Der Ältestenrat empfiehlt eine Redezeit von bis zu fünf Minuten pro Fraktion. Es beginnt die Fraktion der PDS. Das Wort hat der Abgeordnete Brauer. Herr Brauer, Sie haben das Wort!
Vielen Dank. Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Beschluss über die Beteiligung des Landes Berlin am Entschädigungsfonds für ehemalige NS
Zwangsarbeiterinnen und NS-Zwangsarbeiter vom 9. März gehört zu den Sternstunden der 14. Legislaturperiode dieses Hauses. Berlin hat sich zu seiner moralischen und politischen Verantwortung bekannt. Es ist gewillt, sich angemessen mit finanziellen Leistungen an diesem Entschädigungsfonds zu beteiligen. Damit wurde endlich der Tatsache Rechnung getragen, dass auch und gerade in der ehemaligen Reichshauptstadt Zwangsarbeit in Größenordnungen ausgenutzt wurde, nicht nur in privaten Unternehmen, sondern nicht zuletzt auch in Einrichtungen und Eigenbetrieben der Stadt Berlin selbst.
Die mit der Drucksache 14/155 vorliegende Mitteilung - zur Kenntnisnahme - ist nun allerdings alles andere als ein Dokument ausreichenden Engagements des Senats zur Umsetzung des parlamentarischen Willens. Seitenlang werden uns die Schwierigkeiten dargelegt, die konkreten Berliner Unternehmen zu ermitteln und zu benennen. Verwiesen wird auf entsprechende Aktivitäten des American Jewish Committee, die allerdings vom AJC vorgelegte Liste stammt vom 27. Januar dieses Jahres und war teilweise lückenhaft. Den aktuellen Erkenntnisstand hat der Senat offensichtlich nicht berücksichtigt. Dabei wäre das ganz einfach. Die Industrie- und Handelskammer hat den aktuellen Beitrittsstand der deutschen Unternehmen zur Stiftungsinitiative im Internet veröffentlicht. Diese Daten brauchte man nur zu vergleichen mit dem hoffentlich auch beim Wirtschaftssenat existenten aktuellen Berliner Unternehmensverzeichnis. Man käme zu einem erschreckenden Ergebnis, nämlich dass von knapp 7 500 Berliner Unternehmen bis Ende Juni lediglich etwas über 100 Firmen der Initiative beigetreten sind. Günter Grass und andere bewerteten dies heute als peinlich, ich nenne dies einen beträchtlichen Skandal. Und es ist nachdrücklich zu betonen: ln der Verantwortung steht die gesamte deutsche Wirtschaft, in der Verantwortung stehen auch die Nachfolgebetriebe der ehemaligen kommunalen Unternehmen.
schluss -, "entsprechend auf die Unternehmen einzuwirken." Was kann er darüber berichten? Jetzt zitiere ich die Mitteilung: "Die Senatsverwaltung für Finanzen hat festgestellt, dass die Industrie- und Handelskammer wiederholt tätig geworden ist."Eine tolle Aussage. Wenigstens hat der Wirtschaftssenator noch die BVG, die Behala, die BBB und die BSR von der Existenz dieser Initiative in Kenntnis gesetzt, das übrigens zu einem Zeitpunkt, nach dem zwei dieser Unternehmen bereits ihre Beitrittsbereitschaft erklärt hatten. Und in der Vorlage an das Abgeordnetenhaus fordert der Senat nun die Berliner Unternehmen auf, "im Rahmen ihrer Möglichkeiten" -eine sehr elegante Einschränkung. Herr Senator Kurth- die Stiftungsinitiative zu unterstützen. ln anderer Beziehung waren Sie auch gegenüber der Berliner Wirtschaft schon energischer. Wir erwarten entschieden nachdrücklichere Schritte von Ihnen.
Der Senat packt dieses Thema offensichtlich äußerst ungern an. Im Antworttext zu Kleinen Anfrage Nr. 684 der Abgeordneten Dr. Lötzsch erklärt Staatssekretär Holzinger mehrfach, dass das Land Berlin für die Umsetzung des zu erwartenden Gesetzes nicht zuständig sei. Angesichts der Tatsache, dass in Berlin wenigstens 360 Firmen, Ämter und Behörden Nutznießer von NS-Sklavenarbeit waren, ist eine solche Äußerung des Staatssekretärs eine ungeheuerliche Blasphemie und eine nachträgliche Verhöhnung der Opfer dieses Terrorsystems. Das Land Berlin und seine Einrichtungen sind sehr wohl zuständig. Und hier sei mir der Hinweis gestattet, dass die Verwirklichung so genannter Zuständigkeiten schon bei vermeintlichen Kleinigkeiten beginnt. Das Abgeordnetenhaus forderte den Senat auf, die in seiner Verantwortung stehenden Archive z. B. zu beauftragen, die Bundesstiftung bei entsprechenden Recherchen zu unterstützen. Und was geschieht wirklich? Anfragen werden beantwortet. mehr nicht. Es ist ein Gebot der Stunde, denken wir, dass das Landesarchiv aus eigener Initiative die konkreten Namenslisten recherchiert und der Bundesstiftung zur Verfügung stellt. Mit dem gegenwärtigen Mitarbeiterstand ist dies nur schwer zu realisieren. Aber was hindert den Senat eigentlich. für diese Aufgabe ausreichend qualifiziertes Personal zeitlich befristet zur Verfügung zu stellen?
(A) Uns bleibt nur festzustellen, dass der Senat von Berlin mit einem ziemlichen politischen Unwillen an die Realisierung des Abgeordnetenhausbeschlusses herangeht und durch das berüchtigte Aussitzen die öffentliche Debatte über dieses für manchen in dieser Stadt nach wie vor unliebsame Thema möglichst handlungslos überstehen möchte. Es ist an der Zeit, dass der Landesvorsitzende der größten christlichen Partei dieser Stadt, so ganz nebenbei ist er noch Regierender Bürgermeister,
- Es macht mitunter den Eindruck, ganz nebenbei. - sich beispielsweise das rasche Reagieren der Kirchen und ihrer Einrichtungen auf jüngste Erkenntnisse über die Verstrickungen eben auch kirchlicher Einrichtungen zum Beispiel nimmt und seinerseits aktiv wird. Herr Diepgen sollte weniger beredt schweigen. sandem desto deutlicher handeln. Er möge sich bitte nicht an der skandalösen und menschenverachtenden Position des Bundesfinanzministeriums orientieren:
fen, um hauptsächlich Sammelklagen wie denen aus den USA zu begegnen und den damit verbunden drohenden Imageverlusten
auf dem dortigen und weltweiten Markt abzuwenden und wirtschaftliche Sanktionen in Form von Lizenzentzug und Boykottaufrufen zu vermeiden". Das war nicht Absicht dieses Hauses als
Motivation. Das sollte sie auch nicht werden. Wir bitten den Senat dringlich, aktiver zu werden. - Vielen Dank!
[Beifall bei der POS[ Vizepräsident Dr. Luther: Vielen Dank Herr Abgeordneter! (B) Für die Fraktion der CDU hat jetzt der Abgeordnete Goetze das Wort! Goetze CDU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist ein ungeeignetes Mittel und ein ungeeigneter Tagesordnungspunkt, auf der Grundlage dieses Berichts eine Verantwortung des Senats für die Beteiligung der Wirtschaft zu konstruieren. Wir sind vielmehr der Meinung, dass die Wirtschaft bei dieser Angelegenheit- die sie ureigensangeht- das, was sie immer auch in anderer Hinsicht erklärt hat - die Übernahme von Eigenverantwortung - in der Tat auch einlösen muss. Ich gebe allen Recht. die noch dazu Stellung nehmen werden, dass die derzeitige bundesweite Beteiligung von etwa 1 ,5 %der möglichen 200 000 Unternehmen eine äußerst blamable Ange- legenheit ist, [Vereinzelter Beifall bei den Grünen]
wenn man zudem noch bedenkt. dass die steuerliche Absetzbarkeit für diese Beiträge auch noch gegeben ist.
lichen, dass der Hinweis in der Vorlage des Senats. dass sich die Unternehmen im Rahmen ihrer Möglichkeiten beteiligen sollen,
auch davor schützen soll, dass Unternehmen, die sich hart am Rand der Leistungsfähigkeit befinden, Unternehmen, die über keinerlei Rücklagen oder Gewinne verfügen, in diese Initiative nicht hineingezwungen werden können. weil ihre Existenz sonst massiv gefährdet wäre. Sonstige Überlegungen, die hinsichtlich eines Einstieges in die Initiative noch angestellt werden, will ich an dieser Stelle nicht weiter ausführen.
Zunächst muss festgestellt werden, dass die Initiative, die hier von dem Verhandlungsführer Graf Lambsdotff ausverhandelt worden ist, in vielerlei Hinsicht einmalig ist. Zum einen hat sich die Wirtschaft zu ihrer Verantwortung hälftig bekannt, genauso wie sich auch Bund und Länder- da ist auch der Beitrag Berlins enthalten - zu ihrer Verantwortung bekannt haben. Wir haben zudem die einzigartige Situation, dass die Vereinigten Staaten
von Amerika weitreichende Erklärungen dahin gehend abgege(C) ben haben. dass sie ihre eigentlich unbeeinflussbare Rechtsprechung, ihr Gerichtssystem, orientieren und anweisen werden, für Rechtssicherheit zu sorgen und die noch rund 70 anhängenden Massenklagen nicht weiter zu verfolgen. Das ist ein Vorgang, der bei uns vermutlich zu lautem Wehgeschrei über Gewaltenteilung geführt hätte, der von den Vereinigten Staaten, von der Regierung, allerdings akzeptiert worden ist.
Wir haben eine Situation, in der mit dem Ergebnis über die Entschädigung der Betroffenen hinaus auch etwas für die Zukunft getan wird. 7 % des Stiftungsvolumens, rund 1 Milliarde DM, werden in den Zukunftsfonds der Initiative eingezahlt und sollen in eine Richtung wirken, die von den meisten von uns aus gesehen in weiter Ferne liegt und die in diesem Zukunftsfonds Strukturen schaffen soll, um die geschichtliche und wissenschaftliche Aufarbeitung und das Gedenken zu befördern. Das Ganze unter dem Gesichtspunkt betrachtet. dass wir uns nicht zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland mit dem materiellen Ausgleich von NS-Unrecht beschäftigten, ist dies ein weiterer - nicht der erste - guter Schritt, nicht um die materiellen Folgen auszugleichen- das ist, so glaube ich, unmöglich -. sondern um die emotionalen Folgen und um die Belastungen, die jeder einzelne als Zwangsarbeiter oder demjenigen, dem Unrecht während des Nationalsozialismus widerfahren ist, zumindest pauschal abzugelten.
Deutschland hat über die vergangenen Jahrzehnte rund 104 Milliarden DM an Ausgleichs- und Entschädigungsmaßnahmen aufgewandt. Nach heutiger Kaufkraft sind dies etwa 200 Milliarden DM. ln einer Größenordnung von rund 20 Milliarden DM sind solche Zahlungen noch zu leisten. Mit 11 westlichen Staaten hat es schon vor der Vereinigung Globalabkommen zu solchen Wiedergutmachungs- und Entschädigungsleistungen gegeben: Im 2+4-Vertrag sind Stiftungen in Warschau, Moskau, Kiew und Minsk vereinbart worden; es gibt den deutsch-tschechischen Zukunftsfonds. Insgesamt sind diese mit einem Volumen von 1 ,5 (D) Milliarden DM ausgestattet.
Unter diesen Gesichtspunkten sollte man diese Stiftungsinitiative wirklich auch anerkennen und würdigen und sollte das Engagement der Firmen die sich bisher beteiligt haben, auch deutlich anerkennen und deren Einsatz zum Beispiel nehmen, dass viele andere, auch Berliner Firmen, nachziehen und dazu beitragen, dass die 5 Milliarden DM von der deutschen Wirtschaft erbracht werden. Es ist ein Gebot der Stunde, dass sich möglichst viele daran beteiligen, was den einzelnen Anteil auch entsprechend reduzieren könnte. Ich bin zuversichtlich, dass in den nächsten Monaten insgesamt der Betrag auch erbracht wird. Vielen
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Brauer! Mir war eigentlich nicht klar, weshalb die POS noch einmal über diese Mitteilung zur Kenntnisnahme debattieren will. Mir ist es nach ihrem Redebeitrag auch nicht so recht klar geworden, Herr Kollege Brauer! Sie sind Mitglied der Partei des demokratischen Sozialismus, fest auf dem Boden des Materialismus stehend - nach wie vor -. Erstens: Sie können doch Herrn Eichel nur Recht geben, wenn er feststellt. dass der Grund, weshalb große Teile der deutschen Wirtschaft das erste Mal so lange nach Kriegsende einsehen, dass auch sie materiell eine Leistung bringen müssen, schlicht darin liegt, dass ihnen in den USA Anwälte aufdie Füße getreten sind. Es gibt dabei überhaupt keine hehren Motive, sondern konkrete Befürchtungen materieller Nachteile, die sie dort erleiden könnten. Darum wurde doch auch bis zum letzten Tag verhandelt und war dieser Kompromiss bis zum letzten Tag in Frage gestellt. Herr Eichel hat einen geradezu hellsichtigen Rückfall in seine Jusotage getan, als er diese Äußerung vortrug. Das war der Grund, weshalb die deutsche Wirtschaft nun endlich bereit war, etwas zu leisten.
bar so schwer fällt, ist stark zu kritisieren, hat mit diesem Berliner Senat aber herzlich wenig zu tun. Kommt denn alles Gute in Ihren Erwartungen vom Senat von Berlin? Ich finde es viel bemerkens
werter, dass es die Industrie- und Handelskammer war, die über 7 000 Firmen in Berlin angeschrieben hat. Sie wussten wohl am Besten, wer alles dabei war und wer Zwangsarbeiter beschäftigt hat. Auch hier muss man sehen, dass das, was in der Gesellschaft geleistet wird, besser insbesondere dann geleistet wird. wenn Tageszeitungen nachfragen und darüber sogar eine Serie schreiben, ob eine Beteiligung erfolgt oder nicht. Das ist mir hundertmal lieber, als hier den - wie wir wissen - sehr schwach
Drittens, Herr Kollege Brauer, gibt es eine hälftige Tragung durch die deutsche Wirtschaft gar nicht. Wenn man als Materia
erlaubt wird, an Abschreibungen von ihrer Steuerlast zu reduzieren, nämlich die Hälfte. Somit kommen wir zu dem Resultat. dass von der Unterstützungssumme die deutsche Industrie 25 Prozent zahlen wird. die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler 75 Prozent. Säße ich im Bundestag in der Opposition und säße hier in der Opposition,
dann würde ich das geißeln. - Ja, Herr Landowsky, hier tue ich es, u~d das ist mir sehr lieb. bei diesem Senat in der Opposition zu se1n.
Aber ich möchte deshalb diese Initiative der Bundesregierung -was Ihre Bundesregierung unter Kohl nie geschafft hat- und das vorliegende Ergebnis nicht kritisieren. Für uns ist das Entscheidende - das darf auch hier in der Debatte nicht zerredet werden -, dass die Gelder endlich fließen, dass die Opfer, die
Überlebenden nunmehr endlich eine Leistung erhalten. Lange genug hat das gedauert, und das steht nun im Vordergrund. Deswegen begrüßen wir auch, dass es geschieht, bei allen Mängeln
Schließlich ist es auch positiv, dass Günter Grass und andere ein Appell an die Bürger gerichtet haben, sich als Privatpersonen daran zu beteiligen, nicht, um anstelle der Industrie diesen Fonds aufzufüllen, sondern um zusätzliche Leistungen dazu zu erbringen und damit einzugestehen - das muss man auch ernst nehmen -, dass der Einsatz der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in den Kriegsjahren ein umfassender. in allen Lebensbe
reich gewesen ist. von der Landwirtschaft - auch der Berliner Stadtgüter - bis zur Suche nach Bomben und zur Beseitigung von Bombenschäden, bis hin- wie wir jetzt wissen -zur Frage der Friedhöfe, zur Frage der Bestattungen. Auch in Kleinbetrie
ben, auch in Kleinstbetrieben waren Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter eingesetzt. Die deutsche Bevölkerung wusste dies, sie sah es, und die wenigsten waren bereit, auch nur kleinste Gesten - sei es, weil sie verblendet waren, sei es. weil sie sich nicht trauten - der Mitmenschlichkeit gegenüber diesen ausgemergelten und unter erbarmungswürdigen Zuständen gehaltenen Menschen zu machen. Es gibt also auch hier insgesamt- wie Ralph Giordano gesagt hat- eine Schuld der Deutschen, eine "zweite Schuld der Deutschen", solange zugewartet zu haben, bis es endlich materielle Entschädigungsleistungen gibt.
Regelung: "Ende gut, alles gut!", wir sagen vielmehr, dass dies erst der Anfang sein muss. Aber es ist ein richtiger Anfang, ein Anfang auch darin, auch diese Lücke der bis unterbliebenen Entschädigung der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter endlich zu schließen.