Protocol of the Session on May 29, 2002

Welche Schlussfolgerungen ergeben sich daraus? Wir brauchen mehr Angebote zur familienpädagogischen Elternbildung, die sinnvollerweise mit Betreuungsangeboten für Kinder und einer Beschäftigungsförderung für Eltern verzahnt werden sollten. Beispiel hierfür ist das Head Start Programm in den USA.

Familienbildung muss in das Weiterbildungsgesetz aufgenommen werden. Das dichte Netz von Kinderbetreuungseinrichtungen in Brandenburg muss in verstärktem Maße für familienpädagogische Aufklärung und für niedrigschwellige Erziehungsangebote genutzt werden.

Wir müssen durch eine verbesserte psychologische Ausbildung die Erzieher und Lehrer in die Lage versetzen, Anzeichen für eine seelische Behinderung bei Kindern und Jugendlichen frühzeitig zu erkennen. Durch eine intensive Zusammenarbeit zwischen Schule, Elternhaus sowie Kinder- und Jugendhilfe sind umfangreiche Hilfs- und Beratungsangebote zu unterbreiten.

Die rechtlichen Möglichkeiten müssen ausgeschöpft werden, die Wahrnehmung der Erziehungsverantwortung bei Eltern einzufordern und notfalls mit Sanktionen durchzusetzen.

Gewalt in den Familien ist stärker in unserer Gesellschaft zu thematisieren. Noch immer ist für die Kinder die Wahrscheinlichkeit, physische Gewalt zu erleiden, in der Familie größer als auf dem Schulhof - entgegen anders lautender Meinung. Der gewaltfreie Umgang miteinander muss oberstes Ziel einer jeden Schule sein. Daher muss der Umgang mit Aggressionen und Frustrationen Bestandteil der Lehrerbildung und der schulischen Ausbildung sein.

Der Umgang mit Medien muss in der Schule, in der Elternarbeit, bei der Lehrerausbildung eine größere Rolle spielen. Auch müssen wir die Kontrollmechanismen gegenüber der Darstellung von Gewaltverherrlichung und gegenüber jugendgefährdender Inhalte in den Medien und im Internet verbessern.

Bei psychischen Fehlentwicklungen von Kindern und Jugendlichen ist ein Maßnahmenkatalog zu erstellen und das Ergebnis zu kontrollieren. In schweren Fällen ist eine Therapie in einer geschlossenen Einrichtung vorzusehen.

Ein Erziehungskonsens in der Schule ist nötig. Die Schule kann ihren Erziehungsauftrag nur dann wirksam erfüllen, wenn sich Schulleitung und Lehrkräfte gemeinsam mit den Eltern über

erzieherische Ziele und Vorgehensweisen im Rahmen eines gemeinsamen Erziehungskonzepts verständigen. Dazu gehört auch ein Grundbestand an sozialen Verhaltensregeln, auf deren Einhaltung konsequent geachtet werden muss.

Meine Damen und Herren, die Vorgänge von Erfurt haben deutlich gemacht, dass wir zusätzliche Anstrengungen für Bildung und Erziehung in Deutschland brauchen. Dabei ist es wichtig, die erzieherischen Kräfte zu stärken und zu bündeln, die in den Familien, im Kindergarten, in der Schule, in der Jugendarbeit, in den Vereinen, Organisationen und Institutionen unserer Gesellschaft bereits vorhanden sind. Wir müssen das Nachdenken sowie das Gespräch über Erziehung fördern, beispielhaftes Erziehungshandeln unterstützen und so eine konkrete gemeinsame Verantwortung für die nachwachsende Generation übernehmen. - Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei CDU und SPD)

Ich danke Ihnen, Frau Abgeordnete Blechinger.

Ich möchte Gäste im Landtag begrüßen, und zwar Schülerinnen und Schüler aus dem Gerberstadt-Gymnasium in DoberlugKirchhain. Herzlich willkommen!

(Allgemeiner Beifall)

Jetzt gebe ich das Wort an die Fraktion der PDS. Bitte schön, Frau Abgeordnete Große.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Die Bluttat am Erfurter Gutenberg-Gymnasium hat uns bis heute ratlos hinterlassen. Ratlos wegen des Ausmaßes an Gewalt, ratlos ob der Hilflosigkeit in der Reaktion darauf, ratlos wegen voreiliger Erklärungsmuster, ratlos wegen einseitiger Schuldzuweisungen an Eltern, Lehrer, Mitschüler.

Der anfänglichen Ratlosigkeit auch anderer folgten schnell, wir meinen, zu schnell, Interpretationen und Lösungsvorschläge aus der Antigewalt-Schublade, die unschwer den Parteien zuzuordnen waren: Anhebung des Volljährigkeitsalters, Verschärfung des novellierten Waffengesetzes, Videoindexe, Schlichterprogramme, Grenzen setzen, mehr Erziehung.

Heute findet also unsere Debatte gegen Gewalt statt, die wir begrüßen, wenn sie nicht folgenlos bleibt.

(Beifall bei der PDS)

Auch die PDS-Fraktion darf heute zehn Minuten lang so tun, als wäre sie nicht ratlos, weil ratlose Politiker nicht sein dürfen. Wir sind es aber noch immer.

Wo ist der Anfang des Ursachenknäuels, wie bekommen wir ihn zu fassen?

Robert Steinhäuser kam aus einer normalen Familie, war kein Einzelkind, war in seinem kurzen Leben eher unauffällig. Oder

hat man seine Auffälligkeit nicht erkannt, weil sie sehr lange nach innen gerichtet war, sich nur im Spiel nach außen entlud? Was führt dazu, dass einem 19-Jährigen das Leben anderer und sein eigenes Leben nichts mehr wert ist? Woher kommt so viel Hass? Was wissen Eltern von ihren Kindern, Lehrer von ihren Schülern, Schüler von ihren Mitschülern? Was wissen wir voneinander?

Die PISA-Studie hat belegt, dass immerhin drei Viertel aller getesteten Neuntklässler in normalen Familien, also mit Mutter und Vater, aufwachsen. Zerrüttete Familien als Ursache fallen also weitgehend weg.

Wie aber sind die Familien verfasst, organisiert? Wie geht man miteinander um? Hierzu sind die Befunde laut PISA schon problematischer. Nur 41 % der Schüler in Deutschland haben täglich ein Gespräch mit den Eltern, im OECD-Durchschnitt sind es 59 %, in Finnland 79 %. 18 % der getesteten deutschen Schüler sehen täglich fünf Stunden fern. Was sehen sie? Wer spricht mit ihnen über das Gesehene?

Sind Eltern in Deutschland aufgrund der ständigen Verdichtung von Arbeitsinhalten, Eltern, die einem erbarmungslosen Konkurrenzkampf ausgesetzt sind, nicht meistens zu erschöpft? Haben sie oder nehmen sie sich zu wenig Zeit für ihre Kinder? Bietet diese Gesellschaft nicht gerade durch auf Konkurrenz gerichtete Wirkungsmechanismen einen guten Nährboden für Gewalt?

(Beifall bei der PDS)

Ist nicht auch eine Gesellschaft, in der Politiker den Krieg als Mittel gegen Gewalt inzwischen als alternativlos darstellen, getötete Mütter und Kinder in diesen Kriegen als Kollateralschäden zwar bedauern, aber billigen, eine Gesellschaft, deren Politiker die uneingeschränkte Solidarität für den “Kreuzzug gegen das Böse” verkünden, sind die Politiker einer solchen Gesellschaft nicht eher unglaubwürdig im Ringen um Lösungen gegen Gewalt im eigenen Lande?

(Beifall bei der PDS)

Ich könnte diesen “Ratlos”-Fragenkatalog fortsetzen. Wir aber wollen heute zu Lösungen kommen in Verantwortung für dieses Land - ein schwieriges Unterfangen.

Als Vertreterin der Opposition fallen mir hier zuerst strukturelle und inhaltliche Defizite ein, die zumindest mitverantwortlich sein dürften für physische, psychische, nach innen gerichtete und strukturelle Gewalt, wie sie auch in unserem Land vorkommt. Sich in brutalster Gewalt entladender Rassismus forderte gerade in der letzten Woche ein Todesopfer in Wittstock.

Die gestern von der CDU aufgemachte Forderung nach Abschaffung der Stelle der Ausländerbeauftragten halten wir schon allein deshalb für geradezu skandalös.

(Beifall bei der PDS)

Ich leite deshalb aus dem von mir aufgemachten Fragenkatalog der Kürze wegen einen zunächst nur auf den Bereich Jugend und Bildung zielenden Forderungskatalog ab, der noch nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, in der Hoffnung - und

nach Ihrer Rede, Frau Kollegin Blechinger, bin ich guter Hoffnung -, offene Türen bei der Landesregierung und den Koalitionsfraktionen einzurennen. Wir sind uns angesichts der Komplexität dieses Themas im Klaren darüber, dass wir uns der Problembewältigung nur nähern; einen Versuch wäre es aber wert.

1. Wir fordern eine Konzeption zur Stärkung des Bereiches Eltern- und Familienbildung im Rahmen der Weiterbildung.

2. Wir fordern die sofortige Rücknahme der Novellierung des Kita-Gesetzes bezüglich der Einschränkung des Betreuungsanspruches.

3. Wir fordern einen Stopp beim Stellenabbau von Lehrpersonal; belassen Sie die 800 gestrichenen Stellen für 2002/2003 im System und weisen Sie diese den Schulen für Förder- und Teilungsangebote für Arbeitsgruppen und Gewaltpräventionsprojekte zu!

4. Wir fordern ein Sofortprogramm zum Erhalt von möglichst vielen Schulstandorten, damit gewachsene Bindungen von Schülern, Eltern und Lehrern nicht zerstört werden und zu lange Schulwege keinen Grund für Aggressionsstaus bilden.

5. Wir fordern eine Weiterbildungskonzeption zur besseren Befähigung der Lehrer im Bereich der psychologischen und pädagogischen Diagnostik.

6. Wir fordern die unverzügliche abstrichlose Stärkung des wertorientierten Faches LER und dessen zügige Installation im Grundschulbereich. Gute Vorschläge des LERFachverbandes liegen den Fraktionen seit heute vor.

(Beifall bei der PDS)

7. Wir fordern die Verstetigung der bisher tätigen 267 Schulsozialarbeiter - möglichst durch Festeinstellung - und die Erweiterung dieses Netzes.

8. Wir fordern die Erweiterung des Netzes der bisher tätigen 45 Schulpsychologen.

9. Wir fordern die schrittweise Reduzierung der Lehrerwochenstundenzahl für Lehrer aller Schulformen auf 25 und die Wiedereinführung der Klassenleiterstunde für alle Jahrgangsstufen.

10. Wir fordern gesetzliche Regelungen zur Zusammenarbeit von Schule, Eltern und Jugendhilfe.

11. Wir fordern Sie auf, bei der Kultusministerkonferenz zu intervenieren, wenn die Antwort auf PISA allein in mehr Tests und Vergleichsarbeiten besteht. Das führt zu noch mehr Versagensängsten bei Schülern und Lehrern und eröffnet noch mehr Möglichkeiten für Auslese.

12. Wir fordern Sie auf, die Haushaltskürzungen im Bereich Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit, im Sport und für ehrenamtliche Tätigkeiten zurückzunehmen.

Ich möchte mit einem Gedicht schließen, das Nadja Schumacher, Schülerin einer 9. Klasse, im Buch “Die Feder ist mächtiger als das Schwert” in einer im Rahmen des “Handlungskonzeptes Tolerantes Brandenburg” entstandenen Antologie veröffentlicht hat:

“Kennst du das auch? Du bist einsam unter vielen. Kennst du das auch? Du hast Freunde, aber keinen zum Reden. Kennst du das auch? Du schreist so laut und wirst nicht gehört. Kennst du das auch? Du brauchst Hilfe, aber keiner gibt sie dir. Kennst du das auch? Diese verdammte Einsamkeit.”

Meine Damen und Herren, sorgen wir uns also um die Probleme der Bürger dieses Landes und vergessen wir dabei nicht, uns um die Probleme unserer Kinder, Enkel, Partner und Freunde zu sorgen. Durchbrechen erst einmal wir “diese verdammte Einsamkeit”.