Die Verabschiedung des Landesgleichberechtigungsgesetzes war ein Meilenstein auf diesem Weg. Erwachsen aus dem kritischen Dialog zwischen den Betroffenen und der Politik, hat es diesen intensiviert, den Blick auf die Probleme geschärft und für viele Bereiche durch das gesetzliche Gebot, Barrieren zu beseitigen und Diskriminierung zu verhindern, vielfach erstmalig überhaupt ein öffentliches Bewusstsein dafür geweckt. Stärker als früher wird deutlich, dass die Verwirklichung der Chancengleichheit in der täglichen Praxis ein langwieriger Prozess ist – ein Weg, auf dem es noch viele Hindernisse zu beseitigen gilt.
So fokussiert die fraktionsübergreifend formulierte Große Anfrage folgerichtig das breite Spektrum der Probleme auf die zentralen Bereiche Schule, Ausbildung und Arbeit und zugleich auf die Defizite bei der Umsetzung des Gesetzes.
Definiert man Behinderung nicht nur als gesundheitlichen Defekt, sondern als einen gravierenden Nachteil in der Leistungsgesellschaft, dann ist Integration mehr als durch medizinische Rehabilitation ermöglichte Teilnahme am so genannten normalen Leben, sondern dann muss die soziale Integration im Vordergrund stehen. Dass dieser Grundsatz in der Berliner Landespolitik in den letzten zehn Jahren ernst genommen wurde, zeigt die beachtliche Kontinuität in den erfolgreichen Bemühungen des Senats um berufliche Ausbildung und Integration in das Arbeitsleben.
Obwohl das Landesgleichberechtigungsgesetz dafür keine konkreten Festlegungen enthält, hat der Senat dies trotz der Haushaltssituation immer als prioritäre Aufgabe begriffen. Aktuelles Beispiel ist die Eröffnung einer neuen Behindertenwerkstatt im Bezirk Marzahn-Hellersdorf in der vergangenen Woche – also in einem ehemaligen Ostbezirk, wo der Nachholbedarf besonders groß ist. In Zukunft bieten hier die durch die rot-grüne Bundesregierung in Gang gesetzten Neuregelungen wie das Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter – das wurde schon erwähnt –, aber auch das SGB IX gute Chancen, auf dem in Berlin so erfolgreich eingeschlagenen Weg weiter zu kommen. Die ausdrückliche Berücksichtigung der Belange behinderter Frauen gilt es dabei besonders hervorzuheben.
Der Ausbau Berlins zur behindertengerechten Stadt: Hier ist seit den Leitlinien viel erreicht worden. Für die Mobilität von behinderten Menschen muss dabei das seit 20 Jahren bestehende Telebus-System erwähnt werden, das durch das Landesgleichberechtigungsgesetz nun als gesetzlicher Anspruch festgeschrieben wurde. Es konnte auch im letzten Haushaltsplan auf gleichem Niveau gesichert werden, und es ist in diesem Umfang und für einen so großen Nutzerkreis in der Bundesrepublik vorbildlich.
Trotzdem trifft im Hinblick auf die behindertengerechte Stadt auch nach In-Kraft-Treten des Landesgleichberechtigungsgesetzes immer noch Folgendes am stärksten zu: Behindert ist, wer behindert wird. – Das betrifft nicht nur den öffentlichen Personennahverkehr. Es ist die Summe der vielen kleinen Behinderungen, die leicht übersehen werden: Stufen an Eingängen, Podeste in Gaststätten, Poller im Straßenland oder Flatterbänder an Baustellen. – Diese Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Unsere Gespräche mit dem Landesbeauftragten, dem Landesbeirat und mit bezirklichen Behindertenbeiräten haben hierbei deutlich gemacht, dass die bloße Änderung von gesetzlichen Vorhaben noch lange nicht ausreicht.
Besonders markante Negativbeispiele sind auch aus meiner Sicht z. B. die Pläne für Anzahl und Anordnung der Rollstuhlfahrerplätze beim Umbau des Olympia-Stadions – meine diesbezügliche Kleine Anfrage vom Januar 2001 ist vielleicht auch aus diesem Grunde bis heute nicht beantwortet worden –
oder die Planungen für das Holocaust-Denkmal, wo der zu enge Stelenabstand und erhebliche Bodenabsenkungen es Rollstuhlfahrern unmöglich machen würden, sich im Stelenfeld überhaupt zu bewegen. Wir sind in diesem Zusammenhang für den Bereich Bauen und Verkehr auf eine Gesamtbilanz für die Stadt im nun zwar endlich beschlossenen, aber uns – wie gesagt – immer noch nicht zugänglichen Behindertenbericht des Senats gespannt. Auch der Verstößebericht des Landesbeauftragten, der heute ebenfalls vorliegen sollte, wird hierzu sicherlich detailliert Auskunft geben. Für die Quantifizierung und die qualitative Bewertung der Auswirkungen von rechtlichen Veränderungen z. B. im Bau- oder Gaststättenrecht können nicht immer allein der Landesbeirat oder freie Träger zuständig sein. Gesetzestext und Realität klaffen hier leider noch allzu oft auseinander.
Eine Bilanz des bisher Erreichten ist die Voraussetzung für planendes Handeln. Sie fällt übrigens für die ehemaligen Ostbezirke nicht ganz so schlecht aus, nicht zuletzt durch die Einflussnahme der dort schon seit längerem tätigen hauptamtlichen und gut ausgestatteten Behindertenbeauftragten.
Barrieren bestehen zuallerst in den Köpfen. Immer wieder wird der Kostenfaktor betont, wird durch Bauherren und Ordnungsbehörden Barrierefreiheit als nicht oder nur sehr schwer finanzierbar dargestellt. Doch schaut man genauer hin, dann ist letzten Endes das Gegenteil der Fall. In anderen Ländern – beispielsweise in Nordeuropa und den USA – hat man das schon seit langem erkannt. Die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage – Drucksache 14/5206 – hat zum Beispiel gezeigt, dass allein das Reiseaufkommen behinderter und mobilitätseingeschränkter Menschen in den Jahren 1996 bis 1998 6 Milliarden DM Umsatz gebracht hat. Barrierefreiheit bringt Gewinn, und das gilt nicht nur für das Bauen oder den Verkehr.
Barrierefrei müssen auch die Medien sein, zum Beispiel das Fernsehen. Der Einsatz von Gebärdensprachdolmetschern muss bei Bedarf problemlos möglich werden, nachdem die Gebärdensprache durch das Gesetz als gleichberechtigte Kommunikationsform anerkannt ist. Es müssen alle Behörden und Körperschaften im Land Berlin über das Internet auch für Blinde erreichbar sein. Hier appelliere ich ausdrücklich noch einmal an den SFB, seine ablehnende Haltung bezüglich der Einblendung von Gebärdensprachdolmetschern zum Beispiel in der „Abendschau“ zu überdenken.
Ich appelliere auch an den Präsidenten des Abgeordnetenhauses, die zugesagte Veränderung der Homepage des Abgeordnetenhauses endlich Wirklichkeit werden zu lassen.
Elektronische Kommunikationsmittel müssen auch für behinderte Studierende eine Selbstverständlichkeit sein. Die vom Landesbeauftragten zu Recht beanstandeten Richtlinien zum § 9 Hochschulgesetz sind auch in dieser Hinsicht nachzubessern.
Zum Schulgesetz: So lobenswert die Festschreibung des Vorrangs der gemeinsamen Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern im Entwurf des neuen Schulgesetzes ist, so muss es aus behindertenpolitischer Sicht doch in einigen Punkten korrigiert werden. Ich setze es als selbstverständlich voraus, dass ein neues Gesetz nicht hinter den in Artikel VII Landesgleichberechtigungsgesetz erfolgten Festlegungen zur Schule zurückbleiben darf.
Die sichtbaren Erfolge der Berliner Landespolitik bei der Integration behinderter Kinder in der Kita und der Grundschule müssen ihre Fortsetzung in der Oberstufe finden. Deshalb unterstützen wir nachdrücklich die Forderung von Herrn Senator Böger nach 60 zusätzlichen Lehrerstellen für die Integration in der Sekundarstufe, um den dringensten Bedarf zu decken.
Erfolgreich begonnene Integration darf aber auch nicht an formalen Weisungen wie denen des Landesschulamtes zur Gesamtschule – dass nur die Hälfte aller Züge als Integrationsklassen bestehen darf, obwohl Personal und Sachmittel für mehr Züge vorhanden wären, wie in Kreuzberg geschehen – scheitern, und sie darf schon gar nicht scheitern an sogenannten „schutzwürdigen Belangen“ gesunder Kinder.
Ausgrenzung ist für behinderte Kinder oft belastender als die Behinderung selbst – ich weiß, wovon ich spreche. Ganz abgesehen davon, dass die gesetzlich vorgeschriebene Beteiligung des Landesbehindertenbeauftragten hier wie bei anderen Gesetzes- und Verordnungsvorhaben zu einem möglichst sehr
frühen Zeitpunkt nachträgliche Auseinandersetzungen und Missverständnisse ersparen würde, so stellt sich hier noch eine andere Frage: Wird der Sinn der gemeinsamen Erziehung von Kindern mit und ohne Handicap durch solche Formulierungen nicht auf den Kopf gestellt? Geht es hier nicht vielmehr auch um die so oft zitierte Werteerziehung? – Werte haben nur einen Sinn, wenn sie gelebt werden.
Hilfsbereitschaft, Toleranz, Verständnis für den anderen, davor ist niemand zu schützen, sondern das sind Werte, die in unserer Gesellschaft leider nicht gebührend beachtet werden und die es gerade in der Schule zu fördern gilt.
Die Antwort des Senats auf die Große Anfrage und die uns gegenüber vom Landesbehindertenbeirat in vielen Gesprächen dargelegten Probleme machen etwas ganz deutlich: In den Bereichen, in denen die Behindertenpolitik traditionell angesiedelt ist, wie zum Beispiel in der gesundheitlichen und sozialen Rehabilitation von der Frühförderung bis hin zum Arbeitsleben oder bei der Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen mit Behinderung, dort sind die Erfolge am größten. Die meisten Defizite entstehen immer noch da, wo althergebrachtes Denken den Blick verstellt. Der Paradigmenwechsel der Berliner Behindertenpolitik – und zwar in der Verantwortung aller Fachbereiche – ist noch lange nicht vollendet. Aber er ist auf den Weg gebracht, einen mühevollen Weg, „denn es ist in vielen Dingen eine schlimme Sache mit der Gewohnheit: die macht, dass man Unrecht für Recht und Irrtum für Wahrheit hält“ – so Georg Christoph Lichtenberg.
Auch wir selbst, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind nicht ganz frei davon. Auch heute wieder nehmen die sozial- bzw. behindertenpolitischen Sprecherinnen der Fraktionen das Wort, beantwortet entsprechend der traditionellen Aufgabenverteilung im Senat Frau Senatorin Schöttler die Große Anfrage. Begreifen wir jedoch Behindertenpolitik wirklich als Querschnittsaufgabe, könnte ich mir vorstellen, dass auch der Regierende Bürgermeister das nächste Mal aus diesem Anlass das Wort nimmt.
Vielleicht mit einem ersten Fazit des an dieser Stelle am 12. Oktober 2000 zugesagten Beitritt Berlins zur Deklaration von Barcelona: Die Stadt und ihre behinderten Bewohner, die ihr Leben ohne Benachteiligung meisten wollen. Lassen Sie uns gemeinsam an verbesserten Möglichkeiten dafür arbeiten – und das nicht nur anlässlich des Protesttages. – Danke!
Vielen Dank Frau Abgeordnete! Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort die Frau Abgeordnete Jantzen!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich möchte heute besonders die Gäste im Publikum begrüßen, die nicht immer und überall selbstverständlich an Veranstaltungen – auch nicht an politischen – teilnehmen können, die Menschen mit Behinderungen, die sich seit vielen Jahren für die Gleichstellung der Menschen mit Behinderungen einsetzen.
Auf Ihre Anregung findet heute diese Debatte statt, darauf wurde bereits von den einzelnen Rednerinnen hingewiesen. Es war allen Fraktionen ein Anliegen, dass nicht einzelne Fraktionen Anträge, Anfragen stellen, sondern dass wir gemeinsam eine Große Anfrage einbringen, um deutlich zu machen, dass uns das Thema wichtig ist.
Vielleicht noch kurz zu Frau Sarantis-Aridas: Auch wenn ich als sozialpolitische Sprecherin hier stehe – ich bin eigentlich ganz stolz darauf –, heißt das für meine Fraktion nicht, dass wir
Behindertenpolitik nicht als Querschnittspolitik verstehen. Ich erinnere an Herrn Cramer, der sich für jeden behindertengerechten Zugang in der U-Bahn seit vielen Jahren einsetzt, Herrn Mutlu, der beim Schulgesetz für die Gleichstellung kämpft und Frau Oesterheld und andere, die dies in der Bau- und Stadtplanung tun. Insofern finde ich es auch nicht schlimm, dass ich jetzt sprechen darf.
Ich freue mich, das heute wirklich so viele Menschen mit Rollstühlen in den Plenarsaal hineinkommen durften. Wir wissen alle, das Haus ist behindertengerecht restauriert worden, dennoch sind manchmal die Rollstuhlplätze beschränkt. Aber auf Anfrage können Gebärdensprachdolmetscher bestellt werden, im Fahrstuhl sagt uns allen eine freundliche Stimme, in welcher Etage wir uns befinden und ob die Tür auf- oder zugeht. Blinde können die Etagenangaben ertasten und sich relativ selbstständig bewegen. Wir erleben heute hier, was nach Ansicht meiner Fraktion Alltag in allen Lebensbereichen sein sollte. Alltag in Rathäusern, in Tagungszentren, Opernhäusern, Kinos, Theatern und allen Freizeiteinrichtungen für Jung und Alt. Menschen mit und ohne Behinderungen sollen gleichberechtigt am politischen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichem Leben teilhaben.
Ein selbstbestimmtes Leben und die selbstständige Teilhabe an allen Lebensbereichen ist das Ziel unserer Gleichstellungspolitik für Menschen mit Behinderungen, dafür werden Bündnis 90/ Die Grünen auch bei knappen Kassen kämpfen.
Die Realität sieht trotz der von der Senatorin aufgezeigten Erfolge in Berlin leider immer noch anders aus. Für Menschen mit Behinderungen beginnt und endet leider die Gleichstellung oft im Alltag. Die kleine mehrfachbehinderte Britta steht im Rollstuhl am Rande des Spielplatzes und schaut den anderen Kindern zu, weil der Zugang zur Sandgrube nicht so ausgerüstet ist, dass sie dorthin gerollt werden könnte. Für Frank, ein Kind mit Down-Syndrom, entscheidet möglicherweise das Los nach erfolgreicher Integration in Kita und Grundschule, dass er zur Sonderschule wechseln muss. Der blinde Herr Jedermann steht hilflos an der mit Tastrillen behindertengerecht ausgestatteten Kreuzung, weil Autofahrer einfach nicht daran gedacht hatten, dass sie hier nicht parken sollten. Ein spontan beschlossener Besuch einer Kneipe abends mit einer Freundin im Rollstuhl wird zur abenteuerlichen und frustrierenden Stadtrallye.
„Behindert ist man nicht, behindert wird man.“ – Dieser Slogan der Behindertenbewegung ist leider noch immer allzu wahr. Obwohl das Benachteiligungsverbot Verfassungsrang hat, werden Menschen nach wie vor auf Grund ihrer Behinderung an der selbstbestimmten und freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit und gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft gehindert. Im Alltag müssen behinderte Menschen diverse Vorurteile, Bevormundungen und Ausgrenzungen erleben, gegen die sie sich nicht wehren können. Zwar konnten in den letzten Jahren wie im Nahverkehr zahlreiche Barrieren in Berlin abgebaut werden – Frau Schöttler hat darüber ausführlich berichtet –, aber trotzdem versperren viele Barrieren behinderten Menschen immer noch den Weg, auch zu kulturellen und Freizeitangeboten. Durch einen Beschluss dieses Hauses besteht die Gefahr, dass gerade in U- und S-Bahnhöfen neue Barrieren für Blinde, rollstuhlgebundene und gehbehinderte Menschen entstehen. Das dürfen wir nicht zulassen!
Gleichwertigen Lebensbedingungen für Menschen mit und ohne Behinderung sind wir, Frau Schöttler, allenfalls einige Schritte näher gekommen, erreicht haben wir sie noch nicht. Das vor zwei Jahren in diesem Haus verabschiedete Landesgleichberechtigungsgesetz ist aber in der Tat ein wichtiger und großer Schritt zur Gleichstellung der Menschen mit und ohne Behinderung in Berlin. – Ich möchte die Gelegenheit hier nutzen, für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen all jenen zu danken, die sich jahrelang in Berlin für ein solches Gesetz eingesetzt haben, die sich an der Erarbeitung und an den vielen Diskussionen hier