Protocol of the Session on April 4, 2001

Die zentrale Frage lautet: Wird Haushaltskonsolidierung in Bund und Ländern zum politischen Selbstzweck oder sind neben notwendigen Ausgabenbegrenzungen dauerhafte Einnahmenverbesserungen durch eine Verbesserung der Wirtschaftsund Sozialkraft politisch gewollt?

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte hier nicht darüber sprechen, wer zuerst welche Vorschläge zur Entwicklung der neuen Bundesländer eingebracht hat. Möglicherweise würde man über die Deckungsgleichheit mit bereits vorliegenden Vorschlägen einzelner Parteien, darunter der PDS, erschrecken.

Wichtig ist vielmehr, dass politische Einigkeit darüber besteht, dass neben der Diskussion um den Länderfinanzausgleich bereits jetzt dringender Handlungsbedarf besteht, da ansonsten bis zum Jahre 2005 die Chancen für Entwicklungen verloren gehen.

(Beifall bei der PDS)

Es geht darum, die wirtschaftliche und soziale Situation zu konsolidieren, Defizite abzubauen, Potenziale zu aktivieren bzw. zu reaktivieren und so eine Grundlage zu schaffen, um eine dauerhafte Alimentierung der neuen Bundesländer mit ihren gesellschaftlichen Folgen für die gesamte Bundesrepublik zu verhindern.

Darum schlage ich Ihnen folgende Punkte für ein Sonderprogramm Deutsche Einheit bis zum Jahre 2005 vor:

Erstens geht es um Aktivierung und Reaktivierung außenwirtschaftlicher und wissenschaftlicher Beziehungen zu Osteuropa unter Nutzung des Standortvorteils an der derzeitigen EU-Außengrenze.

Dabei ist die Neugestaltung der Hermes-Bürgschaften ein wesentliches außenpolitisches Instrument. Es geht um die Entwicklung lokaler Bürgschaftsrahmen, um die Markterschließung und um die Entwicklung von Kooperationsketten.

Ich begrüße auch, dass der Ministerpräsident bei den Petersburger Gesprächen einen Beitrag dazu leisten wird, die Beziehungen zu Russland zu aktivieren bzw. zu reaktivieren.

Zweitens geht es um die Stabilisierung der Binnennachfrage durch Wertschöpfung in den Teilräumen des Landes mittels Zusammenführung von Akteuren aus Wirtschaft, Politik, Verwaltung und Kommunen. Ein Beispiel dafür sind die nach wie vor nicht ausfinanzierten, nicht einmal mit einer Anstoßfinanzierung versehenen InnoRegio-Projekte im Land Brandenburg. Hier liegt ein Potenzial brach, das nicht nur Beschäftigung, sondern auch Wertschöpfung und Entwicklung bringen könnte.

(Beifall bei der PDS)

Drittens geht es um die Entwicklung der harten und weichen Infrastrukturmaßnahmen in Brandenburg und im Osten insgesamt. Betreffs der kommunalen Investitionspauschale besteht parteiübergreifend Einigkeit. Aber denken wir daran, dass Entwicklung auch die Sicherstellung der kulturellen Beziehungen in einer Region bedeutet. Man darf dies nicht entkoppeln.

Viertens geht es um die Stabilisierung der Beschäftigungspolitik in zwei Bereichen. Es geht einerseits um die Vernetzung von Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik - darüber besteht Einigkeit und andererseits darum, neue Beschäftigungsfelder, die nicht oder noch nicht von privatwirtschaftlichen Akteuren abgedeckt werden können, zu sichern. Wesentliche Teile der Tourismuspolitik im Osten und auch in Brandenburg, der gesamte soziale Bereich sowie die gesamte Jugendarbeit laufen über Arbeitsförderung. Eine Einschränkung in diesen Bereichen würde nicht nur die Aktivität Brandenburgs reduzieren, sondern insgesamt verheerende gesellschaftliche Folgen haben.

Frau Ziegler, ich stimme Ihnen zu: Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik soll man nicht gegeneinander ausspielen, sondern sie gemeinsam gestalten. Vielleicht schaffen wir es im Land Brandenburg, dies umzusetzen.

(Beifall bei der PDS)

Als fünften Punkt eines „Sonderprogramms Deutsche Einheit” schlagen wir die Entwicklung von Modellen für die Neuord

nung von Entscheidungskompetenzen bei Einsatz und Verwendung der Ressourcen durch die Zusammenfassung von Bundesprogrammen zur Entwicklung der Regionen sowie die Verlagerung von Entscheidungskompetenzen in die Länder vor. Meine Damen und Herren, ich bin für jede Unterstützung des Bundes dankbar, aber es ist nicht gerade förderlich, wenn jedes Ministerium seine eigenen Programme für die Entwicklung des Ostens auflegt, weil dadurch die Übersichtlichkeit der Förderung erschwert wird, die Zugangsmöglichkeiten beschränkt werden und wir insgesamt eine Potenzialerschließung verschenken. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Ich glaube, dass auch die Ministerpräsidenten dies auf ihrer Tagung thematisieren sollten.

Natürlich müssen die vorgeschlagenen Maßnahmen finanziert werden. Dazu möchte ich folgende Finanzierungsquellen vorschlagen und dabei auch auf die von Dr. Vogel, dem Ministerpräsidenten von Thüringen, vorgeschlagenen Finanzierungsquellen Bezug nehmen. Abweichend von ihm schlage ich Ihnen folgende Finanzierungsquellen vor:

Die erste Quelle wäre die Ausweitung der Bürgschaftspolitik von Bund und Ländern. Die Situation erfordert, dass die Risikobereitschaft der öffentlichen Hand in diesem Bereich weiter ausgeprägt werden muss.

Die zweite Quelle wäre der Einsatz der außerplanmäßigen Bundesbankgewinne in Höhe von 9 Milliarden Mark für die Entwicklung der neuen Bundesländer.

Die dritte Quelle liegt im Einsatz der Zinsgewinne aus den UMTS-Einnahmen ab dem Jahre 2004.

Die vierte Quelle wäre die Streckung des Zeitraumes bis zur beabsichtigten Steuerfreistellung der Veräußerung von Unternehmensanteilen im Rahmen der Steuerreform bis zum Jahre 2010. Dieser Punkt der Steuerreform ist für mich ein zentraler politischer Diskussionspunkt. Was geschieht hier eigentlich?

Ab 2002 ermöglichen wir es der Allianz, der Deutschen Bank, der Dresdner Bank und anderen, ihre nicht mehr benötigten Industrie- und anderen Unternehmensanteile im Rahmen ihrer Unternehmensstrategie steuerfrei zu veräußern. Wir sprechen hier nicht von ein paar Millionen Mark Verlusten für die öffentliche Hand, sondern von Dutzenden von Milliarden DM, die wir dringend brauchen, um die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung nicht nur im Osten zu stabilisieren.

(Beifall bei der PDS)

Zu diesem Punkt, meine Damen und Herren, möchte ich Ihnen eine Bundesratsinitiative vorschlagen, da die zusätzlichen Einnahmen für die öffentliche Hand aus dieser Streckung die Gegenfinanzierung der notwendigen Halbierung der Mehrwertsteuersätze bei arbeitsintensiven Dienstleistungen ermöglichen würden.

Meine Damen und Herren von der CDU, ich habe Ihre Perleberger Erklärung aufmerksam gelesen. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass neben dem Vorschlag auch eine Finanzierungsquelle genannt worden wäre. Das wäre ein Stück weit glaubhafter.

(Beifall bei der PDS)

Mit dieser steuerpolitischen Maßnahme würde nicht nur im Osten ein mittelstandsfreundliches Klima entstehen, würde Schwarzarbeit verringert und auch die Regionalentwicklung unterstützt werden. Frankreich hat es getan. Fahren Sie nach Frankreich, Sie werden sehen, dass der Anteil der Schwarzarbeit dort gravierend zurückgegangen, dass damit tatsächlich Regionalentwicklung initiiert worden ist.

Wir haben im Jahre 2002 noch einmal die Möglichkeit, bei der Europäischen Kommission für die Deutschland die Halbierung der Mehrwertsteuersätze für arbeitsintensive Dienstleistungen zu beantragen, und sollten dies tun.

(Beifall bei der PDS)

Die Gegenfinanzierung könnte durch eine solche Bundesratsinitiative tatsächlich sichergestellt werden.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Natürlich erfordert die Situation auch Anstrengungen der Länder selbst. Dabei sind mir folgende Punkte wichtig.

Wir brauchen erstens im Land Brandenburg eine Veränderung des Investitionsverständnisses, da eine Reihe von konsumtiven Ausgaben unter anderem in Bildung und Wissenschaft ihrem Charakter nach Investitionen und nicht Konsumtion sind. Mit einer solchen Herangehensweise wird es leichter, ressortübergreifend zu handeln und tatsächliche Prioritäten im Land Brandenburg umzusetzen.

(Vereinzelt Beifall bei der PDS)

Zweitens: Mittelfristige Finanzpolitik kann sich nicht auf das Stopfen akuter Haushaltslöcher reduzieren, sondern muss im Zusammenhang mit einer Prioritätensetzung Entwicklungen fördern, die die Einnahmesituation stärken. Meine Damen und Herren, Ihre Form der Haushaltskonsolidierung ist in meinen Augen gescheitert. Diesem Anspruch wird der Nachtragshaushalt nicht gerecht.

Drittens: Auch auf ordnungspolitischem Gebiet gibt es erheblichen Nachholbedarf. Das betrifft beispielsweise die dringend notwendige Verabschiedung eines Landesvergabegesetzes als ein wichtiges Instrument, um nicht nur die Bauwirtschaft, sondern regionale Entwicklungen insgesamt über die Aufträge der öffentlichen Hand zu stabilisieren.

(Beifall bei der PDS)

Viertens: Meine Damen und Herren, nutzen Sie endlich die Möglichkeit der Flexibilisierung des Einsatzes von EU-Mitteln durch die Anmeldung so genannter innovativer Maßnahmen und Globalzuschüsse bei der EU! Ich kann nicht verstehen, dass auf diese Potenzialerschließung bisher verzichtet worden ist. Ich möchte Sie an dieser Stelle dringend auffordern, den Zeitraum bis 2002 zu nutzen, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wir diese Maßnahmen tatsächlich anmelden können. Wir würden uns damit zwar nicht mehr Geld, aber die Möglichkeit eines flexiblen Einsatzes des vorhandenen Geldes schaffen.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ostdeutsche Akteure können selbstbewusst in die Ausgestaltung der deutschen Einheit gehen. Sie können dazu genauso selbstbewusst einen brei

ten Dialog aller gesellschaftlichen Kräfte einfordern, die in einem „Bündnis für Einheit” zielorientiert ein gesellschaftliches Klima schaffen, welches den Aufbau Ost endlich in die dringend notwendige gesamtgesellschaftliche Diskussion stellt. Die Dynamik eines Herrn Schwanitz erscheint mir dafür im Moment nicht zureichend zu sein. - Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der PDS)

Ich danke dem Abgeordneten Christoffers und gebe das Wort der Fraktion der SPD, dem Abgeordneten Fritsch.

Ehe Herr Fritsch am Rednerpult ist, möchte ich wieder Gäste begrüßen, und zwar Schüler aus dem Gymnasium „Friedrich Ludwig Jahn” aus Kyritz. Herzlich willkommen!

(Allgemeiner Beifall)

Bitte schön, Herr Fritsch.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das von der PDS heute hier beantragte Thema fällt in eine Zeit, in der man mitten in einer Diskussion zwischen Ländern der Bundesrepublik selbst und der Europäischen Union begriffen ist, in der die unterschiedlichsten Interessenlagen von Bund und Ländern, von Ost- und Westländern, von Geber- und von Nehmerländern aufeinander prallen und zwingend in einen Kompromiss eingebunden werden müssen, der deutlich macht, dass mit ihm die gesamte Entwicklung Deutschlands vorangetrieben wird; denn sonst werden wir die Solidarität der übrigen Bundesländer nicht einfordern können.

Bundestagspräsident Thierse hat mit fünf Thesen versucht, die Situation zu beschreiben. Er hat das Wort vom „Osten auf der Kippe” geprägt, ein Begriff, der auch den Begriff „Absturz” assoziiert und damit eindeutig den bisher im Osten erbrachten Aufbauleistungen nicht gerecht wird.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der CDU)

Aber als mahnendes Signal dafür, dass seit geraumer Zeit die Entwicklungen in Ost und West nicht mehr aufeinander zu, sondern wieder auseinander laufen,

(Vietze [PDS]: Wie erklären Sie das?)

sollten wir dieses Wort dennoch verstehen.