4. Im Ergebnis des Werbungsgespräches schrieb und unterzeichnete Herr Kuschel eigenhändig eine Verpflichtungserklärung, in der die Ziele und Grundsätze der Zusammenarbeit mit dem MfS bestätigt wurden. Die Erklärung hatte folgenden Wortlaut, ich zitiere:
„Angesichts der gegenwärtigen Verschärfung der internationalen Lage durch den Gegner sehe ich ein, dass es notwendig ist, alle Angriffe des Feindes gegen die DDR, die gesellschaftlichen Verhältnisse und die staatliche Sicherheit rechtzeitig zu erkennen, vorbeugend zu verhindern und wirksam zu bekämpfen. Mir ist bewusst, dass der Gegner durch die Organisierung und Inspirierung von übersiedlungsersuchenden DDR-Bürgern einen politischen Untergrund in der DDR und eine innere Opposition schaffen will. Deshalb sehe ich es als meine Pflicht an, das MfS bei der Aufdeckung und Bekämpfung dieser Angriffe meine ganze Kraft zur Verfügung zu stellen. Ich erkläre meine Bereitschaft, mir bekannt gewordene Sachverhalte wahrheitsgemäß, objektiv, aktuell und umfassend zu berichten, meine Feststellungen schriftlich
zu dokumentieren und bei bedeutsamen Erscheinungen und Vorkommnissen unverzüglich die Verbindung zum Mitarbeiter des MfS aufzunehmen. Ich verpflichte mich zur Wahrung der Geheimhaltung und die Regeln der Konspiration einzuhalten. Zur Gewährleistung einer konspirativen Verbindung und zur Unterzeichnung von Berichten wähle ich mir den Decknamen Fritz Kaiser. Ich bin darüber belehrt worden, dass ich bei einem Bruch dieser Verpflichtung, der schwerwiegende Folgen für die Sicherheit unseres Staates nach sich zieht, entsprechend den Gesetzen der DDR zur Verantwortung gezogen werden kann.“
5. Von diesem Zeitpunkt bis zur Beendigung der Zusammenarbeit mit dem MfS aufgrund dessen „wendebedingter“ Auflösung enthalten die Unterlagen der BStU Berichte über 14 regelmäßige Treffs auf der Grundlage entsprechender Niederschriften einer mündlichen Berichterstattung von Herrn Kuschel durch dessen Führungsoffizier sowie zwei handschriftliche mit Decknamen unterzeichnete persönliche Berichte von Herrn Kuschel.
In dem Treff am 13.04.1988, der in seinem Dienstzimmer stattfand, gab Herr Kuschel eine Einschätzung zur Wirksamkeit der Arbeitsgruppen im Wohn- und Freizeitbereich im Rahmen des Rückdrängungskonzeptes gegen Übersiedlungsersuchende. Er beurteilte die Arbeit einiger Arbeitsgruppen-Vorsitzender negativ. Herr Kuschel gab ferner „Kaderinformationen“ aus seinem Arbeitsbereich.
Bei dem Treff am 21.04.1988, der in seinem Dienstzimmer stattfand, berichtete Herr Kuschel über die Gewinnung von Kontaktpersonen sowie über ein Gespräch, das er dienstlich mit arbeitslosen Übersiedlungsersuchenden zur Prüfung ihrer bzw. der von ihnen ausgehenden „kriminellen Gefährdung“ geführt hatte. Eine Antragstellerin qualifizierte er im Auftreten als „undiszipliniert und provozierend“. Sie hatte unter anderem erklärt, einen Rechtsanwalt aufsuchen zu wollen.
In dem Treff am 29.04.1988, der in seinem Dienstzimmer stattfand, gab Herr Kuschel Informationen zu Übersiedlungsersuchenden. Er berichtete insbesondere über die Situation einer übersiedlungswilligen Familie und gab dabei die von dritter Seite erhaltene Behauptung weiter, der Mutter „sei der Abschluss der Klasse des Sohnes egal, bis zur Zeugnisübergabe sei sie nicht mehr in der DDR“. Er berichtete zudem, dass die Familie keine Gartenarbeit mehr durchführe und ihr Haus verkaufen wolle. Diese Informationen lieferte Herr Kuschel in einem mit Decknamen unterschriebenen handschriftlichen Bericht mit Datum 26.04.1988. Aus dem Treff
bericht ist erkennbar, dass diese Informationen einer konkreten operativen Personenkontrolle zugeordnet wurden. Der zweite im Zusammenhang mit diesem Treff in der BStU-Unterlage befindliche handschriftliche Bericht unter dem Datum 29.04.1988 betraf Fragen der Personalplanung und Stellenbesetzung im Arbeitsbereich von Herrn Kuschel als stellvertretender Bürgermeister für Inneres. Er enthält auch konkrete Personalangaben.
In dem Treff am 09.06.1988, der in seinem Dienstzimmer stattfand, gab Herr Kuschel einen Bericht über die „Kadersituation“ im Bereich Inneres des Rates der Stadt, der unter anderem das Verhalten des Bürgermeisters und dessen Aufgabenprioritäten kritisch bewertete.
In dem Treff am 08.07.1988, der beim Rat des Kreises stattfand, ging es wieder um konkrete Übersiedlungsersuchende und deren Arbeitsverhältnisse. Aus dem Treffbericht geht hervor, dass die Informationen unter anderem zur Erfassung in einem operativen Vorgang führten. Dem Treffbericht beigefügt ist das Protokoll einer dienstlichen Beratung, die Herr Kuschel in seiner Eigenschaft als stellvertretender Bürgermeister bezüglich der Unterschriftensammlung in einer Umweltangelegenheit am 01.07.1988 geführt hatte.
In dem Treff am 11.08.1988, der in seinem Dienstzimmer stattfand, berichtete Herr Kuschel kritisch über ehrenamtliche Arbeitsgruppen in den Wohnbezirken im Rahmen der Zurückdrängung von Übersiedlungsersuchen. Er benannte den verantwortlichen Mitarbeiter, der seiner Aufgabe nicht gerecht werde, gedanklich zu unbeweglich und zum Teil zu bequem sei. Es wurde festgelegt, dass Herr Kuschel auf dessen Mitarbeit „Einfluss“ nehmen sollte.
In dem Treff am 18.01.1989, der in seinem Dienstzimmer stattfand, ging es darum, Herrn Kuschel an einen neuen Führungsoffizier zu übergeben und mit einer neuen Einsatzrichtung bekannt zu machen. Er erhielt „in Würdigung seiner bisherigen Arbeit“ eine Geldprämie in Höhe von 200 Mark, die er unter seinem Decknamen gesondert quittierte.
In dem Treff am 20.01.1989, der im Dienstzimmer von Herrn Kuschel stattfand, berichtete er über die Vorbereitung und Kontrolle einer Faschingsveranstaltung in Großbreitenbach. Er gab ferner eine kritische Einschätzung der Mitglieder des Elferrats ab. Der Präsident könne sich nicht durchsetzen, ein anderes Mitglied habe negativen Einfluss auf die Mitglieder. Als Maßnahme vermerkt der Treffbericht, dass sämtliche Mitglieder des Elferrats „eingeschätzt“ werden sollten und dass die „operative Basis“ geprüft werden sollte.
In dem Treff am 23.01.1989, der im Dienstzimmer von Herrn Kuschel stattfand, wurde die Faschingsveranstaltung in Großbreitenbach ausgewertet. Neben organisatorischen Angaben berichtete Herr Kuschel auch über kritische Passagen aus der Büttenrede eines mit Namen und Arbeitsstelle benannten Elferratsmitglieds.
In dem Treff am 01.03.1989, der in seinem Dienstzimmer stattfand, musste Herr Kuschel im Rahmen einer „erzieherischen Maßnahme“ schriftlich zu einer Verletzung der Konspiration Stellung nehmen. Er gab darin folgende Erklärung ab:
„Ich erkenne diesen Fehler und erkläre hiermit, dass ich künftig über meine Zusammenarbeit mit der KD des MfS absolutes Stillschweigen wahre. Da ich in meiner Funktion beim Rat der Stadt Ilmenau öfters offiziell mit der KD des MfS zusammengearbeitet habe, war es auch für mein Umfeld in diesem Haus keine Besonderheit, dass auf diese Zusammenarbeit verwiesen wurde.“
In dem Treffbericht heißt es dazu: „Dem IM wurde klargemacht, dass die [Zusammenarbeit] mit dem MfS nur bei höchster Gewährleistung der Konspiration Erfolg hat. Es wurden die Grundregeln der Konspiration erläutert.“
Herr Kuschel gab ferner Informationen über Abgeordnete und Nachfolgekandidaten, die zur bevorstehenden Kommunalwahl nicht wieder kandidieren wollten. Aus dem Treffbericht geht hervor, dass die Informationen an die Abteilung XII des MfS zur Überprüfung weitergeleitet werden sollten.
In dem Treff am 07.03.1989, bei dem der Treffort nicht genannt ist, übergab Herr Kuschel Informationen über die Aufstellung der Wahlvorstände und der Wahlkommission in Vorbereitung der Kommunalwahl. Als Treffort für den nächsten Treff, der am 15.03.1989 stattfinden sollte, ist im Treffbericht die konspirative Wohnung „Heinz“ genannt.
Unter dem Datum 27.03.1989 befindet sich in den Unterlagen der BStU ein Beurteilungsvermerk des Führungsoffiziers. Herrn Kuschel wird bescheinigt, dass „mit den durch den IM erarbeiteten Informationen wesentliche Erkenntnisse für eine aktuelle Lageeinschätzung gewonnen werden [konnten] und vorbeugende Maßnahmen zur Verhinderung negativer Handlungen durch Antragsteller realisiert werden [konnten]“. In der bisherigen Zusammenarbeit sei deutlich geworden, „dass er in der Lage ist, zielgerichtet Personen abzuschöpfen“.
In dem Treff am 23.06.1989, der im „Waldeck“ stattfand, gab Herr Kuschel eine Personeneinschätzung über einen Mitarbeiter des Rates der Stadt, die ne
gative personenbezogene Bewertungen enthielt. Der Mitarbeiter erfülle seine Aufgaben nur mangelhaft, „da ihm die vernunftmäßigen Voraussetzungen fehlen“. Zu einer anderen Person berichtete er: „Da sie sich... oft daneben benahm (Sitzen auf Schreibtisch, schamloses Verhalten) wurde sie... schon mehrfach aus dem Haus verwiesen“. Herr Kuschel äußerte die Vermutung, „dass sie aufgrund ihrer Persönlichkeitseigenschaften möglicherweise gegenüber … über dienstliche Belange spricht“.
Herr Kuschel gab ferner eine Einschätzung zur kommunalpolitischen Situation in Großbreitenbach mit einer negativen Bewertung der Arbeit von konkret benannten Mitarbeitern des Rates der Stadt. Er wies ferner auf persönliche Probleme in seinem neuen Aufgabenbereich als Bürgermeister hin (Dienst-Kfz, Wohnungsfragen, Arbeitsbelastung).
Der letzte Treff fand am 02.10.1989 im Dienstzimmer von Herrn Kuschel statt. Er gab Informationen zu einer operativen Personenkontrolle mit der Bezeichnung „Anästhesist“, berichtete über Stimmungen und Meinungen in Großbreitenbach, gab eine Einschätzung zur Wirksamkeit der Ortsparteileitung der SED in Großbreitenbach und zur Jugendarbeit. Er wies insbesondere auf persönliche Probleme des FDJ-Ortssekretärs hin und informierte seinen Führungsoffizier über ein mitgehörtes Telefonat beim Pfarrer bezüglich eines ehemaligen Mitarbeiters der SED-Kreisleitung. Der Aktenvermerk enthält personenbezogene Angaben und hat im Übrigen folgenden Wortlaut: „Bei einem Besuch des IM beim Pfarrer von Großbreitenbach wurde durch ein Telefonat bekannt, dass die … den Pfarrer aufsuchen möchte, weil sie mit Problemen nicht fertig wird.“
1. In seinen Stellungnahmen sagt der Abgeordnete Kuschel, dass er aus politischer Überzeugung mit dem MfS in der beschriebenen Art und Weise zusammengearbeitet habe. Er habe gewusst, dass das MfS die von ihm erhaltenen Informationen geheimdienstlich verwende, er sei jedoch aus ehrlicher Überzeugung der Auffassung gewesen, dass Grundrechte Einzelner im Zweifel hinter den kollektiven Staatsinteressen zurückzutreten hätten. Dies sei aus seiner heutigen Sicht ein schwerer Fehler gewesen, auch ein moralisches Versagen und nicht zu entschuldigen. Bei der Bewertung seines Verhaltens müssten aber die damaligen gesellschaftlichen und politischen Umstände und seine staatsbejahende Erziehung und Ausbildung berücksichtigt werden.
2. Die Zusammenarbeit mit dem MfS sei im Übrigen eher dienstlich und nicht geheimdienstlich geprägt gewesen. Die Zusammenarbeit sei stets inner
halb seiner dienstlichen Zuständigkeit geblieben, er habe lediglich Informationen weitergegeben, die auf seiner beruflichen Tätigkeit und Kenntnis beruhten und die das MfS sich im Wege der offiziellen Zusammenarbeit ebenfalls habe beschaffen können. Er sei nicht zu Spitzeltätigkeiten auf Dritte angesetzt gewesen oder habe sich in dieser Weise betätigt. Durch seine Informationen sei nach seiner Kenntnis niemand zu Schaden gekommen. Die Treffs hätten überwiegend in seinem Dienstzimmer stattgefunden, es habe keinen Grund gegeben, die Gespräche außerhalb des Dienstzimmers zu führen. In Treffberichten werde sein Klarname genannt, die BStUUnterlagen enthielten auch offizielle Schreiben bzw. Protokolle von Dienstberatungen. Seine Belehrung wegen des Verstoßes gegen die Konspiration belege, dass es sich nach seiner Einstellung um eine Fortsetzung der offiziellen Zusammenarbeit gehandelt habe. Auch sein Deckname habe bereits vor der IM-Tätigkeit in seinem beruflichen Handeln Verwendung gefunden bei der Unterschrift unter Entlassungspapiere aus der DDR-Staatsbürgerschaft. Nach geltenden Verwaltungsanweisungen habe zur Vermeidung einer Identifizierung durch ausländische Behörden mit einem Decknamen unterzeichnet werden müssen, der mit den Anfangsbuchstaben des Klarnamens begann. Über die von ihm abgegebene Verpflichtungserklärung habe er sich keine Gedanken gemacht, sie eher als Zeichen einer von ihm begrüßten Zugehörigkeit zu den staatlichen Sicherheitsorganen gesehen. Die Zusammenarbeit mit dem MfS habe für ihn keine andere Qualität gehabt als seine bisherigen offiziellen Kontakte im Rahmen der dienstlichen Aufgaben. Seine Zusammenarbeit mit dem MfS habe im „rechtsfreien politisch gesteuerten Raum der DDR“ stattgefunden.
3. Im Hinblick auf die Übersiedlungsfälle sei er als stellvertretender Bürgermeister für Inneres in Ilmenau an der gesetzlich vorgeschriebenen Erarbeitung von „Rückdrängungskonzeptionen“ im Rahmen der Zuständigkeit der Stadt Ilmenau (Wohnraumfragen, Arbeitsplatzfragen) beteiligt gewesen. Hier habe es sich im Wesentlichen um „Gesprächsstrategien“ gehandelt, um die Antragsteller durch Lösung ihrer Probleme zur Antragsrücknahme zu bewegen. Er habe zwei bis drei Fälle bearbeitet und in zwei Fällen im Zusammenhang mit der Aussprache von „Arbeitsplatzbindungen“ die Zuführung der betroffenen Personen durch die Volkspolizei beantragt. Ihm sei klar gewesen, dass die Ablehnung der behördlichen Maßnahmen zu einer „Kriminalisierung und Drangsalierung“ der Antragsteller geführt habe und mit erheblichen behördlichen Eingriffen in deren Persönlichkeitsrechte verbunden gewesen sei. Bei übersiedlungswilligen Lehrern zum Beispiel sei mit der Antragstellung faktisch ein Berufsverbot verbunden gewesen. Er habe in solchen Fällen Vorschlagsrechte für eine „Arbeitsplatzbindung“ gemacht, wobei grund
sätzlich an die berufliche Qualifikation angeknüpft worden sei. Allerdings könne er eine unterqualifizierte Arbeitsverpflichtung im Einzelfall nicht ausschließen. Seine Aufgabe sei es gewesen, die Antragsteller zu veranlassen, entweder den Antrag zurückzunehmen oder die Antragsbearbeitung nicht zu stören. In dem konkreten Fall eines übersiedlungswilligen Lehrerehepaares, an den er sich erinnere, sei dieses nach Antragstellung durch das Ministerium für Volksbildung aus dem Schuldienst entlassen worden. Mangels Sozialhilfe in der DDR sei Mittellosigkeit eingetreten. Über seine Situation habe das Ehepaar ausländische Behörden informiert. Mit den Antragstellern wurden Gespräche geführt mit dem Ziel, die weitere Unterrichtung ausländischer Behörden zu unterbinden und gegebenenfalls eine Arbeit zuzuweisen. Er habe dem Ehepaar in seiner beruflichen Funktion qualifikationsangemessene Arbeitsangebote gemacht, um eine vorschriftswidrige Beschäftigung der Ehefrau als Reinigungskraft im Schulbereich zu beenden. Das Ehepaar habe die Angebote abgelehnt, so dass der Rat der Stadt eine Arbeitsplatzbindung ausgesprochen habe, die seines Wissens aber nicht vollzogen worden sei.
4. Die mit den Rückdrängungskonzeptionen verbundene Kriminalisierung der Antragsteller habe er für falsch gehalten, weil ihm bereits nach wenigen Monaten bewusst gewesen sei, dass die Antragsteller durch staatliche Maßnahmen von ihrem Ziel nicht abzubringen sein würden. Politik der DDR sei es gewesen, durch repressive Maßnahmen die Flut der Übersiedlungsanträge einzudämmen, doch habe auch die BRD die Antragsteller zur Schwächung der DDR instrumentalisiert. Er habe versucht, im Rahmen seiner Möglichkeiten auch die Interessen der Betroffenen zu berücksichtigen. So habe er z.B. im Fall der in den BStU-Unterlagen erwähnten übersiedlungswilligen Familie die weitere Antragsbearbeitung verzögert, um dem Sohn den Abschluss der Schulklasse zu ermöglichen und den Zusammenhalt der Familie sicherzustellen. Eine Lehrerin habe ihn informiert. Um zu verhindern, dass nur die Eltern ausreisen, während der Sohn in der DDR verbleibt, was die Eltern in der BRD sicherlich zum Anlass genommen hätten, der DDR unmenschliches Verhalten anzulasten, habe er das MfS informiert mit der Bitte, die Antragsentscheidung um zwei Monate zu verschieben. Der Sohn habe erklärt, nach Abschluss der Klasse mit seinen Eltern auszureisen.
Herr Kuschel vertrat im Zusammenhang mit den Übersiedlungssachverhalten ferner die Auffassung, dass das Verwaltungsverfahren bzw. sein offizielles Verwaltungshandeln zur Bearbeitung der Anträge für die Entscheidungsfindung des Erweiterten Gremiums nicht herangezogen werden dürfe, da es nicht Gegenstand der BStU-Unterlagen und des Prüfauftrags sei.
5. 1989 sei er als Bürgermeister nach Großbreitenbach gewechselt, um nicht mehr mit Übersiedlungsangelegenheiten zu tun zu haben. Nur durch Übernahme einer anderen Aufgabe im Staatsapparat der DDR habe er sich der Mitarbeit entziehen können.
Dies sei seiner Karriere nicht förderlich gewesen. Die Geldprämie des MfS habe er anlässlich dieses Wechsels erhalten. In Großbreitenbach, einem rüstungs- und militärpolitisch wichtigen Standort, habe er vor allem Stimmungsberichte geliefert, wobei die Situation der Partei- und Staatsführung im Laufe des Jahres 1989 durch die politische Entwicklung immer schwieriger geworden sei. Dies habe insbesondere zu „Kaderproblemen“ geführt und sei der Hintergrund für die personenbezogene Einschätzung, an die er keine Erinnerung habe. Auch ihm sei klar gewesen, dass die Kommunalwahl im Mai 1989 eine Farce gewesen sei; er habe das System aber nicht in Frage gestellt und weiter seine Arbeit gemacht.
Die Berichte über die Faschingsveranstaltungen in Großbreitenbach seien aufgrund offizieller Dienstberatungen verfasst worden. Er habe nach seiner Erinnerung nicht persönlich an den Faschingsveranstaltungen teilgenommen. An den Sitzungen des Faschingsvereins habe er teilgenommen, um die Durchführung der Faschingsveranstaltung zu ermöglichen. Alle Beteiligten hätten gewusst, dass die Veranstaltungen unter besonderer Beobachtung des MfS stehen würden und dass alle Reden beim Rat des Kreises Ilmenau, Abteilung Kultur, eingereicht werden mussten.
Zu dem Treff vom 02.10.1989, der einen Bericht über ein mitgehörtes Telefonat beim Pfarrer umfasst, macht Herr Kuschel geltend, dass er sich daran nicht erinnern könne. Grundsätzlich habe es während seiner gesamten Amtszeit in Großbreitenbach ein „aufgeschlossenes Verhältnis“ zwischen dem Pfarrer und ihm gegeben mit einem intensiven Informationsaustausch im Interesse der Bürger.
6. Was das MfS von seinen Informationen aufgezeichnet und weiterverwendet habe und mit welchen Absichten dies geschah, sei ihm nicht bekannt gewesen. Die Bewertungen und Charakterisierungen in dem Werbungsvorschlag seien reine Prognoseerwartungen, an denen er nicht mitgewirkt habe.
Im Übrigen stammten die Treffberichte nicht von ihm persönlich, sondern gäben die subjektive Sicht eines MfS-Mitarbeiters wieder. Sie seien daher in ihrem Beweiswert zweifelhaft, soweit sie sich nicht mit seinen eigenen Erinnerungen deckten.
7. Zu seiner Entlastung macht Herr Kuschel ferner geltend, er habe sich nach der Wende zu seinem Fehlverhalten bekannt und sich hierfür entschuldigt. Eine hauptberufliche politische Tätigkeit habe er aus diesem Grunde erst 2002 angestrebt. Durch sein politisches Engagement wolle er zur Aufklärung und Aufarbeitung beitragen. Seine Erklärungen zu seiner Tätigkeit für das MfS hätten bisher nur allgemeiner Natur sein können, weil sich konkrete Betroffene noch nicht an ihn gewandt hätten. Er habe seine politische Biographie auch gegenüber den Wählern stets offengelegt. Diese hätten in Kenntnis seiner IM-Tätigkeit ihre Wahlentscheidung getroffen. Er halte es für bedenklich, diese Wahlentscheidung nachträglich zu korrigieren.
8. Die Vertrauensperson des Abgeordneten Kuschel vertrat die Auffassung, dass das Erweiterte Gremium befangen und zu einer unvoreingenommenen Entscheidung über die Parlamentsunwürdigkeit nicht in der Lage sei. Sie begründete dies damit, dass Mitglieder des Erweiterten Gremiums am 11.11.2005 einem Antrag „MfS/AfNS-Mitarbeit und die Folgen für die Ausübung öffentlicher Ämter“ (Drucksache 4/1324) zugestimmt hätten, der unter anderem dem Zweck gedient habe, zu bekräftigen, dass Abgeordnete, die mit dem MfS zusammengearbeitet hätten, parlamentsunwürdig seien.
Die Vertrauensperson hat darüber hinaus grundsätzlich sowie im Einzelfall die Rechtmäßigkeit der gesetzlichen Grundlage des Überprüfungsverfahrens und der Verfahrensgestaltung in Zweifel gezogen.
9. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 23.05.2006 machte der Abgeordnete Kuschel geltend, dass in dem bisherigen Verfahren seitens des Erweiterten Gremiums erhebliche Verfahrensfehler begangen worden seien, die zur Einstellung oder aber Wiederholung der Überprüfung führen müssten. Er vertrat insbesondere die Auffassung, dass bereits vor der Eröffnung und Erörterung gemäß § 5 Abs. 2 Thüringer Abgeordnetenüberprüfungsgesetz das Erweiterte Gremium seine abschließende Entscheidung nach § 6 Abs. 1 Thüringer Abgeordnetenüberprüfungsgesetz getroffen habe. Dies sei eine unzulässige Beschränkung seiner Verteidigungsrechte. Zudem habe der Abgeordnete Schröter aus den bereits in Ziffer 8 genannten Gründen wegen Befangenheit nicht an dem Verfahren teilnehmen dürfen. Die vom Thüringer Abgeordnetenüberprüfungsgesetz vorgesehene Feststellung der „Parlamentsunwürdigkeit“ sei im Übrigen trotz Beibehaltung des Mandats ein erheblicher Eingriff in seinen Abgeordnetenstatus.
10. Über die bereits genannten Punkte hinaus machte der Abgeordnete Kuschel in seiner abschließenden Stellungnahme vom 14.06.2006 geltend, dass
er ein Verfahren, welches als Beweismittel nur die BStU-Unterlagen und die Stellungnahmen des betroffenen Abgeordneten zulasse, für unzureichend und als unverhältnismäßigen Eingriff in den Abgeordnetenstatus ansehe. Für die Öffentlichkeit werde ohne zureichende Beweiserhebung und Beweiswürdigung zu Unrecht der Eindruck erweckt, er habe vor 1989 schwere Menschenrechtsverletzungen und strafwürdige Handlungen begangen und sei zudem unbelehrbar.
1. Unter Zugrundelegung der Maßstäbe, die insbesondere von der Verfassungsrechtsprechung, aber auch durch die Forschungstätigkeit der BStU herausgearbeitet worden sind, steht zur gesicherten Überzeugung der stimmberechtigten Mitglieder des Erweiterten Gremiums zunächst fest, dass der Abgeordnete Kuschel wissentlich als inoffizieller Mitarbeiter mit dem MfS zusammengearbeitet hat. Die Unterlagen der BStU sind insoweit eindeutig. Der Abgeordnete bestreitet die wissentliche inoffizielle Zusammenarbeit nicht.
2. Im Rahmen seiner Entscheidung, ob diese Zusammenarbeit eine Bewertung als „parlamentsunwürdig“ begründet, hat die überwiegende Mehrheit der stimmberechtigten Mitglieder des Erweiterten Gremiums die Erkenntnisse aus den Unterlagen der BStU und den Stellungnahmen des Abgeordneten wie folgt be- und entlastend berücksichtigt:
Herr Kuschel hat dem MfS in seiner Zeit als stellvertretender Bürgermeister für Inneres entsprechend seinem Auftrag als IM unter anderem personenbezogene Informationen zu Übersiedlungsantragstellern geliefert. Im Rahmen des Treffs am 21.04.1988 nannte er Namen und qualifizierte eine Antragstellerin als „undiszipliniert und provozierend“. In seinem handschriftlichen Bericht vom 26.04.1988 nannte er Namen einer übersiedlungswilligen Familie, berichtete über die angebliche Haltung der Mutter angesichts der Schulsituation des Sohnes und darüber, dass die Familie keine Gartenarbeiten mehr durchführe und ihr Haus verkaufen wolle. Diese Informationen aus dem Bereich der privaten Lebensgestaltung waren ein Eingriff in die Privatsphäre der Antragsteller. Ihre Weitergabe stellte eine Verstoß gegen den Artikel 17 des Internationalen Pakts über zivile und politische Rechte dar. Herr Kuschel wusste aufgrund seiner Verpflichtungserklärung und seiner beruflichen Funktion im Staatsapparat der DDR, dass die von ihm gelieferten Informationen zur Bekämpfung, Zurückdrängung und Verhinderung von Übersiedlungsbestrebungen und damit zum Nachteil der betroffenen Antragsteller genutzt wurden. Aus mehreren der vorliegenden Treffberichte geht klar hervor,
dass die von Herrn Kuschel gelieferten Informationen in eigenständige weitere Maßnahmen des MfS einflossen, z.B. Überprüfung und operative Personenkontrollen. Eine konkrete Kenntnis der Verwendung im Einzelfall und eine besondere Schädigungsabsicht ist entsprechend der überzeugenden Darlegung der BStU seitens des IM nicht erforderlich. Insoweit kommt es auch nicht darauf an, dass Herr Kuschel der Auffassung ist, er habe niemandem geschadet. Die Informationsweitergabe war daher eine Tätigkeit für das MfS zum Schaden anderer Bürger.