Protocol of the Session on February 22, 2012

(Frau Lehmann [SPD]: Ein Streichprogramm ist das, dem stimmen wir nicht zu!)

- Ja, Frau Kollegin Lehmann, kommen wir mal zu Ihnen, kom

men wir mal zur SPD. Sie machen hier in der Tat etwas echt Bemerkenswertes. Zum gefühlten 223. Mal in dieser Legislaturperiode entfernen und distanzieren Sie sich von Ihrer eigenen Agenda 2010.

(Vereinzelt Beifall FDP)

So langsam muss man sich ja Sorgen machen, ob hier nicht eine Art milde Schizophrenie vorliegt, weil die SPD in der Regierung immer grundlegend etwas anderes denkt, als sie es dann, wenn sie in der Opposition ist, fordert. Besonders glaubwürdig, Herr Kollege Baer, ist das am Ende aber auch nicht. Sie wollen wieder einmal etwas zurücknehmen, was Sie im Rahmen der Agenda damals selbst eingeführt haben. Sie wollen statt der zweijährigen Rahmenfrist wieder die dreijährige Rahmenfrist haben.

(Zuruf der Abgeordneten Lehmann [SPD])

- Ach, Frau Kollegin Lehmann, Sie wissen doch, dass das so ein Unsinn ist, was Sie erzählen, meine Güte!

(Frau Melior [SPD]: Wir lernen dazu, Herr Büttner!)

Kommen wir doch einfach einmal zu den Problemen, die es gibt. Ja, grundsätzlich gibt es Probleme, dass Menschen in Beschäftigungsverhältnissen stehen, die am Ende nicht ausreichen, um in den Anspruch der Leistung zu kommen, Menschen, für die qua Natur ihres Beschäftigungsverhältnisses aber eine Sonderregelung gilt. In diesem Bereich, beispielsweise Filmschaffende oder Saisonarbeiter, gibt es viele Jobs, die befristet sind, und zwar deshalb, weil auch die entsprechenden Projekte befristet sind. Diesen Menschen müssen wir ein Angebot machen. Aber Rot-Grün hat das damals in der Bundesregierung nie für nötig gehalten. Das muss man ehrlicherweise auch einmal dazusagen. Erst die Große Koalition - auch wenn ich jetzt die Große Koalition einmal loben muss - hat hier eine Sonderregelung eingeführt.

Jetzt geht es weiter. Es ist doch nicht so, dass die Bundesregierung nicht wüsste, dass die Regelung im August dieses Jahres ausläuft. Nein, es ist schon längst in der Koalition vereinbart, dass diese Regelung verlängert wird. Im Rahmen dieser Verlängerung will die Bundesregierung die Situation zudem an einer entscheidenden Stelle verbessern. Sie will nämlich die zugrundeliegende Beschäftigungsdauer von sechs auf zehn Wochen erhöhen. Das ist die entscheidende Stelle, Herr Kollege Bernig, an der es in der Vergangenheit Probleme gab, weil die bestehende Regelung nicht passgenau war. Diese neue Regelung wird am Ende, so die Absicht der Bundesregierung, evaluiert werden, bevor wir an der Systematik der Arbeitslosenversicherung etwas Grundlegendes ändern.

Ich kann nur festhalten, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und auch von den Linken - wobei die Linken der Agenda 2010 ja nicht zugestimmt haben -: Sie haben in einer Bundesregierung bei der Einführung der Agenda 2010 im Wesentlichen einmal etwas richtig gemacht, und davon distanzieren Sie sich jetzt. Das ist falsch. Ihr Antrag ist hier völlig fehl am Platze, und deswegen, Herr Kollege Baer, ist er auch nicht zustimmungsfähig. - Vielen Dank.

(Beifall FDP und CDU)

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Büttner. - Wir setzen die Debatte mit dem Beitrag der Abgeordneten Nonnemacher, Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, fort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bereits am Jahresende 2011 titelte die „Süddeutsche Zeitung“: „Arbeitslose rutschen direkt in Hartz IV“. Von den 2,8 Millionen Beschäftigten, die 2011 arbeitslos wurden, fielen 737 000 gleich in die Grundsicherung. Obwohl sie in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben, bekommen sie kein Arbeitslosengeld, sondern fallen vom ersten Arbeitsmarkt ohne Zwischenstopp in Hartz IV. Betroffen sind geringqualifizierte Personen, Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter, aber auch unstetig Beschäftigte wie Künstler, Kulturschaffende oder Wissenschaftler.

Lieber Andreas, es handelt sich halt nicht nur um ein Minderqualifizierungsproblem, das man beheben könnte, sondern auch um Saisonarbeiter. Sie bekommen die Beschäftigungszeiten nicht zusammen, die notwendig sind, um Arbeitslosengeld I zu beziehen. Entweder waren ihre Beschäftigungszeiten zu kurz, um Ansprüche zu erwerben, oder das vormals erzielte Lohneinkommen war zu niedrig, um mit dem daraus abgeleiteten Arbeitslosengeldanspruch den Lebensunterhalt zu decken. Deshalb mussten sie mit Arbeitslosengeld II aufgestockt werden.

Einer der Gründe für verweigerte Versicherungsleistungen bei Arbeitslosigkeit liegt in der seit Februar 2006 verschärften Zugangsvoraussetzung für den Anspruch auf Arbeitslosengeld. Verantwortlich dafür ist Hartz III, das wir Grünen im Jahr 2003 in der rot-grünen Koalition mit verabschiedet haben. Damals hielten wir angesichts von nahezu fünf Millionen Erwerbslosen diesen Beschluss für richtig. Heute müssen wir aufgrund des veränderten Arbeitsmarktes einen anderen Weg suchen, um die zunehmend wegfallende Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung für Arbeitslose wiederherzustellen.

Das hat nichts mit grundsätzlicher Distanzierung zu tun. Das, was damals richtig war, hat seinen Wert. Deutschland kommt jetzt so gut durch die Krise, auch im Arbeitsmarkt, weil wir uns damals an diese Reformen gemacht haben. Aber Selbstkritik bedeutet auch, dass man halt umsteuern muss, wenn man erkannt hat, dass ein Instrument nicht mehr greift und nicht mehr angemessen ist. Das hat nichts mit „Asche aufs Haupt“, sondern mit kluger Anpassungsstrategie zu tun.

Auf dem heutigen Arbeitsmarkt haben Projektarbeit, Minijobs, Leiharbeit, Teilzeitbeschäftigung und Saisonarbeit stark zugenommen. Mittlerweile ist die Hälfte aller neuen Jobs befristet. Insbesondere Künstler, Kreativ- und Kulturschaffende, aber auch Gruppen von Nachwuchswissenschaftlern und Journalisten arbeiten in kurzfristigen und flexiblen Beschäftigungsverhältnissen. Zwar zahlen sie als kurzzeitig Beschäftigte Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, jedoch erhalten sie oft keine Lohnersatzleistungen, wenn sie arbeitslos sind. Allen Arbeitslosen sollte es ermöglicht werden, ihre Beitragszahlungen auch bei Bezug von Arbeitslosengeld anzurechnen. Deshalb haben die Bundestagsfraktionen von SPD, der Linken und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Vorschläge entwickelt, um mit jeweils eigenen Anträgen die Fehlentwicklung des Arbeitslosengeldbezugs zu ändern.

Wir Grünen stellen in unseren Anträgen Folgendes in den Mittelpunkt: Zwar belassen wir die Rahmenfrist bei zwei Jahren, jedoch würde eine viermonatige Anwartschaft reichen, um einen ALG-I-Anspruch für zwei Monate zu erwerben. Die Anspruchsdauer steigt mit der Dauer der Beitragszahlung an. Das Verhältnis von Beitrags- zu Anspruchszeiten bleibt jedoch bei 2:1. Damit bekämen Versicherte denselben Zugang zu Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik wie andere Arbeitslosengeldbezieher. Für die Gruppe der Kulturschaffenden schlagen wir bei Erwerbslosigkeit eine befristete Vermittlungspause vor, in der sie sich in Eigenregie um neue Engagements bemühen können.

Mit diesen Vorschlägen zur Neuregelung der Arbeitslosenversicherung wollen wir Grüne eine bessere soziale Absicherung von flexibel Beschäftigten erreichen und neue Ideen zur Eingliederung in Arbeit vorlegen. Auch wenn sich die Ideen der drei Parteien im Detail unterscheiden: Die Zielrichtung ist dieselbe. Deshalb unterstützen wir den vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen.

(Beifall GRÜNE/B90, DIE LINKE sowie vereinzelt SPD)

Vielen Dank, Frau Abgeordnete Nonnemacher. - Wir sind damit beim Beitrag der Landesregierung. Herr Minister Baaske hat das Wort.

Liebe Vizepräsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vielen Dank für all die Beiträge, insbesondere für den Beitrag von Herrn Büttner, für den ich mich ganz besonders bedanke, weil er mir noch einmal die Gelegenheit gibt, die Gründe für den Antrag der SPD darzustellen.

Herr Büttner, mitnichten werden wir uns von der Agenda 2010 das sage ich auch in Richtung Linkspartei - verabschieden. Das, was Frau Nonnemacher sagte, gilt auch für uns. Vieles von dem, was wir gemacht haben, ist richtig. Dennoch gehen wir nicht durchs Land und sagen zu dem, was wir einmal verabschiedet haben: „Augen zu und durch“, „Auf Nimmerwiedersehen“, „Fire-and-Forget“, wie in der Militärsprache - das müssen wir jetzt machen -, sondern wir gucken auch, was im Land passiert.

Nicht so Sie: einmal Steuersenkungsvorschläge, immer Steuersenkungsvorschläge. Da kommt man schnell von 18 auf 2 %, wenn man nicht mitbekommt, was im Land diskutiert wird, was in diesem Lande läuft. Wir müssen nun einmal zur Kenntnis nehmen, dass das, was wir 2001/2002 im Entsendegesetz zum Thema Leiharbeit verabschiedet haben, in der Leiharbeit zu einem massiven Missbrauch geführt hat, was wir nicht wollten, jedoch heutzutage stattfindet. Da muss Politik den Arsch in der Hose haben und sagen: Wir müssen etwas bei diesem Gesetz ändern, um diesen Missbrauch einzudämmen.

(Beifall SPD und DIE LINKE)

Dieser Arsch in der Hose fehlt dieser Bundesregierung aber derzeit. Das ist es, worüber wir reden müssen.

Zweitens: Wir müssen auch über Minijobs reden. Minijobs waren bei ihrer Kreierung nicht als das gedacht, was sie heute

sind: ein flächendeckendes Instrument, um Festangestellte durch Minijobber zu ersetzen. Das muss eingedämmt werden, und da müsste die Bundesregierung auch ran.

Drittens, die Möglichkeit, von der Arbeitslosenversicherung zu profitieren, wenn man in diesen Topf einzahlt: Immer weniger Leute profitieren von ihr, aber immer mehr zahlen in sie ein. Weil es nicht gelingt, die Anwartschaften innerhalb der Fristen zu schaffen, profitieren sie selbst nicht von dem, was sie in diesen Topf hineingeben. Dort wäre es in der Tat die Bundesregierung, die gefordert ist, etwas zu tun.

Wenn Sie sagen: „Was beschäftigt sich dieser Antrag hier damit?“, sage ich: Lieber Herr Büttner, das Schwarze ist die Schrift. - Wir sind aufgefordert, auf die Bundesregierung zuzugehen. Wie machen wir das als Bundesland? Über einen Entschließungsantrag im Bundesrat. Das sind die parlamentarischen Gepflogenheiten. Auf diese Gelegenheit warten viele andere Bundesländer; ich habe mich diesbezüglich schon erkundigt. Wir werden es also tun, und Sie werden sehen: Es gibt womöglich sogar das eine oder andere schwarze Bundesland, das mit uns stimmen wird, weil man dort nämlich - anders als die FDP - sieht, dass die Not groß ist und Handlungsbedarf besteht.

Ganz kurz noch zu Frau Schier: Sie haben Recht: Herr Kappler hat gestern gesagt, dass er bei Katjes viele über 50-Jährige beschäftigt, allerdings, liebe Frau Schier - das ist das, was wir hier heute diskutieren -, hat Herr Kappler dort Festangestellte und keine befristeten Beschäftigungsverhältnisse.

(Frau Schier [CDU]: Darauf wollte ich doch hinaus!)

Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Vereinzelt Beifall SPD und DIE LINKE)

Vielen Dank, Herr Minister Baaske. - Herr Baer hat auf seine Redezeit verzichtet. Wir sind damit bei der Abstimmung. Es geht um den Antrag auf Drucksache 5/4763, Arbeitslosenversicherung als primäre Sicherung für Arbeitslose stärken, eingebracht durch die Fraktion der SPD und die Fraktion DIE LINKE. Wer diesem Antrag zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit deutlicher Zustimmung versehen und damit angenommen worden.

Ich schließe Tagesordnungspunkt 8 und rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:

Rabbinerausbildung in Brandenburg stärken

Antrag der Fraktion der SPD der Fraktion DIE LINKE der Fraktion der FDP der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Drucksache 5/4762

Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU vor, Drucksache 5/4803.

Ich eröffne die Aussprache mit dem Beitrag der Fraktion DIE LINKE. Der Abgeordnete Jürgens hat das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf den ersten Blick reden wir heute über einen Antrag zur Stärkung der Rabbinerausbildung in Brandenburg, also über einen vermeintlich kleinen Bereich unserer Wissenschaftspolitik. Aber eine Debatte über die Ausbildung von Rabbinerinnen und Rabbinern ist gerade in Deutschland immer mehr: Im Kern geht es um die Frage, wie jüdisches Leben nach den Schrecken der Shoah wieder zu einem vitalen Bestandteil unserer Gesellschaft geworden ist und weiter werden kann.

In der Mischna, der ersten großen Niederschrift der mündlichen Thora, gibt es den Teil Pirke Avot, die Sprüche der Väter. Darin heißt es:

„Suche dir einen Lehrer und erhebe dich aus dem Zweifel.“

Das verdeutlicht, dass Rabbiner nicht primär Priester sind, also jene, die besondere religiöse Aufgaben zu erledigen haben. Im jüdischen Verständnis ist ein Rabbiner mehr ein Gelehrter, ein Ratgeber, ein Seelsorger. Daher sind die Anforderungen an solche Menschen auch nicht unerheblich. Noch vor der Vertreibung der Juden aus Palästina gab es die sogenannte Jeschiwa, eine Talmudschule, in der die Ausbildung stattfand. Die institutionelle Ausbildung von Rabbinerinnen und Rabbinern ist daher immer auch ein markantes Zeichen dafür, wie fest das Judentum in einer Gesellschaft verankert ist.

Seit der Emanzipation der Juden in Deutschland Anfang des 19. Jahrhunderts gab es immer wieder Bestrebungen, das Gemeindeleben durch einen wissenschaftlichen Bereich zu ergänzen und die Ausbildung zu akademisieren. Einer der Vorreiter in Deutschland war dabei Abraham Geiger. Bereits 1836 schlug er vor, eine jüdisch-theologische Fakultät an einer Universität zu gründen. Als Rabbiner in Breslau war er maßgeblich an der Gründung des Jüdisch-Theologischen Seminars beteiligt. Es war die erste Institution dieser Art in Deutschland und bot uneingeschränkte Freiheit der Forschung auf der Grundlage des traditionellen jüdischen Gesetzes. In kurzer Zeit wurde es - zunächst unter der Leitung von Zacharias Frankel - zur bedeutendsten Institution für die Ausbildung von Rabbinern in Europa.

Geiger selbst war 1872 Mitbegründer der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Wer heute in Berlin-Mitte am Haus Nr. 9 der Tucholskystraße vorbeigeht, findet dort das ehemalige Hochschulhaus. Die Einrichtung sollte unabhängig von der religiösen Richtung die Wissenschaft des Judentums erhalten und verbreiten und wurde zu einer zentralen Ausbildungsstätte für Rabbiner. Von den vielen berühmten Absolventen und Lehrern werden ihnen sicherlich die Namen Leo Baeck und Regina Jonas, die erste deutsche Rabbinerin, bekannt sein.

Zu dem breiten wissenschaftlichen Leben des Judentums in unserer Region zählte auch das orthodoxe Rabbinerseminar in Berlin, das 1873 von Esriel Hildesheimer gegründet wurde.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bis in die 30er-Jahre des vorigen Jahrhunderts war das Judentum - und auch sein

akademischer Teil - ein wichtiger und fester Bestandteil unseres Landes. Die jüdischen Hochschuleinrichtungen waren eine Bereicherung der Wissenschaftslandschaft. Die jüdischen Gemeinden florierten auch aufgrund der gezielten akademischen Ausbildung von Rabbinern, und zwar bis in die 30er-Jahre hinein. Das Seminar in Breslau wurde noch 1938 im Rahmen der Reichspogromnacht geschlossen. Die Hochschule in Berlin bekam 1933 zunächst den diskriminierenden Namen „Lehranstalt“ und wurde 1942 ganz geschlossen. Leo Baeck wurde mit den damals verbliebenen Studenten nach Theresienstadt deportiert, konnte aber glücklicherweise überleben. Regina Jonas wurde 1944 in Auschwitz ermordet.