Protocol of the Session on January 19, 2005

Drucksache 4/427

Für die antragstellende Fraktion spricht die Abgeordnete Große. Bitte schön.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Ich bin darauf eingestellt, meine Damen und Herren der Regierungskoalition, dass Sie auf unseren Antrag zur Vorlage einer Konzeption wie immer reagieren: Haben wir schon, es bedarf Ihres Antrages nicht.

Sicher, die Landesregierung hat seit den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz zur Sonderpädagogik aus dem Jahr 1994 einiges auf den Weg gebracht. So gab es auch in Brandenburg die Abkehr von der defektorientierten Pädagogik hin zu einer auf das Individuum gerichteten Pädagogik mit Förderschwerpunkten. Auch in Brandenburg wird Sonderpädagogik inzwischen zunehmend als Pädagogik der Heterogenität begriffen. Auch in Brandenburg gibt es Anstrengungen, Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf früh zu diagnostizieren, angemessen zu fördern und zunehmend das gemeinsame Lernen in der wohnortnahen Schule zu präferieren.

Gewährleistet wurde das unter anderem durch ein hohes Maß an Problembewusstsein, unter anderem auch durch den Druck des Verbandes der Sonderschulpädagogen, durch gezielte Evaluationen, funktionierende Strukturen, durch Fachtagungen und diverse Arbeitsgruppen.

Warum also dieser Antrag? - Zum einen soll der politische Fokus auf die immerhin ca. 15 % ausmachende Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf gerichtet werden. Es geht um Menschen, die unserer besonderen Fürsorge zum Ausgleich ihrer Benachteiligungen und zugleich der Inklusion bedürfen. Es geht darum, alles erzieherische und unterrichtliche Handeln an den behinderungsspezifischen Förderschwerpunkten auszurichten. Es geht auch darum, der häufig vorkommenden Wechselwirkung von Beeinträchtigungen im Lernen, in der Sprache und der sozialen und emotionalen Entwicklung entgegenzuwirken. Dazu bedarf es eines komplexen multiprofessionellen Förderkonzepts. Letztlich aber zielt unser Antrag auch auf Bereiche der aktuellen bildungspolitischen Vorhaben bzw. Maßnahmen. - So weit zu den Zielen.

Anhand einiger ausgewählter Details werde ich die Notwendigkeit eines Gesamtkonzeptes verdeutlichen.

Ein großer und wichtiger Bereich ist die Frühförderung. Gerade in dieser Woche wurde in der Presse anhand der Antworten auf diesbezügliche Kleine Anfragen erneut auf den immensen Handlungsbedarf bei der Sprachkompetenz der Kinder im Vorschulalter hingewiesen. Die von Ihnen, Herr Minister, ausge

machte Ursache, nämlich der zu hohe Fernsehkonsum, mag eine Rolle im Ursachengefüge spielen. Von den jetzt auch durch Sie zu verantwortenden Ursachen lenkt das aber eher ab. Das können wir Ihnen auch nicht mehr durchgehen lassen, zumal wir schon vor drei Jahren gefordert haben, einen erfolgreichen Modellversuch zur integrierten Sprachförderung in Kindertagesstätten auszuweiten.

Nach wie vor ist die Reihenuntersuchung der Kinder im Vorschulalter schon rein quantitativ unzureichend. In den Kreisen werden damit befasste Stellen abgebaut. Die hohe Zahl der vom Schulbesuch zurückgestellten Kinder weist auf Defizite in der Frühförderung hin. Die Förderung der vom Schulbesuch zurückgestellten Kinder befindet sich auf äußerst unterschiedlichem Niveau und ist personell unzureichend ausgestattet.

Eine große Bedeutung kommt den sonderpädagogischen Förder- und Beratungsstellen zu. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieser Einrichtungen gebührt an dieser Stelle großer Dank und große Anerkennung. Eine im Jahr 2004 vorgenommene, sehr aussagekräftige Evaluation bescheinigt diesen Einrichtungen eine hohe Kompetenz und ein großes Engagement bei der Vorklärung, den Feststellungsverfahren, der Diagnostik, der Analyse der Lern- und Entwicklungsprozesse bis hin zur Beratung der Lehrkräfte an Regelschulen und der Eltern. Das ungeheuer breite Aufgabenspektrum zeigt, dass hier dringend Unterstützung angesagt ist.

Wirksam können diese Beratungsstellen aber nur dann sein, wenn ihnen die Zusammenarbeit mit den Schulen auch ermöglicht wird. Hier gibt es Defizite. Es ist einfach mehr Zeit für Beobachtungen, Probelektionen, Förderunterricht, der häufig dem Vertretungsunterricht geopfert wird, Prävention und Nachsorge mit den Eltern nötig.

Nicht hinnehmbar sind derzeit vor allem die Bedingungen für den gemeinsamen Unterricht. Dieser wird zu einem großen Anteil von Lehrkräften erteilt, die weder ausgebildete Sonderpädagogen sind noch über sonderpädagogische Kompetenzen verfügen. Sie sind häufig überfordert und eben nicht in der Lage, angemessen zu fördern. Das geht in oft sehr starken Klassen vor allem zulasten der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, beeinträchtigt aber alle Betroffenen.

Die Situation im Primarstufenbereich ist gerade noch erträglich. Wichtig wäre aber, dass an jeder Grundschule ein Sonderpädagoge fest beschäftigt wird, nicht nur wegen der flexiblen Eingangsphase, sondern auch wegen der anderen Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf.

In der Sekundarstufe I gibt es erhebliche Verwerfungen. Es fehlen Sonderpädagogen, es fehlt eine systematische Weiterbildung für Regelschullehrer in sonderpädagogischen Handlungsfeldern und es fehlen Fortbildungsangebote.

LISUM und die Uni Potsdam können das derzeit nicht leisten. Es fehlt auch die zeitliche Entlastung der Regelschullehrer für die Zusammenarbeit mit den Sonderpädagogen, sodass vieles nur zwischen Tür und Angel besprochen werden kann. Die kontinuierliche Präsenz von Sonderpädagogen in Klassen mit gemeinsamem Unterricht ist nur in einem Viertel der Fälle gewährleistet. Es gibt ganz offensichtlich noch nicht einmal ein quantitatives Konzept der sonderpädagogischen Begleitung des gemeinsamen Unterrichts.

So funktioniert die von Ihnen, meine Damen und Herren der Koalition, verankerte Integration nicht. Die Ausbildung von jährlich 30 Sonderpädagogen in Berlin entspricht dem Bedarf in keiner Weise. Das novellierte Lehrerbildungsgesetz, nach dem Sonderpädagogen anderer Bundesländer das Referendariat in Brandenburg machen können, wird nicht ausreichend greifen. Der Anteil an sonderpädagogischen Modulen in der allgemeinen Lehrerbildung tendiert gegen null. Durch die derzeitige Personalpolitik - ich erinnere an die Umsetzungen - ist Fachkompetenz weiter gefährdet. Für uns ist derzeit nicht erkennbar, welche Strategie die Landesregierung zur Bewältigung dieser katastrophalen Bedingungen hat.

Unsicherheit gibt es auch bezüglich der allgemeinen Förderschulen. Welche Entwicklung plant die Landesregierung angesichts der sinkenden Schülerzahlen und unter Berücksichtigung der Ausweitung der flexiblen Eingangsphase sowie des gemeinsamen Unterrichts? Dies sollte genauso in ein Gesamtkonzept einfließen wie die Vorstellungen zur Entwicklung von Ganztagsschulen.

Bisher wurden Förderschulen kaum berücksichtigt, obwohl dies gerade für sie sinnvoll wäre. Die Horte verfügen seit Jahren selten über fachkompetente Erzieherinnen im Bereich der Sonderpädagogik. Eine angemessene Förderung findet daher oft überhaupt nur in der Schule statt.

Dem Förderschwerpunkt „emotionale und soziale Entwicklung“ muss aus unserer Sicht eine besondere Bedeutung zukommen. Zum einen ist die Zahl verhaltensauffälliger Kinder steigend. ADHS, Depressionen, Kontaktstörungen, Aggressivität, Bindungsstörungen, Suizidgefährdungen, Selbstverletzungen, Schulaussteiger sind nur wenige Erscheinungsformen von Störungen, die inzwischen zum Alltag an allen Schulen gehören. Das Vorhandensein von landesweit nur sieben Förderschulen für diesen Förderschwerpunkt, wobei es keine einzige Schule der Sekundarstufe I in diesem Bereich gibt, ist ein Problem. Für die schulische Erziehungshilfe fehlen Kapazitäten, auch wenn erfreulicherweise in diesem Semester 15 Sek-I-Lehrer im Fach Verhaltensgestörtenpädagogik in Berlin ausgebildet werden. Im Übrigen ist die Kopfnotendebatte auch für diesen Bereich völlig kontraproduktiv.

Zur Schaffung adäquater sonderpädagogischer Hilfen von der Frühförderung bis hin zur Berufsbildung müssen gerade für diesen Förderschwerpunkt neue Wege gegangen, Förderstufen und Förderangebote errichtet, die Kooperation mit außerschulischen Partnern erleichtert und die Ausformung der schulischen Erziehungshilfe verbindlicher geregelt werden.

Dies war nur ein unvollständiger Problemaufriss. Er macht aber sehr wohl den dringenden Handlungsbedarf deutlich. Vielleicht überraschen Sie uns, verehrte Damen und Herren der Koalition, einfach einmal und stimmen in Anerkennung der Notwendigkeit anders als erwartet ab.

Wir beantragen die Überweisung in den entsprechenden Ausschuss.

(Beifall bei der PDS)

Für die Koalitionsfraktionen spricht Frau Abgeordnete Siebke.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Ausführungen werden sehr kurz sein.

Der uns vorliegende Antrag der PDS-Fraktion geht mit Sicherheit auf den Besuch des Verbandes der Sonderschulpädagogen bei den Fraktionen zurück. Das ist ja auch vernünftig. Die Vertreter waren auch bei uns und haben - man kann das anhand der Spiegelstriche verfolgen - dasselbe vorgetragen. Die PDSFraktion hat daraus einen Antrag gemacht, der ein Gesamtkonzept fordert.

Sowohl der SPD- als auch der CDU-Fraktion - das zeigt auch der Koalitionsvertrag - ist die Förderung der Schüler mit sonderpädagogischem Bedarf ein großes Anliegen - das hat die SPD-Fraktion in den vergangenen Jahren bereits bewiesen -, und zwar insbesondere unter dem Aspekt der Integration.

Wir wissen, dass im Ministerium zurzeit an entsprechenden Konzepten gearbeitet wird. Die Sonderpädagogikverordnung wird geändert werden. Trotzdem sehen wir Handlungsbedarf.

Ich folge nicht allen Kritikpunkten, die Frau Große hier vorgetragen hat. Trotzdem denke ich, dass ineinander greifende Maßnahmen durchaus notwendig sind. Wir sehen also Handlungsbedarf.

Ich muss Sie, Frau Große, enttäuschen, denn wir stimmen Ihrem Antrag auf Überweisung in den Ausschuss zu.

(Beifall bei SPD, CDU und PDS)

Für die Fraktion der DVU spricht der Abgeordnete Nonninger.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die DVU-Fraktion hat eine fundierte schulische und berufliche Ausbildung höchste Priorität, da sie die Voraussetzung für eine erfolgreiche Zukunft unserer Kinder ist. Das gilt insbesondere für die Kinder und Jugendlichen, für welche eine sonderpädagogische Förderung notwendig ist.

Worum geht es in dem vorliegenden Antrag? - Die Landesregierung wird aufgefordert, bis Mai 2005 ein Gesamtkonzept für den sensiblen Bereich der Bildungspolitik, nämlich den der sonderpädagogischen Förderung, vorzulegen. Dabei soll die gesamte Bandbreite, angefangen von der Förderplanung über die Sicherung der sonderpädagogischen Förder- und Beratungsstellen und die Entwicklung des Unterrichts bis hin zur Qualifizierung und Fortbildung der betroffenen Lehrkräfte Berücksichtigung finden.

Die DVU-Fraktion fordert für das zu erstellende Konzept der Landesregierung eine Ausweitung des Angebots an teilstationären Integrationsstätten.

Des Weiteren sollte eine engere Zusammenarbeit zwischen therapeutischen Einrichtungen, Kindertagesstätten und Schulen angestrebt werden. Es kann nicht hingenommen werden, dass, wie jetzt bekannt wurde, bei 12 % der Vorschulkinder Auffäl

ligkeiten bei der Sprache bestehen. Auf diesem Gebiet besteht dringender Handlungsbedarf.

Äußerst bedenklich ist der Zustand, dass bei insgesamt drastisch sinkenden Schülerzahlen die Zahl der Schüler an den Förderschulen steigt. Hier müssen durch alle Beteiligten, insbesondere bei der Landesregierung, selbst die Ursachen ergründet werden und muss endlich gegengesteuert werden.

Meine Damen und Herren, die DVU-Fraktion stellt fest, dass auf vielen Feldern der sonderpädagogischen Förderung die Rahmenbedingungen verbessert werden sollten, und unterstützt daher den vorliegenden Antrag. - Ich bedanke mich.

(Beifall bei der DVU)

Für die Landesregierung spricht Minister Rupprecht.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Koalition hat das Anliegen des PDS-Antrags schon relativ ausführlich im Koalitionsvertrag behandelt. Dort werden die Sicherung und Weiterentwicklung der sonderpädagogischen Förderung gefordert und die Notwendigkeit erklärt, angesichts der bekannten Schülerrückgänge auch im Förderschwerpunkt Lernen verstärkt integrativ-kooperative Schulformen zu entwickeln. Mein Haus stellt sich diesen Herausforderungen und ist derzeit mit der konzeptionellen Arbeit zur Weiterentwicklung der sonderpädagogischen Förderung befasst. Hierbei können einige im PDS-Antrag vom 11.01.2005 aufgebauten Fragestellungen durchaus hilfreich sein.

Einige Sachverhalte, die im vorliegenden Antrag aufgeführt sind, spielen dabei eine wichtige Rolle. So wird eine Novellierung der Sonderpädagogikverordnung vorbereitet. Hierbei sind vor allem die Neufassung der Stundentafel der allgemeinen Förderschule, die Umstellung des Verfahrens zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs und die Stärkung der Verantwortung der sonderpädagogischen Förder- und Beratungsstellen zu nennen.

Weitere Schritte zur Weiterentwicklung der sonderpädagogischen Förderung bedürfen einer längeren Vorbereitung, sodass Ihre Forderung, bereits für Mai ein Konzept vorzulegen, leider völlig unrealistisch ist.

Ich gehe davon aus, dass im Rahmen der weiteren parlamentarischen Erörterung ein Text abgestimmt wird, der eine zielgenaue Weiterentwicklung in realisierbaren Fristen ermöglicht. Ich bitte Sie dabei um Verständnis und konstruktive Mitarbeit. Danke.

(Beifall bei SPD und CDU)

Ich schließe die Aussprache und wir kommen zur Abstimmung.

Die Fraktion der PDS beantragt die Überweisung des Antrages in der Drucksache 4/427 - Erarbeitung eines Konzepts zur

sonderpädagogischen Förderung - an den Ausschuss für Bildung, Jugend und Sport. Wer diesem Antrag Folge leisten möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Damit ist dem Antrag auf Überweisung einstimmig zugestimmt worden.

(Beifall bei der PDS - Bochow [SPD]: Wir sind immer wieder für eine Überraschung gut!)