Protocol of the Session on January 28, 2005

Meine Damen und Herren Abgeordneten, ich begrüße Sie recht herzlich heute Morgen zu unserer Plenarsitzung, Sie, die Damen und Herren Abgeordneten, die Regierungsvertreter, die Vertreter der Medien und insbesondere unsere Gäste auf der Tribüne. Neben mir haben die Abgeordnete Künast und Abgeordnete Walsmann als Schriftführer Platz genommen. Die Rednerliste wird von der Abgeordneten Walsmann geführt. Es haben sich für die heutige Sitzung entschuldigt Ministerin Diezel, der Abgeordnete Hausold und der Abgeordnete Ohl.

Ich möchte Ihnen zur Tagesordnung folgende Hinweise geben: Die Landesregierung hat ihren Antrag, Mitgliedschaft von Mitgliedern der Landesregierung in Gremien gemäß Artikel 72 Abs. 2 der Verfassung des Freistaats Thüringen in Drucksache 4/519, die Ihnen vorliegt, zurückgezogen. Damit ist der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD in Drucksache 4/548 als nicht selbständiger Antrag gegenstandslos. Das heißt, der Tagesordnungspunkt 11 entfällt heute somit.

(Beifall bei der CDU)

Ich komme zum Aufruf des Tagesordnungspunkts 1

Regierungserklärung zur Politischen Kultur im Freistaat Thüringen (Thü- ringen-Monitor 2004)

des heutigen Tages. Ich bitte Herrn Ministerpräsidenten Dieter Althaus um die Regierungserklärung.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, gestern haben wir der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Vor 60 Jahren wurden die wenigen Überlebenden des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz von russischen Soldaten befreit. Auschwitz, ein Ort des Todes und der Barbarei, Synonym für den millionenfachen Mord an Juden, Sinti und Roma, Russen, Polen und den vielen anderen Volksgruppen und unschuldigen Menschen, die von den Nationalsozialisten gequält, zu Tode gefoltert, vergast wurden. Im Vernichtungslager Auschwitz, aber auch in Konzentrationslagern wie Buchenwald und MittelbauDora wurde die Würde des Menschen mit Füßen getreten. Die Geschichte Deutschlands, meine sehr verehrten Damen und Herren, im 20. Jahrhundert

hat auf entsetzliche Weise gezeigt, wohin politischer Extremismus führen kann. Es gehört zur besonderen Tragik der Geschichte, dass nach dem Ende der Hitlerdiktatur zunächst nur ein Teil Deutschlands die Chance bekam, sich zu einer freiheitlichen Demokratie zu entwickeln. Das alles darf nicht in Vergessenheit geraten. Sechzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg gibt es nur noch wenige Zeitzeugen, die aus erster Hand berichten können, wie es war. Gestern haben wir mit Professor Cramer einen dieser Zeitzeugen hier erlebt. Kaum 16 Jahre nach der friedlichen Revolution von 1989 droht auch die Erinnerung an das SED-Regime zu verblassen. Umso wichtiger ist es, gerade jungen Menschen Kenntnisse über die historischen Zusammenhänge zu vermitteln - an den Schulen, aber auch durch vielfältige Maßnahmen der politischen Bildungsarbeit.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin dankbar, dass die Landeszentrale für politische Bildung die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen wach hält und bei ihren Publikationen und Ausstellungen einen besonderen Schwerpunkt auf dieses dunkle Kapitel deutscher Geschichte legt, damit wir aus den leidvollen Erfahrungen mit zwei überstandenen Diktaturen, die es im 20. Jahrhundert auf deutschem Boden gab, die richtigen Konsequenzen für die Zukunft ziehen. Auch die Arbeit der Stiftung Ettersberg, die vergleichende Erforschung europäischer Diktaturen und deren Überwindung durchführt, leistet einen wesentlichen, aufarbeitenden, aber damit auch zukunftsprägenden Auftrag. Die zentrale Gedenkveranstaltung des Bundes, die anlässlich der Befreiung der Konzentrationslager vor 60 Jahren am 10. April in Weimar stattfindet, ist wohl eine der letzten besonderen Gelegenheiten, in so einem großen Rahmen sich gemeinsam mit ehemaligen Häftlingen des KZ Buchenwald gegen das Vergessen zu wenden. Was Weimar so einmalig macht, ist seine Janusköpfigkeit. Jorge Semprún hat diese Ambivalenz eindringlich beschrieben. Er konstatierte in Weimar eine - so wörtlich - "unheimliche Nähe zwischen moderner Barbarei und klassischer Kultur".

Wir alle bleiben zur Wachsamkeit aufgefordert, zur Wachsamkeit vor jeder Form von Extremismus und Totalitarismus, vor jeder Form von Intoleranz und Fremdenhass. Gefordert sind heute und morgen der Mut zum Widerspruch und die Bereitschaft, schon den Anfängen extremistischer Tendenz entschieden entgegenzutreten: dem Schüren von Vorurteilen, der Verherrlichung von Gewalt und Unrecht, der Ausgrenzung von anders Denkenden, aber auch der Radikalisierung der eigenen Sprache. Ernst Cramer hat gestern in seiner bewegenden Rede hier an dieser Stelle gesagt, wenn er an die Untaten erinnert werde, die zwischen 1933 und 1945 von Deutschen be

gangen wurden, vergesse er dabei nie die Rechtswidrigkeiten, ja die Verbrechen, die zwischen 1945 und 1989 hier verübt wurden, zu einem bedeutendem Teil auch von Deutschen, so seine Aussage. Es liegt mir fern, Nationalsozialismus und Kommunismus auf eine Stufe zu stellen, denn der systematisch geplante Massenmord im Dritten Reich lässt sich nicht mit anderen Verbrechen vergleichen. Aber die Diktaturerfahrungen sind in ihrer Lehre eindeutig. Die linksextremistischen Bestrebungen, unsere Freiheit zu beseitigen, sind nicht harmloser. Auch dabei wird die Menschenwürde missachtet. Nein, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir dürfen auf keinem Auge blind sein, weder auf dem rechten noch auf dem linken.

(Beifall bei der CDU)

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, der Bericht der Landesregierung, den ich heute vorlege, befasst sich mit wesentlichen Aspekten der politischen Kultur in Thüringen. Dazu gehört selbstverständlich auch in diesem Jahr, sich mit der Problematik von Extremismus und Fremdenfeindlichkeit auseinander zu setzen. Dabei stütze ich mich vor allem auf die Ergebnisse einer Studie, die in unserem Auftrag bereits zum fünften Mal von Wissenschaftlern der Universität Jena erarbeitet worden ist. Dem Thüringen-Monitor 2004 liegt eine repräsentative Telefonumfrage unter 1.000 wahlberechtigten Thüringerinnen und Thüringern zugrunde, die im vergangenen September durch das Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap durchgeführt wurde. Ich möchte mich ausdrücklich beim Forscherteam für seine sehr umfangreiche Arbeit bedanken.

Die wissenschaftliche Untersuchung befasst sich dieses Mal schwerpunktmäßig mit den Einstellungen der Thüringerinnen und Thüringer zum Sozialstaat, die - so die Wissenschaftler wörtlich - "ein ganz entscheidender Faktor für die Fundierung und Stabilität der Einstellungen auch zur Demokratie" sind. Für den Thüringer "Mikrokosmos" stellen die Forscher ein besonders wichtiges Ergebnis fest. Die - so wörtlich - "feinen Risse im demokratischen Fundament" haben sich wider Erwarten nicht verbreitert, im Gegenteil, die Zufriedenheit mit der Demokratie ist gestiegen, sie wird stärker unterstützt, obwohl sich die Bewertungen der allgemeinen wirtschaftlichen Lage deutlich verschlechtert haben. Dieser Befund, so meine ich, ist für uns alle ermutigend, darf uns allerdings nicht dazu verleiten, in unserer Wachsamkeit nachzulassen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, nach jüngsten Medienberichten haben die rechtsextremen Parteien, z.B. die NPD und die DVU, eine enge Zusammenarbeit bei Wahlen vereinbart. Sie wollen abwechselnd antreten und gegenseitig Kandidaten der

anderen Partei auf ihren Listen aufnehmen. Darüber hinaus wird verstärkt um Anhänger der Republikaner geworben. Wir sind froh, dass im Thüringer Landtag keine rechtsextremistischen Parteien vertreten sind. Aber fest steht auch,

(Beifall bei der CDU, SPD)

die NPD konnte bei der letzten Landtagswahl hier in Thüringen ihren Stimmenanteil immerhin von 0,2 auf 1,6 Prozent ausbauen und auch die Republikaner, die laut Verfassungsschutzbericht 2003 aus ihrer Fremdenfeindlichkeit und anderen rechtsextremistischen Ressentiments keinen Hehl machen, gewannen prozentual hinzu, sie liegen bei 2 Prozent nach 0,8 Prozent im Jahr 1999. Nach den Wahlergebnissen der rechtsextremen NPD und DVU in Sachsen und Brandenburg rechnet das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz auch bei uns mit Aktivitäten in dieser Szene. Es ist zu beobachten, dass z.B. Freie Kameradschaften und NPD beim geplanten Aufbau einer "Volksfront von Rechts" stärker zusammenrücken. Der NPD-Bundesparteitag in Leinefelde war eine besondere Provokation für alle Demokraten und es ist bedauerlich, dass sich das Treiben dieser Verfassungsfeinde nicht verhindern ließ. Ich betone nochmals, Extremisten sind in Thüringen ausdrücklich nicht willkommen und sie sind nicht erwünscht.

(Beifall bei der CDU, SPD)

Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang eine Bemerkung zu den Ergebnissen und Ereignissen, die sich letzte Woche im Sächsischen Landtag abgespielt haben. Die NPD hat sich durch ihr Verhalten wie durch ihre Reden erneut selbst entlarvt. Es ist ganz und gar unerträglich, dass Rechtsextremisten in einem deutschen Parlament Hasstiraden und übelste Naziparolen von sich geben können. Ich verstehe sehr gut, dass ein neues Nachdenken über ein Verbot der NPD eingesetzt hat. Aber ich warne ausdrücklich vor übereilten Schritten. Noch ein Scheitern eines Verbotsantrags beim Bundesverfassungsgericht wäre eine politische Katastrophe und außerdem sind die Ideen und die Ideenträger deshalb nicht verboten. Die politische Auseinandersetzung steht in Sachsen und in ganz Deutschland im Mittelpunkt. Es muss dazu einen gesellschaftlichen Grundkonsens geben. Neonazis und Rechtsextremisten dürfen in Deutschland nie wieder eine Chance haben. In den alten Ländern ist es über Jahrzehnte hinweg gelungen, diesen Grundkonsens zu erhalten, ja zu festigen. Die NPD war stigmatisiert. Dies muss uns auch, so meine ich, in den jungen Ländern gelingen, nicht nur, weil Ergebnisse und Ereignisse wie die in Dresden dem Ansehen Deutschlands schaden - das ohnehin -, sondern weil ein für alle Mal klar sein muss, die freiheitliche Demokratie

der Bundesrepublik Deutschland darf niemals mehr in Gefahr geraten.

(Beifall bei der CDU)

Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist die politische Auseinandersetzung auch nicht durch schweigende Verachtung zu ersetzen.

(Beifall bei der SPD)

Das allein reicht nicht. Verachtung ist wesentlich, unstreitig, aber Schweigen wäre der ganz falsche Weg.

(Beifall bei der PDS)

Es gibt ernst zu nehmende Hinweise des Verfassungsschutzes in Thüringen, dass Angehörige der Skinhead- und Neonaziszene geplant haben, an Jugendtreffpunkten und vor Schulhöfen 50.000 CDs mit rechtsextremistischer Rockmusik zu verteilen und der CD sollten Propagandamaterial und Kontaktinformationen beigegeben werden. Dass wir allen Grund haben, wachsam zu sein, zeigen z.B. die Aktivitäten einer Gruppe von elf Frauen und Männern zwischen 18 und 27 Jahren, die sich unter dem Namen "Nationaler Widerstand Weimar" zu so genannten Wehrübungen getroffen haben. Bei Wohnungsdurchsuchungen im Oktober 2004 fand die Polizei Waffen, Munition und rechtsextremistisches, rechtsradikales Propagandamaterial.

In welchem Maß rechtsextreme Einstellungen in der Bevölkerung verbreitet sind, darüber gibt auch in diesem Jahr die Jenaer Studie Auskunft. Die Wissenschaftler haben bei den meisten Aussagen keine nennenswerten Veränderungen gegenüber 2003 festgestellt. In der Regel sind die Zustimmungsraten gesunken - ein sehr positiver Aspekt. Das gilt auch für die nationalistische Aussage: "Was unser Land heute braucht, ist ein hartes und energisches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland." Dieser Meinung sind 63 Prozent der Befragten, ein nach wie vor sehr hoher Zustimmungswert nach 66 Prozent im Vorjahr und 2002 lag er deutlich niedriger, bei 53 Prozent. Wie sich dieser sprunghafte Anstieg von 2002 auf 2003 um 13 Prozent erklären lässt, muss sicher im Detail untersucht werden, aber es liegt die Vermutung nahe, dass auch ein Zusammenhang mit dem Ausbruch des Irak-Krieges und der kategorischen Absage der Bundesregierung an den Kurs der USA besteht. Das Durchsetzen nationaler Interessen ist legitim, aber nicht auf eine Weise, die unsere Freunde und Verbündeten vor den Kopf stößt. Es darf nie wieder der Eindruck entstehen, Deutschland strebe einen Sonderweg an. Beunruhigend ist die sozioökonomisch motivierte Ausländerfeindlichkeit, die zum dritten Mal in Folge gestiegen ist. In ei

ner Zeit wachsender sozialer Spannungen unterstellen immerhin 57 Prozent der Befragten den Ausländern, nur nach Deutschland zu kommen - so wörtlich in der Studie - "um unseren Sozialstaat auszunutzen". Die Wissenschaftler kommen zu dem Schluss, dass die ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger "verstärkt als Konkurrenten um die knappe Ressource Sozialleistungen" angesehen werden. Die Forscher sagen, dass autoritäre Persönlichkeitsmerkmale einen sehr starken Einfluss auf die Heranbildung rechtsextremer Gedankenmuster haben - ein Befund, der sich mit den früheren Resultaten deckt. Im Vergleich dazu spiele die Bewertung des Sozialstaats und seiner Reformen "nur eine geringe Rolle für die Ausbildung rechtsextremer Orientierungen". Gleichwohl vertreten Arbeitslose bzw. Menschen, deren Arbeitsplatz als unsicher gilt, überdurchschnittlich rechtsextreme Positionen. Besonders anfällig für rechtsextremes Gedankengut sind Personen mit einem Bildungsabschluss der unter POS- bzw. Realschulniveau liegt - keine neue und keine überraschende Erkenntnis, aber ich weise einmal mehr darauf hin, weil wir uns nicht oft genug klar machen können, dass der Bildung eine besondere Bedeutung zukommt.

(Beifall bei der CDU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist erfreulich, dass die Zahl der Ermittlungsverfahren mit rechtsextremistischem Hintergrund im vergangenen Jahr um rund 11 Prozent zurückgegangen ist, immerhin der vierte Rückgang in Folge nach dem beunruhigenden Spitzenwert des Jahres 2000 - auch eine Leistung der Thüringer Polizei und der Thüringer Justiz.

(Beifall bei der CDU)

Zur linksextremistisch motivierten Kriminalität liegen leider noch keine Daten für das Jahr 2004 vor, aber es deutet sich an, dass die Fallzahlen nach einem starken Anstieg im Jahr 2003 wieder rückläufig sind. Dennoch schätzt das Landeskriminalamt ein, dass die Gewaltbereitschaft von Einzelnen in dieser Szene gestiegen ist. Das bedeutet - und das muss auch klar bleiben - jede extremistische Tat ist eine zu viel und gibt Anlass zur Sorge und muss mit aller Konsequenz bekämpft werden.

(Beifall bei der CDU)

Das heißt, Extremismus und damit verbundene Gewalttaten entstehen überall in der Gesellschaft, wo Gewalt als ein Mittel zur Konfliktlösung angesehen wird. Es ist die Aufgabe aller Demokraten, die Kultur der Gewaltlosigkeit immer weiter zu etablieren, in der Konflikte mit Hilfe der demokratischen Spielregeln gelöst werden.

(Beifall bei der CDU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, deswegen ist es so wichtig, die politische Bildung als wesentliches Angebot zur Demokratieerziehung und Grundwerteorientierung zu befördern. Politische Bildung leistet einen unverzichtbaren Beitrag zur Entwicklung und Festigung demokratischer Einstellungen und Verhaltensweisen und dabei geht es um wie wir wissen - einen lebenslangen Lernprozess in diesem Bereich. Neben der Familie spielt die Schule die herausragende Rolle bei der Vermittlung von Demokratieverständnis und auch beim Erwerb sozialer Kompetenz. Schule ist der Ort, an dem eben nicht nur Wissen, sondern auch Werte und Verhaltensregeln vermittelt werden sollen und müssen. Deshalb ist es unser Ziel, in diesem "Europäischen Jahr der Demokratieerziehung" noch stärker als bisher auf die Erziehung zur Gewaltfreiheit zu achten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt viele gute und Erfolg versprechende Präventivmaßnahmen gegen Gewalt und Extremismus an Thüringer Schulen. Ich nenne zwei Beispiele: ein Projekt zur Mediation - Streitschlichtung -, an dem sich zurzeit rund 70 Schulen beteiligen, und das länderübergreifende Förderprogramm "Demokratisch handeln", das sich an Schüler, Lehrer und Eltern richtet und praktische Formen politischer Bildung stimuliert. Bisher beteiligen sich Baden-Württemberg, Brandenburg, Hessen, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen an diesem Programm. Auf unsere Initiative werden künftig auch das Saarland und Schleswig-Holstein das Projekt unterstützen. Gewaltprävention ist also ein wichtiger Teil der Sozialarbeit. Die im Sozialministerium angesiedelte "Koordinierungsstelle Gewaltprävention" unterstützt die Ministerien sowie die nachgeordneten Landesbehörden und ist auch Ansprechpartner für Kommunen und für jeden, der nach Netzwerk sucht und Maßnahmen entwickeln möchte. Schwerpunkte der Arbeit der "Koordinierungsstelle Gewaltprävention" sind Prävention gegen Gewalt, die durch politischen Extremismus, Antisemitismus oder Fremdenfeindlichkeit motiviert ist; Gewaltprävention an Schulen und im häuslichen Umfeld; Beratung und Unterstützung gewaltpräventiver Gremien in den Kommunen und als Ansprechpartner für entsprechende Initiativen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wird deutlich, entscheidend ist, wie steht jeder Einzelne zur Demokratie und welches Bekenntnis gibt er auch zur Demokratie ab. Nach den Erfolgen rechtsextremer Parteien in Brandenburg und Sachsen ist vor einem Rückgang der Demokratieunterstützung in den jungen Ländern gewarnt worden. Auch vor diesem Hintergrund bin ich sehr froh, dass die Demokratiezufriedenheit und das Vertrauen in die Institutionen des Rechtsstaats gegenüber dem Vor

jahr deutlich gestiegen sind. Die Studie macht deutlich, in Thüringen verfügt die Demokratie über ein "festes Wurzelwerk".

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist eine positive Botschaft, weil auf diesem "festen Wurzelwerk" auch unsere Arbeit und die Arbeit der demokratischen Institutionen in diesem Land auf allen Ebenen erfolgreich weiterentwickelt werden können. Dieses Wurzelwerk durchzieht drei Ebenen: Die Werte-Ebene, da geht es um Unterstützung der Demokratie als Staatsidee. Fritz Stern sprach immer von Systemvertrauen, das vorhanden sein muss, das heißt die Akzeptanz der demokratischen Entscheidungsträger und Verfahren. Das wird dann wieder auf der nächsten Ebene, dem demokratischen Prozess, gemessen. Erstmals stehen in diesem Jahr auch Daten zur Strukturebene zur Verfügung. Sie drücken die Zufriedenheit mit dem politischen System aus, das durch die Verfassung vorgegeben ist.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein Blick auf die Einzelergebnisse zeigt, dass sich die Zustimmung zur demokratischen Werteordnung gegenüber dem Vorjahr gefestigt hat und sogar leicht gestiegen ist. Erfreulich ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Zahl derer gesunken ist, die im nationalen Interesse unter bestimmten Umständen eine Diktatur für die bessere Staatsform halten. Waren es im Vorjahr noch knapp 20 Prozent, so sind es nach der aktuellen Studie knapp 18 Prozent, die eine solche Ansicht vertreten, freilich - und das sage ich sehr deutlich - ein immer noch zu hoher Wert. Ich hoffe, dass dieser Abwärtstrend auch in Zukunft anhält.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, fast die Hälfte der Befragten zeigt sich mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden. Zum Vergleich: Im Jahr 2003 lag dieser Wert noch deutlich unter 40 Prozent - eine Veränderung, die, so die Forscher, "bemerkenswert und beispiellos" ist. Es bleibt abzuwarten, ob diese Feststellung auch die von uns allen erhoffte Trendumkehr eingeleitet hat. Politische Teilhabe wird bei den Thüringerinnen und Thüringern großgeschrieben - auch eine wichtige Grundlage zur Stärkung der Demokratie. Über 90 Prozent der Befragten vertreten die Auffassung, dass über wichtige politische Fragen häufiger aber durch Volksentscheid abgestimmt werden sollte. Damit hat natürlich die Wertschätzung direkt demokratischer Verfahren einen Höchststand erreicht. Es bleibt auch festzuhalten, trotz Hartz IV und anderer unvermeidbarer Anpassungen bei den sozialen Sicherungssystemen haben sich die Menschen nicht enttäuscht von der Demokratie abgewandt. Im Gegenteil, der Anteil der zufriedenen Demokraten, die sowohl der Demokratie als Staatsidee zustimmen als auch mit der demokratischen Praxis zufrieden sind, liegt bei jetzt knapp 48 Prozent nach 34,2 Prozent, also eine be

achtliche Steigerung. Daneben gibt es aber auch einige bedenkliche Umfrageergebnisse, die ich nicht verschweigen möchte. Während das Vertrauen in politikferne Institutionen seit Beginn der Untersuchungen zumeist erheblich gestiegen ist, hat sich dieser Wert für politiknahe Institutionen auf einem deutlich niedrigeren Niveau stabilisiert. 59 Prozent der Befragten zum Beispiel schenkten den Gerichten voll und ganz oder weitgehend ihr Vertrauen. Der Landesregierung vertrauen 34 Prozent der Befragten und nur 20 Prozent können das von der Bundesregierung sagen. Bei den Einstellungen zur Politik und zur Arbeit der Parteien gab es im Vergleich zum Vorjahr keine Veränderungen. Dass Parteien nur die Stimmen der Wähler wollen, sich aber nicht um deren Ansichten kümmern, meinen immerhin 76 Prozent. Vier von fünf Befragten sind der Ansicht, dass es in der Politik nur um Macht gehe, nicht aber um die Sache - vier von fünf - eine viel zu hohe Zahl. Insgesamt kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass es seit Beginn der Erhebungen in keinem Jahr eine derart positive Entwicklung gegeben hat, ein Ergebnis, das umso mehr Beachtung verdient, da es in eine wirtschaftlich - wie wir alle spüren - äußerst schwierige Zeit fällt. Natürlich sind die Forscher den Ursachen für diese positive Entwicklung nachgegangen, aber auch für die kritische Entwicklung. Welche Faktoren bestimmen die Bewertung z.B. des demokratischen Systems? Hier spielt vor allem die soziale und wirtschaftliche Lage eine besondere Rolle, aber auch eine offene oder verdeckte Sympathie für den gescheiterten Sozialismus der DDR oder auch die Einschätzung, ob man sich zu den Gewinnern oder Verlierern der deutschen Einheit zählt. Aber es sind vor allem die unterschiedlichen Gerechtigkeitswahrnehmungen, die für diese Frage besonders aufschlussreich sind: "Je positiver die Gerechtigkeitswahrnehmung ist, desto günstiger fällt das Urteil über das demokratische System aus", so lautet eine prägnante Formel, die die Wissenschaftler aufgestellt haben. Und auch die Einstellungen zum Sozialstaat verdienen besondere Aufmerksamkeit, da sie von erheblicher Bedeutung sind. Wörtlich heißt es: "Die Einstellungen zum Sozialstaat sind ein ganz entscheidender Faktor für die Fundierung und Stabilität der Einstellungen auch zur Demokratie." Das heißt, die Grundwerte und Prinzipien der Sozialstaatlichkeit spielen eine wesentliche Rolle.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, in meiner Regierungserklärung am 9. September 2004 habe ich dazu aufgerufen, die Chancen der Freiheit zu nutzen - wörtlich: "Ein Leben in Freiheit zu führen bedeutet, die Verantwortung für das eigene Leben anzunehmen, sich zu entscheiden, für sich selbst zu sorgen, etwas Neues zu wagen, Chancen zu erkennen und mutig zu ergreifen." Deshalb ist es interessant zu erfahren, welchen grundlegenden Wer

ten sich die Thüringer verpflichtet fühlen. Was verstehen sie konkret unter Freiheit, unter Gleichheit und Sicherheit? Welche Präferenzen sind erkennbar? Die Studie macht deutlich, dass die wirtschaftliche und soziale Lage der Befragten, ihre beruflichen und gesellschaftlichen Chancen eine erhebliche Rolle bei der Prioritätensetzung spielen. Es ist deshalb keine Überraschung, dass sich vor allem Arbeitslose, Menschen, die sich in einer schlechten finanziellen Lage befinden oder den Verlust ihres Arbeitsplatzes befürchten, überdurchschnittlich für Sicherheit und Gleichheit entscheiden. Die sozioökonomische Lage ist ein wichtiger Aspekt, aber eben nicht der einzige. Auch wenn es den Thüringerinnen und Thüringern wirtschaftlich besser geht, hätten sie andere Vorstellungen von den Leitideen als z.B. Menschen, die in den alten Ländern aufgewachsen sind. Im Einstein-Jahr würde ich das als eine Art von Hintergrund und Langzeitstrahlung nennen, die das Werteverständnis ganz eindeutig anders ausdrücken lässt. Das Verständnis von Freiheit ist immer noch weit von der Ursprungsbedeutung entfernt. Nur 35 Prozent verbinden mit der Freiheit die Aussage, für sich selbst verantwortlich zu sein, Chancen zu ergreifen und Risiken zu übernehmen, einschließlich der Gefahr zu scheitern. Die so verstandene Freiheit ist also nicht zuerst ein Anspruch an sich selbst, sondern ein Anspruch auf staatliches Handeln oder staatliche Fürsorge. Sie eröffnet vor allem Möglichkeiten, beinhaltet aber eben auch Verpflichtungen.

Für 41 Prozent der Befragten bedeutet Freiheit hingegen, frei von sozialer Not zu sein, von Armut, Arbeitslosigkeit und allen möglichen Risiken des Lebens. Dieser Freiheitsbegriff ist zu eng. Er wurde nach einer Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach zum Freiheitsverständnis der Deutschen - so wörtlich: "besonders in den sozialistischen Diktaturen in der DDR und anderen ost- und mitteleuropäischen Ländern propagiert". Vor die Alternative von Freiheit oder Sicherheit gestellt, entscheiden sich 67 Prozent für die Sicherheit. Sicherheit bedeutet für 46 Prozent der Befragten vor allem Planungssicherheit für die eigene Zukunft. Für die Freiheit spricht sich in der Abwägung mit der Sicherheit nur ein gutes Viertel der Thüringer aus. Für eine sehr positive Entwicklung hingegen steht, dass für 60 Prozent der Befragten der Wert der Freiheit wichtiger ist als der Wert der Gleichheit. Bei vergleichbaren Umfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach hatte eine deutliche Mehrheit der Ostdeutschen bisher immer egalitäre Prinzipien bevorzugt. Während in den alten Ländern Freiheit und Sicherheit in etwa gleich starke Unterstützung erfahren, unterscheidet sich das Sicherheitsdenken der Thüringer auch im Vergleich zu den anderen jungen Ländern. Die Forscher führen diese auffällige Abweichung darauf zurück, dass die Umfrage durchgeführt wurde, als über Hartz IV und

seine Folgen kontrovers diskutiert wurde und die Menschen besonders verunsichert waren.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht immer um Wahrnehmungen, im Besonderen auch um Gerechtigkeitswahrnehmungen. Thüringen ist ein - nach unserer Verfassung - "demokratischer, sozialer und dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen verpflichteter Rechtsstaat". So schreibt es unsere Verfassung in Artikel 44 Abs. 1. Aus dem Sozialstaatsprinzip folgt die Verpflichtung des Staates, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen. Aber der Begriff der sozialen Gerechtigkeit ist sehr diffus. Es gibt unterschiedliche Vorstellungen von Gerechtigkeit, also mehrere Gerechtigkeiten. Was verstehen die Thüringer unter sozialer Gerechtigkeit? Und wird unsere Gesellschaft als gerecht wahrgenommen? Drei Viertel der Befragten meinen, dass unsere Gesellschaft insgesamt eher ungerecht sei, obwohl der Anteil derjenigen, die sich gerecht behandelt fühlen, sogar von 39 auf 46 Prozent gestiegen ist. Die Studie spricht, wie im letzten Jahr, von einem erkennbaren Zusammenhang zwischen der ökonomischen Lage und den unterschiedlichen Gerechtigkeitswahrnehmungen. Dabei bewerten die Befragten ihre eigene finanzielle Situation deutlich positiver als die allgemeine wirtschaftliche Lage. Darüber hinaus gibt es einen sehr bemerkenswerten Effekt, der von der Bewertung der Leitideen und ihrem unterschiedlichen Verständnis ausgeht. Unter den Befragten, die Gleichheit und Sicherheit präferieren, hält nicht einmal jeder Zehnte die Gesellschaft für gerecht. Das heißt, eine große Zahl derer, die Gleichheit und Sicherheit präferieren, eine übergroße Zahl halten die Gesellschaft grundsätzlich für ungerecht. Bei denjenigen, die die Freiheit aber an die erste Stelle setzen, ist es nur jeder Dritte. Das macht deutlich, dass diese Frage Gleichheit und Sicherheit, die persönliche Situation, eine hohe Wirkung im Blick auf die Einschätzung für die Gerechtigkeit, aber auch für die Freiheit bedeutet. Erfreulich ist, dass die Gesellschaft als leistungsbezogen und leistungsgerecht wahrgenommen wird. Eine wichtige Grundlage auch, um in Zukunft weiter Politik zu gestalten. Die Aussage: "Wer sich heute wirklich anstrengt, der kann es auch zu etwas bringen" wird von 75 Prozent bejaht. Wer überzeugt ist, dass sich eigene Anstrengungen lohnen, um nach oben zu kommen, der akzeptiert Leistungsanreize wie Einkommens- und Statusunterschiede - auch das macht die Studie sehr deutlich.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist deshalb Aufgabe der Politik, das Verhältnis von Freiheit, Sicherheit und Gleichheit unter den geänderten Bedingungen des 21. Jahrhunderts, unter der Globalisierungssituation neu auszutarieren. Selbstverständlich, ohne ein Minimum an Sicherheit und ohne Chancengerechtigkeit kann es keine freie Entscheidung

geben. Aber es stimmt auch, dass der Ausbau des Sozialstaats, die einseitige Betonung von Sicherheit und Gleichheitsaspekten, uns und folgende Generationen nicht nur ökonomisch und finanziell belastet, sondern auch mit einem Verlust an Freiheit erkauft worden ist.