Protocol of the Session on March 1, 2017

Drittens - und das ist das Schlimmste: Wir haben die Dörfer entmachtet. Die Dörfer haben keinen eigenen Haushalt mehr. Wer früher Ortsbürgermeister war, ist jetzt nur noch Ortsvor steher ohne Rechte.

(Wichmann [CDU]: Ohne alles!)

Das heißt, wir haben dem ländlichen Raum ein gutes Stück weit die Fähigkeit genommen, über sich selbst zu bestimmen. Wir haben das 2003 getan, das ist lange her. Aber seitdem ist die Nutzung des ländlichen Raums so intensiv geworden wie nie zuvor. Wir haben nicht nur die Agrarindustrie, wir haben die Erneuerbaren, wir haben den Naturschutz, wir haben den Naturtourismus: Der ländliche Raum wird in Anspruch genom men wie nie zuvor, und die Mit- bzw. die Selbstbestimmung ist so gering wie nie zuvor. Dass da eine Kluft entsteht und das zu Politikverdrossenheit führt, liegt relativ nah.

Wenn die Antwort auf die Ausgangsfrage - Haben unsere Dör fer eine Zukunft? - „Ja“ sein soll, müssen wir also etwas tun. Ich will nicht die Gemeindegebietsreform von 2003 zurückdre hen. Aber wir müssen den Dörfern wieder mehr Rechte geben.

(Beifall B90/GRÜNE sowie der Abgeordneten Mächtig [DIE LINKE] und Wichmann [CDU])

Dazu haben wir in unserem Antrag von Grünen und CDU eini ge Vorschläge unterbreitet. Ich will drei davon hervorheben.

Der erste und wichtigste Vorschlag ist: Lernen wir, überhaupt wieder in der Kategorie „Dorf“ zu denken! Ein Dorf ist kein Ortsteil. Ein Ortsteil ist eine administrative Einheit, ein Dorf ist doch viel mehr. Das wissen wir auch, aber wir denken politisch nicht so, wir nehmen die Alltagswirklichkeit der Menschen da bei nicht auf.

Das ist eine Reise, und wir sind da schon ein gutes Stück vor angekommen. Das zeigt auch die Diskussion in der Enquete kommission. Mir geht da immer das Herz auf, wenn der Vorsit zende, Herr Roick, mehr Rechte für die Dörfer einfordert oder wenn Herr Wichmann vor irgendeiner Kamera wieder die Lob by für die Dörfer fordert. Da sind wir ein Stück weitergekom men. Mit dem Antrag zeigen wir vielleicht auch, dass Grüne und CDU da ein bisschen weiter sind als der Rest - aber gut.

Das müssen wir machen. Dazu müssen wir auch die Landesre gierung wieder ermächtigen, die Dörfer in den Blick zu nehmen, überhaupt Daten zu erfassen und eine Definition zu haben.

Zweitens: Wir müssen vor allem die Dörfer ermächtigen, wie der mehr über sich selbst zu bestimmen.

(Beifall des Abgeordneten Jung [AfD])

Im Leitbeschluss zur Kreisgebietsreform sind dazu schon ein paar Sachen enthalten. Nicht alles davon ist überzeugend, eini ge Dinge schon. Vor allem aber ist das nicht vollständig. Wir machen in unserem Antrag ein paar Vorschläge, was noch dazu kommen soll - beispielsweise: Wenn ein Dorf, das zu einer Stadt gehört, als Dorf der AG „Historische Ortskerne“ beitreten will, sagt die Stadt: „Das ist uns doch egal! Wir sind doch kein Ort, wir wollen keine AG ‚Historische Ortskerne‘“. Das Dorf aber kann nicht beitreten, dazu besteht keine Möglichkeit. Sol che Dinge müssen die Dörfer in Zukunft wieder tun können.

Drittens: Diese Reise, die Dörfer politisch wieder zu behan deln, können wir nicht alleine unternehmen - das müssen wir mit den Dörfern gemeinsam tun, auf Augenhöhe. Deswegen bitte ich Sie - das ist ein weiterer Punkt unseres Antrags -, zu prüfen, wie wir die Dorfbewegung in Ihrem Projekt unterstüt zen können, ein Parlament der Dörfer in Brandenburg zu schaf fen. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Wir entscheiden nicht, ob es das geben wird oder nicht. Ich prophezeie, dass es das geben wird. Das gibt es in vielen anderen Ländern - in Finnland und Schweden beispielsweise. Da treffen sich die Menschen aus den Dörfern einmal im Jahr mit den Abgeordne ten, Ministern usw. und reden auf Augenhöhe. Ich denke, das wird es auch in Brandenburg geben. Die Frage ist: Wie stellen wir uns dazu? Unterstützen wir das? Verhalten wir uns neutral? Oder kritisieren wir das?

Das alles müssen wir tun. Deswegen als Fazit, liebe Kollegin nen und Kollegen: Lassen Sie uns die Dörfer wieder in den Blick nehmen! Holen wir das Dorf wieder in die Politik zurück und lernen wir wieder, dass ein Dorf mehr ist als ein Ortsteil. Wenn die Antwort auf die Ausgangsfrage, ob Dörfer im 21. Jahrhundert in Brandenburg eine Zukunft haben, „Ja“ sein soll, müssen wir alle gemeinsam ihnen eine geben. Daher bitte ich um Zustimmung zu unserem Antrag. - Vielen Dank.

(Beifall B90/GRÜNE und CDU sowie der Abgeordneten Schülzke [BVB/FREIE WÄHLER Gruppe)

Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion spricht der Abgeordnete Folgart.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Die Große Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit dem Titel „Zukunft der Dörfer“ und die entsprechende Ant wort der Landesregierung liegen Ihnen allen vor. Einen Satz aus der Anfrage der Fraktion der Grünen möchte ich eingangs gern zitieren:

„Das Flächenland Brandenburg definiert sich in hohem Maße über den Zustand seiner Dörfer“.

Herr Raschke hat darüber gerade auch ausführlich gesprochen. Eine Antwort der Landesregierung lautet:

„Um ihre nachhaltige Entwicklung zu stärken, sind ge nauere Informationen über ihre derzeitige Lage, ihre Rol le in der Landespolitik und ihre Entwicklungschancen nötig.“

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir dazu eine Vorbemerkung: Derzeit arbeitet die Enquetekommissi on 6/1 intensiv an einer Analyse und Bewertung der Entwick lungspotenziale des ländlichen Raums, und die Arbeit der Kommission ist eine gute - das will ich an dieser Stelle bestäti gen, das hat auch Herr Raschke schon erwähnt.

Für Ende dieses Jahres ist der Zwischenbericht dazu geplant; er ist sogar vorgeschrieben. Ende 2018 soll der Abschlussbericht vorliegen. Die Arbeit der Kommission kommt insgesamt gut voran und ermöglicht allen Teilnehmern - und ich sage es noch einmal: allen Teilnehmern -, sich zu den verschiedenen Politik feldern ein sehr differenziertes Bild zu machen.

Die Kolleginnen und Kollegen Abgeordneten von BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN arbeiten in der Enquetekommission mit; sie arbeiten gut mit. Dass wir heute trotzdem eine detail lierte Befassung zum Thema „ländlicher Raum“ vorliegen ha ben, darf - das möchte ich ausdrücklich sagen - etwas verwun dern. Aus meiner Sicht wird hier eine Parallelbaustelle aufge macht, die wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht unbedingt ge braucht hätten. Auch die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN sollte meiner Ansicht nach darauf abheben, sparsam mit den nur begrenzt zur Verfügung stehenden Arbeitsressourcen des öffentlichen Dienstes umzugehen.

Damit komme ich zum eigentlichen Thema. Was wissen wir über die Megatrends unserer Regionen? Die vorliegenden Mo delle weisen uns bis ins Jahr 2030. Danach wird Berlins Ein wohnerzahl um 10 % wachsen, das Berliner Umland wird um mehr als 5 % wachsen. Die Einwohnerzahlen in den entlege nen Gebieten - dem sogenannten „weiteren Metropolenraum“ - werden in der Summe abnehmen, und zwar um deutlich mehr als 10 %. Außerdem werden wir älter.

(Zurufe: Ach! Oh!)

Im Ergebnis dieser Entwicklungen werden Berlin und Bran denburg im Jahr 2030 fast 6 Millionen Menschen eine Heimat bieten.

Die harten Fakten für den ländlichen Raum, für die Dörfer, lau ten wie folgt: Die Abwanderung junger Menschen aus vielen Dörfern ist Realität. Damit verbunden sind Überalterung und der Verlust an dörflicher Identität und Wirtschaftskraft. Als Mitglied der Enquetekommission sage ich jedoch: Wir dürfen es nicht bei diesen pauschalen Bewertungen belassen. Ent wicklungen können sich nämlich auch umkehren.

Inzwischen gibt es eine ganze Reihe positiver Beispiele, von denen wir uns in der Enquetekommission bereits überzeugen konnten. Dazu gehört auch die Gemeinde Schönwalde, lieber Benjamin Raschke. Auch ich war sehr angetan von dem, was wir dort erlebt haben. Das ist ein Ort, der lebt, ein Dorf, das lebt. Nicht nur dieses Beispiel möchte ich hier erwähnen, son dern auch die anschaulichen Informationen, die wir uns in Pin now in der Uckermark oder auch in Borkheide in PotsdamMittelmark haben holen können, zeigen sehr positive Entwick lungen auf: wachsende Geburtenzahlen, Zuzug junger Famili en und Wiederkehrer, die in die Dörfer zurück wollen.

(Beifall SPD und BVB/FREIE WÄHLER Gruppe)

Auch wenn für den Begriff „Dorf“ eine formale Definition fehlt, können wir doch einige Punkte herausstellen, die das Dorf zu etwas Besonderem machen. Viele Dörfer haben in der Tat funktionierende Dorfgemeinschaften, die zum Teil ein un glaubliches Leistungspotenzial entfalten. Durch ehrenamtliche Arbeit bleiben Gemeindevertretungen, Sport- und Kulturverei ne, Feuerwehren und auch Kirchen lebendig. Viele erhaltens werte Wohnhäuser und Kirchen sind nur durch engagierte Menschen zu einem neuen Leben erweckt worden.

Dank der LEADER-Projekte werden auch in den nächsten Jah ren viele weitere Projekte umgesetzt. Auf einige Punkte der vorliegenden Antwort möchte ich jetzt näher eingehen. Von den 418 Gemeinden des Landes Brandenburg liegen fast 90 % in der erweiterten Metropolregion. Das heißt im Umkehr schluss: Schön zurechtgemachte Dörfer in der Nähe von Berlin und Potsdam dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, wie unter schiedlich der Zustand der Brandenburger Dörfer und deren Bevölkerungsprognose insgesamt ist.

In der Vergangenheit haben Wegzug und Überalterung die At traktivität vieler Orte deutlich reduziert; das steht außer Frage. Dies erfordert ein Gegenlenken. Ich bin der Meinung, dass Brandenburg in der Vergangenheit gegengelenkt hat; denn in der Antwort der Landesregierung wird richtigerweise aufge zeigt, wie viele Millionen Euro an ELER- und LEADER-Mit teln in den letzten Jahren eingesetzt wurden und was diese be wirkt haben. Das kann man sehr gut in der Drucksache 6/5886 nachlesen.

Wichtig erscheint mir zum heutigen Zeitpunkt die Feststellung, dass die zur Verfügung stehenden Mittel zu 99 % ausgeschöpft worden sind. Das heißt auch, dass unter dem Strich die Förder instrumente nicht nur angenommen werden, sondern auch wir ken und tatsächlich ankommen.

(Vereinzelt Beifall SPD)

Dafür steht das Haus von Jörg Vogelsänger zur Verfügung; das möchte ich einmal lobend herausstellen. Das heißt auch, dass das Zusammenspiel von Antragstellern und Bewilligungsstel len in den letzten Jahren eigentlich ganz gut funktioniert haben muss. Dass wir uns bei den Fördermitteln alle etwas weniger

Bürokratie wünschen, steht sicherlich außer Frage. Bürokratie abbau ist bekanntlich eine Never Ending Story.

Bitte gestatten Sie mir noch eine generelle Anmerkung zur Le bensqualität von Senioren und Jugendlichen im ländlichen Raum. Das war schon immer ein schwieriger Punkt; das ist heute ein schwieriges Thema, und das wird es auch in Zukunft sein. Die einen haben noch keinen Führerschein, und die ande ren haben den Führerschein nicht mehr bzw. nutzen ihn nicht mehr, weil sie nicht mehr Auto fahren wollen. Das Leben im ländlichen Raum ist nun einmal stark mit der Mobilität verbun den.

Zudem spricht das vorliegende Papier richtigerweise den Handlungsbedarf bei der medizinischen Grundversorgung und der Pflege älterer Menschen an. Das ist aus meiner Sicht ein ganz wichtiger Punkt, an dem wir alle noch viel arbeiten müs sen. Es gibt aber auch hier einige Ansätze, die zeigen, dass sich Entwicklungen zum Positiven umkehren können. Aus meinem Heimatkreis, dem Landkreis Havelland, kann ich Ihnen berich ten, dass sich über den LEADER-Ansatz nach und nach Dorf gemeinschaftshäuser entwickeln, die sehr schön an die indivi duellen Bedürfnisse des jeweiligen Dorfes angepasst sind. Kin dergärten, Praxen, Gemeinschaftsräume und auch die Senio renbetreuung finden dank LEADER immer häufiger unter ei nem Dach statt.

Dieser Weg kann auch wunderbar dabei helfen, wenn ich das so sagen darf, alte Gebäude in ihrem Äußeren zu erhalten. Soll ten Sie einmal die Gelegenheit haben, nach Ketzin zu kommen, dann werfen Sie bitte einen Blick auf das alte Bahnhofsgebäu de. Das ist wirklich ein sehr schönes Beispiel für gelebtes LEADER. Ähnliches geschieht bei vielen Dorfkirchen. Über den LEADER-Weg gelingt es, die Gotteshäuser multifunktio nal zu machen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, schon heute ist eine leis tungsfähige Breitbandversorgung wesentliche Voraussetzung für Attraktivität, Wertschöpfung und Sicherung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Je schneller alle Dörfer am Netz sind, des to besser die Entwicklungsmöglichkeiten. Das ist ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch die Debatten in diesem Ho hen Hause zieht. Ich möchte es daher nicht unerwähnt lassen.

Noch ein letzter Gedanke zur Mobilität. Sollten wir in ein paar Jahren tatsächlich mit selbstfahrenden Autos von A nach B kommen, könnte das für das Leben aller Generationen in den Dörfern ganz neue Perspektiven eröffnen. Das heißt aber auch, dass viele unserer Gedanken, die heute noch richtig sind, schon in absehbarer Zeit keine Daseinsberechtigung mehr haben. Deshalb müssen wir in naher Zukunft unsere eigenen Zielvor stellungen für den ländlichen Raum und für die Dörfer noch häufiger auf den Prüfstein stellen.

Mein Fazit: Im ländlichen Raum Brandenburgs laufen momen tan viele Veränderungsprozesse ab. Hier bedarf es differenzier ter Betrachtungen und keiner Reduzierung auf die Entfernung zu Berlin. Das ist das Hauptthema, das uns derzeit auch in der Enquetekommission umtreibt. Die Entwicklungen erfassen alle Lebensbereiche. Das hat mit dem Mauerfall begonnen und hält in Teilen immer noch an. Harte Brüche, wie sie in den Jahren nach der Wende aufgetreten sind, wird es aber hoffentlich nie mehr geben.

Viele Entwicklungen waren lange Zeit von rückläufigen Ein wohnerzahlen geprägt. Wir sehen heute aber auch, dass sich Prozesse wieder umkehren können. Ich wiederhole es: So man che berlinferne Gemeinde mit guter Anbindung an den öffentlichen Personen- oder Schienennahverkehr kann sich schon heu te über steigende Einwohnerzahlen und volle Kindergärten freuen.

Nicht jede noch so gut in Potsdam oder Berlin gedachte Ver ordnung und Regelung passt in die Lebenswelt der Dörfer, der Gemeinden und der ländlichen Räume unseres schönen Landes Brandenburg. Wir sollten dafür sorgen, dass überall dort, wo Potenziale und aktive Bürgerinnen und Bürger vorhanden sind, diese Prozesse unterstützt und nicht verhindert werden. Dafür, Herr Raschke, brauchen wir in der Tat mehr Spielraum und Entscheidungsmöglichkeiten vor Ort. Da nenne ich als Stich wort auch die Experimentierklausel.

Ich möchte für unsere Fraktion erklären, dass wir den vorlie genden Antrag in Richtung Annahme dennoch nicht begleiten, sondern ihn ablehnen werden. Die Inhalte des Antrags - wobei die CDU auch mit dabei ist, Herr Wichmann -,

(Wichmann [CDU]: Ja!)

werden wir in die Befassung der zuständigen Arbeitsgruppen und Berichterstattergruppen der Enquetekommission mitneh men. Ich denke, dass dies der richtige Weg ist, um den Parallel prozess wieder in geordnete Bahnen zu bringen.

Ich bitte unser Verhalten so zu verstehen, wie ich es hier ange kündigt habe. - Herzlichen Dank.

(Vereinzelt Beifall SPD)

Vielen Dank. - Für die CDU-Fraktion spricht der Abgeordnete Wichmann.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte, anders als Kollege Folgart, den Grünen zunächst ein mal ausdrücklich dafür danken, dass sie diese Große Anfrage zur Situation und Zukunft unserer Dörfer gestellt haben. Ich glaube, es gibt Themen, die weniger Relevanz und Bedeutung für die Brandenburgerinnen und Brandenburger haben und mehr Kräfte in Regierung und Parlament bündeln als diese Große Anfrage zur Zukunft der Dörfer.