaftlich nicht haltbar. Um den Migrantenkindern in unserem Deutschland, in unserem Berlin eine Zukunftschance zu geben, müssen wir ihnen frühzeitig die Möglichkeit eröffnen, die deutsche Sprache zu lernen. Außerdem plädiert die SPD dafür, das Leseverständnis – auch mit mehr Personal – zu verbessern.
Dass eine multinationale Kita große Vorteile in sich birgt, wurde mir vorgestern bei einem Kitabesuch in Charlottenburg demonstriert. Die Erzieherinnen berichteten, dass diese Kinder das Deutsche als Verkehrssprache benutzen und ihre Herkunftssprachen miteinander vergleichen. Sie führen also bereits in frühem Alter das aus, was wir Sprachdidaktiker „language awareness“, Sprachbewusstheit, nennen und was in einsprachigen Gruppen erst mühsam erlernt werden muss. Dieser Sprachvergleich erleichtert ihnen später in der Schule auch den Erwerb einer oder mehrerer Fremdsprachen.
Damit die Eltern von Migrantenkindern stärker in den Dialog eingebunden werden können, müssen auch sie Gelegenheit bekommen, die deutsche Sprache zu erlernen. Dies geschieht bereits in den sogenannten Mütterkursen, Sprachkursen für Mütter nichtdeutscher Herkunftssprache, die an den Volkshochschulen und ähnlichen Einrichtungen angeboten werden. Diese Kurse erfreuen sich einer großen Beliebtheit, sie werden fortgesetzt, und ihre Zahl soll erhöht werden.
Auf der anderen Seite können und wollen wir aber die Muttersprache der Kinder nicht vernachlässigen. Wir wollen lediglich keine doppelte Halbsprachigkeit. Wir wollen hin zu einer echten Gleichberechtigung beider Sprachen.
So brauchen die Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache auch Ansprechpartner und Ansprechpartnerinnen in ihrer Muttersprache. Deshalb haben meine Kollegin Ülker Radziwill, selbst Migrantin, und ich eine Initiative gestartet. Wir wollen mit Hilfe
eines türkischen Senders die hier lebenden Migranten und Migrantinnen aufrufen, verstärkt in die Lehrberufe zu gehen, und ihnen dazu Hilfen anbieten. Auch da müssen wir ansetzen.
Wir müssen die Verzahnung von Schule und Jugendarbeit intensivieren. Wir müssen dafür sorgen, dass die deutsche Sprache schon verstärkt im Kindergarten und in der Grundschule unterrichtet wird, und wir müssen die Klassenfrequenzen in den sozialen Brennpunkten senken und mehr Ganztagsschulen einrichten. Das geht nicht von heute auf morgen, aber wir sind in Berlin auf dem richtigen Weg. Bildung wird Priorität behalten, und mit der vorschulischen Ausbildung geht es los. – Ich danke Ihnen!
Danke schön, Frau Kollegin! – Das Wort für die CDU hat nunmehr der Kollege Steuer. – Bitte schön, Herr Steuer!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir es ernst meinen und wollen, dass sich mehr Menschen in unserer Stadt für Kinder entscheiden, wenn wir eine kinderfreundliche Gesellschaft wollen, dann müssen wir erstens ein politisches Signal setzen und zweitens die richtigen Bedingungen dafür schaffen. Doch die rot-rote Politik hat es in kürzester Zeit geschafft, die Zukunft der Berliner Kitas aufs Spiel zu setzen, die Standards empfindlich abzusenken, die Erzieher und Lehrer zu demotivieren und die Eltern zu verängstigen. Das alles führt nicht zu einem kinderfreundlichen Klima in der Stadt, sondern verbreitet Pessimismus und ignoriert vor allem die notwendigen Umsteuerungen, die im schulischen und vorschulischen Bereich notwendig sind.
Mit gleich zwei Untersuchungen haben Sie es nun schwarz auf weiß auf den Tisch bekommen, nämlich mit der PISA-Studie und der „Bärenstark“-Untersuchung. Über die katastrophalen Ergebnisse – anders kann man das nicht bezeichnen – der PISA-Studie diskutieren wir nun schon seit Monaten. Alle bemühen sich zunächst, nach den Ursachen für die mangelhaften Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler zu suchen und keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Dieses an sich sinnvolle Herangehen hat Senator Böger nun allerdings bereits zum Ergebnis seines Hauses erklärt. Die Antwort auf die Frage nach der Reaktion aus der Senatsverwaltung für Bildung lautet: Wir haben unsere Mitarbeiter und die Lehrerinnen und Lehrer über die Ergebnisse der Studie umfassend informiert. – Ist das schon das Ergebnis?
Und was machen SPD und PDS im Abgeordnetenhaus? – Vor zwei Wochen hat die Koalition im Hauptausschuss den Titel für Folgekosten durch die PISA-Studie massiv gekürzt. Drei Tage später erklärte der Bildungssenator der verblüfften Öffentlichkeit, dass er nach dem Einverständnis für Nachtests aus Brüssel die PISA-Studie in Berlin nicht wiederholen wolle, weil er sich veralbert fühle. Und die Eckpunkte des Senats, Frau Tesch, müssen auch umgesetzt werden und nicht nur auf dem Papier stehen bleiben, wenn man PISA ernst nimmt.
Zu der „Veralberung“ des Senators: Ich finde, wir sollten die subjektiven Gefühle des Senators beiseite stellen, denn das Ergebnis der Nachuntersuchung, ob es nun Eingang in den Ländervergleich gefunden hätte oder nicht und ob es den Senator interessiert hätte oder nicht: Das Abgeordnetenhaus interessieren diese Ergebnisse. Ich finde, auch Sie sollten daran ein Interesse haben.
Die „Bärenstark“-Untersuchung hat nun in Berlin weitere Ursachenforschung betrieben, und das Ergebnis ist niederschmetternd für die Stadt. Zwei Drittel der Kinder in den Innenstadtbezirken brauchen besonderen Förderunterricht in
Deutsch. Dies ist keineswegs nur auf die Kinder nichtdeutscher Herkunft zu beziehen, nein, deutsche Kinder sprechen genauso schlecht Deutsch. Hier geht es nicht etwa darum, mal einen Artikel falsch zu gebrauchen. Dieser Test ist vorher bei Vierjährigen in den Außenstadtbezirken getestet worden, die hervorragende Ergebnisse erzielt haben und alle Fragen beantworten konnten.
Hatte die PISA-Studie Deutschland noch kurz vor Brasilien gesehen, bescheinigt uns die „Bärenstark“-Untersuchung, in Berlin nun einen Bildungsstand des letzten Slums von Rio de Janeiro zu haben. [Och! von der SPD]
Ja, so ist das Ergebnis! Wenn Sie das ignorieren, werden wir dort auch keine Veränderungen vornehmen können. – Der Sprachstand ist nicht etwa bei einer zufälligen Auswahl von Kindern kurz vor dem Schuleintritt erhoben worden, sondern ausschließlich in Kindertagesstätten. Die katastrophalen Ergebnisse schon während des Tests haben die Erzieherinnen und Erzieher wachgerüttelt. Ich selbst habe mir ein Bild von den Bemühungen der Pädagogen gemacht, die Sprachförderung bereits während des Tests zu intensivieren. Dies geht aber nur mit viel ehrenamtlichem Engagement und einer motivierten Kitaleitung.