Protocol of the Session on September 8, 2010

Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 20. Plenarsitzung des Landtages Brandenburg.

Ich habe zu Beginn die angenehme Aufgabe, der Abgeordneten Wolff-Molorciuc einen herzlichen Geburtstagsglückwunsch auszusprechen. Herzlichen Glückwunsch und alles Gute!

(Allgemeiner Beifall)

Als Gäste begrüßen wir unter uns Schülerinnen und Schüler des Karl-Liebknecht-Gymnasiums in Frankfurt (Oder). Auch euch ein herzliches Willkommen und einen interessanten Vormittag bei uns!

(Allgemeiner Beifall)

Vor Eintritt in die Tagesordnung habe ich Ihnen mitzuteilen, dass der Abgeordnete Hans-Peter Goetz am 10. August 2010 vom Vorsitz der FDP-Fraktion zurückgetreten ist und dass die FDP-Fraktion in ihrer Sitzung am 31. August 2010 den Abgeordneten Andreas Büttner zum Vorsitzenden der Fraktion gewählt hat. Alles Gute bei dieser Aufgabe!

(Allgemeiner Beifall)

Ihnen liegt der Entwurf der Tagesordnung vor. Gibt es hierzu Bemerkungen, Wünsche, Ergänzungen? - Da das nicht der Fall ist, bitte ich über die Tagesordnung abzustimmen. Wer nach ihr verfahren möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist die Tagesordnung beschlossen.

Wir treten in die Tagesordnung ein. Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:

Aktuelle Stunde

Thema: Priorität für Bildung!

Antrag der Fraktion DIE LINKE

Drucksache 5/1876

Die Debatte eröffnet die Abgeordnete Große für die Fraktion DIE LINKE. Bitte sehr!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Wir haben vor der Sommerpause wieder einmal den bildungspolitischen Spiegel vorgehalten bekommen, und es war wieder einmal nicht schön, was man darin sah. Reflexartig gab es auch sofort unterschiedlichste Reaktionen und Erklärungsmuster, Schuldzuweisungen, erste Maßnahmenkataloge und - heute und morgen - gleich vier Anträge der Opposition zu diesem Thema.

Der politische Raum ist aufgeregt. Die Eltern sind besorgt, die Lehrkräfte betroffen und dennoch hoch motiviert in das neue

Schuljahr gestartet. An den Schülerinnen und Schülern geht das alles irgendwie vorbei.

Seit gestern liegt uns eine neue OECD-Studie vor. Darin ist Brandenburg zwar nicht explizit ausgewiesen, jedoch hat Deutschland erneut schlechte Karten gehabt; das haben Sie alle lesen können. Wir sind zwar gut im Dualen System, haben aber zu wenig qualifizierte Schülerinnen und Schüler darin. Wir haben mit 25 % zu wenige Absolventinnen und Absolventen von Hochschulen; so ist es dargestellt worden.

Wir müssen wiederum Gelegenheit nehmen, uns über Ursachen und Maßnahmen zu verständigen. Wir haben diese Aktuelle Stunde beantragt, weil wir eine Grundverständigung zu den Herausforderungen der brandenburgischen Bildungspolitik herbeiführen wollen. Das ist unsere Aufgabe. Die Entscheidung über die Sinnhaftigkeit und die Anzahl von Diktaten sollten wir der Fachwissenschaft überlassen.

(Beifall DIE LINKE)

Seit 20 Jahren ist das Schulsystem, ist die Schule in diesem Land in Bewegung. Die einzige Kontinuität war Wandel. Lehrerinnen und Lehrern sind in diesen Jahren enorme Leistungen abverlangt worden unter Rahmenbedingungen, die für einen gelingenden pädagogischen Prozess nicht eben förderlich waren. Die Linke hatte das als Opposition heftig kritisiert.

Wenn Sie, Herr Ministerpräsident Platzeck, gerade in dieser Zeit der 20-jährigen Jubiläen den Respekt vor den Lebensleistungen der Menschen im Land Brandenburg einfordern - zu Recht, wie ich meine -, dann meinen Sie - das interpretiere ich einfach so - natürlich auch die Lehrerinnen und Lehrer in diesem Land. Die sich im Bereich Bildung noch immer vollziehenden Transformationsprozesse wären meiner Meinung nach eine wirklich interessante Aufgabe für die Enquetekommission. Wenn sie so heranginge, würde das vielleicht wirklich helfen, strukturelle und inhaltliche Defizite zu erkennen und auch Entwicklungspotenziale zu heben.

Nach den Umbrüchen im Bereich Bildung ist es jetzt an der Zeit innezuhalten, zu sehen: Was von diesen Reformen, die wir eingeleitet haben, hat sich bewährt, was nicht? Wo waren die Reformen richtig, konnten ihre Wirkung aber offensichtlich nicht entfalten? Ich denke hier an die Flexible Eingangsphase, an den Ganztagsschulbetrieb, an den Beginn des Englischunterrichts in Klasse 3, an die neuen kompetenzbasierten Lehrpläne, an die zentrale Abschlussprüfung. All das waren Maßnahmen, die wir in der Opposition durchaus mitgetragen haben und die wir auch weiter festigen wollen. Warum konnten sie ihre Wirkung ganz offensichtlich nicht entfalten? Inwieweit dienen die derzeitigen Rahmenbedingungen der Qualitätsverbesserung?

Inwieweit hat beispielsweise - jetzt komme ich zu den Maßnahmen, die wir immer skeptisch betrachtet haben - die Bewertung des Arbeits- und Sozialverhaltens bezüglich des Kompetenzzuwachses etwas gebracht? Wie ist hier das Verhältnis von Aufwand und Nutzen für die Lehrerinnen und Lehrer? Inwieweit hat die Einrichtung unserer 35 Leistungs- und Begabungsklassen die Leistungen der übrigen Grundschulklassen beeinflusst? Inwieweit haben die sogenannte ILeA - die individuelle Lernstandsanalyse, die in der Primarstufe durchgeführt wird - und die LAL - die Lernstandsanalyse in der 7. Klasse, die von den

Lehrkräften überwiegend als Belastung empfunden wird wirklich Wirkung auf den Unterricht gehabt? Wie kann dies so verändert werden, dass sie Wirkung auf den Unterricht haben? Was bringen Vergleiche wie VERA in der 3. und 8. Klasse und die zentrale Vergleichsarbeit in der Klassenstufe 6, wenn sich daraus offensichtlich zu wenig für den Unterricht ergibt? Wie ist die Qualität der installierten Beratungs- und Unterstützungssysteme, und was leisten die Schulämter dabei?

Bevor wir Evaluationsergebnisse haben, die möglicherweise zu einer anderen Struktur führen, müssen wir natürlich sehen: Wer leistet diese Aufgabe dann? Wie viel Arbeitsbelastung kann man Lehrkräften noch zumuten, ohne dass es kontraproduktiv wird und der Krankenstand weiter steigt? Womit können wir die Lehrkräfte entlasten?

Die Zeit ist reif, Antworten auf diese Fragen zu finden. Diese Antworten werden komplexer Natur sein. Da es jetzt endlich stabile Strukturen gibt, sich die Schülerzahlen auf das derzeitige Niveau einpegeln, die Standorte gesichert sind, kann und muss nun verstärkt in die innere Schulentwicklung investiert werden. Hierfür können die niederschmetternden Ergebnisse bei den Sprachkompetenzen im Ländervergleich 2008/2009 durchaus eine Chance sein. Offensichtlich ist es ja auch Ländern wie Sachsen und Thüringen besser gelungen. Gleichwohl sollten wir nichts kopieren, sondern unseren eigenen für uns typischen, unseren spezifischen Weg finden.

Ich bekenne hier aber deutlich, dass mich nicht so sehr das Länderranking bewegt, zumal es kaum signifikante Unterschiede gegeben hat. Eine gesunde Skepsis gegenüber all diesen Rankings sollte man sich ohnehin bewahren. Mich treibt um, dass es in unseren Schulen - und zwar in allen Schulformen - eine so hohe Anzahl von Schülerinnen und Schülern gibt, die im Fach Deutsch über völlig unzureichende Kompetenzen in den Bereichen Leseverständnis, Hörverstehen und Orthografie verfügen und dass im Fach Englisch, obwohl sie inzwischen sieben Jahre Sprachunterricht gehabt haben, wenn sie in der 9. Klasse ankommen, beim Lese- und Hörverstehen derart drastische Defizite zutage treten. Das sind Basiskompetenzen, ohne die es in keinem Fach gut funktionieren kann. Wenn wir dort nicht vorankommen, werden wir auch hinsichtlich des Problems der zu hohen Anzahl von Schülerinnen und Schülern ohne Schulabschluss nicht weiterkommen. Diese Situation muss mit den Akteuren - den Fachberatern, den Lehrkräften, dem LISUM, den Fortbildern, dem IQB - genau analysiert werden. Das hat das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport offensichtlich auch vor.

In Deutsch spielte das Hörverstehen, ein kleines Bestandteilchen, bisher offensichtlich überhaupt keine Rolle. Das Aufgabenformat wurde nicht geübt, weil es die Rahmenlehrpläne nicht hergeben. Da muss man noch einmal genau hinschauen: Wie macht man das? Uns allen, auch den Laien, ist ja klar, dass das Hörverstehen, das Verständnis dafür, was ich jemandem sage, auch eine Grundkompetenz für uns hier ist.

In Englisch gibt es erstmals für die jetzigen 9. Klassen Lehrbücher, die zu den kompetenzbasierten Lehrplänen passen. Die getesteten Schüler hatten noch gar nicht die entsprechenden Materialien.

Das sind nur einige Beispiele für hausgemachte Ursachen. Die müssen wir ernst nehmen. Wir dürfen uns hinsichtlich der jetzt zu ergreifenden Maßnahmen nicht wieder in die „HäppchenPolitikfalle“ begeben, sondern wir müssen zuvor die strukturellen Defizite aufdecken und gemeinsam mit den Lehrkräften beheben. Es geht nur mit ihnen.

Im Übrigen sind in jeder Generation und in jedem Fach engagierte und weniger engagierte, starke und weniger starke Lehrkräfte am Wirken. Es geht nur, indem die Stärken gefördert und die Selbstheilungskräfte von Schule geweckt werden sowie Schulen eben nicht nur personalpolitisch selbstständig agieren, sondern bei der Prozesssteuerung eigene Wege gehen dürfen. Das gehört übrigens zu den finnischen Geheimnissen.

Ich nenne einige Maßnahmen: Verabredungen zu Mindeststandards und Mindestwortschätzen - dabei gibt es übrigens auch gute Erfahrungen mit DDR-sozialisierten Lehrerinnen und Lehrern, da sollte man noch einmal hinsehen - und zu Lektürevorschlägen - also auch Inhalte, aus denen Kompetenzen erwachsen können -, aufsuchende Hilfen für Schulen, Fachtagungen, Fortbildungen, Umverlagerungen von Kapazitäten innerhalb des Systems sowie Tests, deren Wirkung ich allerdings bezweifle, zumindest solange sie nicht zu besserer individueller Förderung führen. Das alles sind Maßnahmen, die nicht durch Politik entschieden werden sollten. Eine Meinung dürfen wir dazu aber schon haben.

Wenn es in den letzten Tagen so aussah, als hätte es eine Polyphonie oder Vielstimmigkeit in der Koalition gegeben, dann sage ich: Ja, wir hatten eine produktive Debatte, und zwar nicht um das Ziel, sondern um den Weg.

(Zuruf des Abgeordneten Senftleben [CDU])

Beide Koalitionspartner sind sich völlig einig darin, dass sie eine leistungsfähige Schule wollen, in der Kinder gerne lernen, in der Kuscheln und Leistung kein Widerspruch ist, in der sich Kinder entdecken, entfalten, ausprobieren, Fehler machen dürfen und ihre Stärken entwickeln können, in der Lehrkräfte respektiert werden, eine Schule, die eine inklusive sein muss, in der niemand ausgegrenzt wird, damit Teilhabe für alle gesichert wird.

(Beifall DIE LINKE)

Langfristig wollen wir die Gemeinschaftsschule, und dies nicht nur aus Gründen des demografischen Echos, das uns ab 2020 sowieso einholen wird, sondern weil wir sie für die leistungsfähigere Schule halten. Lehrer könnten in ihr stufenübergreifend unterrichten. Die gute Qualifikation der Sprachlehrkräfte in den Sekundarstufen I und II könnten auch in die Primarstufe ausstrahlen. Wir könnten das Problem der zweiten Fremdsprache in Jahrgangsstufe 6 endlich angehen. Die diagnostisch gut ausgebildeten Grundschullehrkräfte im Bereich Deutsch könnten ihre Kompetenz für den Deutschunterricht in der Sekundarstufe I einbringen. Die Scharnierfunktion von der Primarstufe zur Sekundarstufe I wäre so viel besser zu gestalten, wie uns Schulen, die schon jetzt eine solche Struktur haben - Wilhelmshorst, Glöwen und andere auch zeigen.

Meine Damen und Herren, insbesondere der Opposition! In der Auffassung, dass Bildung trotz der angespannten Haushaltslage Priorität haben wird, passt zwischen die SPD und die Linkspartei wirklich kein Blatt Papier. Darauf sollten Sie wirklich nicht hoffen.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Wir haben im ersten Jahr unserer gemeinsamen Verantwortung für die Kinder deutliche Verbesserungen auf den Weg gebracht.

(Senftleben [CDU]: Was ist daran anders als vorher?)

Kita-Personalschlüssel, Personalverordnung, 400 Neueinstellungen - das, Herr Senftleben, ist zum Beispiel etwas ganz anderes als vorher -, Aufstocken der Zahl der Referendare, Schüler-BAföG, Förderung der musischen Bildung. Das kann sich schon sehen lassen, denke ich. Das ist auch nicht das Ende.

(Beifall DIE LINKE)

Am vergangenen Donnerstag haben wir eine Arbeitskreistour durch die Jugendkunstschulen in unserem Land unternommen. Deren Leistungsfähigkeit testet zum Glück niemand. Sie vollbringen richtig gute Leistungen in der Breite und in der Spitze. Bei aller Aufregung sollten wir die musischen Fächer nicht vergessen. Bei dieser Tour hat man uns in der Galerie „Sonnensegel“ in Brandenburg den schönen Spruch des Philosophen Ernst Bloch „Man muss ins Gelingen verliebt sein, nicht ins Scheitern“ mit auf den Weg gegeben. Wir sind es.

Ich freue mich auf die Debatte. - Vielen Dank.

Für die CDU-Fraktion setzt der Abgeordnete Hoffmann fort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Große, Sie haben eine ganze Menge genannt, was Sie sich wünschen, was passieren müsste. Davon war nicht alles falsch, es war sogar vieles richtig. Ich frage mich nur, warum Sie es nicht machen. Sie müssen endlich erkennen: Sie sind nicht mehr Opposition, Sie sind Regierung. Sie tragen Verantwortung. Werden Sie dieser auch gerecht!

(Beifall CDU, FDP sowie GRÜNE/B90)

Bislang sagen Sie - und betonen das bei jeder Gelegenheit -, Bildung habe bei Ihnen Priorität.

(Zuruf von der Fraktion DIE LINKE: Hat sie auch!)