Protocol of the Session on June 18, 2009

(Beifall SPD)

Ich verstehe gar nicht, warum Sie alle hier auf der Regierungsbank so unruhig sind. Aber ich will nicht nur über die aktuelle Krisenbewältigung reden, sondern wir müssen auch lernen, über die Krise hinauszublicken. Wir müssen fragen, was ist eigentlich an Konsequenzen notwendig, was haben wir aus dieser Krise gelernt, aber auch wo liegen Stärken und Schwächen in der Thüringer Entwicklung.

Ich will jetzt nichts sagen zu dem, was an Konsequenzen aus der Krise im Bereich der Finanzpolitik, der Bankenaufsicht notwendig ist, das haben wir hier schon mehrfach diskutiert. Ich will etwas sagen zu den Stärken und Schwächen, die ich in der Entwicklung der nächsten Jahre sehe. Es gibt unbestreitbare Stärken, z.B. - Sie haben das auch erwähnt in Ihrer Rede, Herr Ministerpräsident - der Anteil Thüringens bei den Industriearbeitsplätzen, der ist heute schon im Durchschnitt der alten Bundesländer. Das ist gut, das hat auch etwas mit der Geschichte dieses Landes zu tun. Das ist eine Stärke, auf die wir weiter aufbauen können. Zu den Stärken zählt auch, dass sich der Umsatz im verarbeitenden Gewerbe in den letzten zehn Jahren verdoppelt hat. Zu den Stärken gehört, dass wir die niedrigste Arbeitslosigkeit unter den neuen Ländern haben. Aber, Herr Ministerpräsident, wer sicher in die Zukunft steuern will, muss natürlich auch die Frage stellen, wo liegen möglicherweise Schwächen, wo müssen wir ansetzen in den nächsten Jahren? Und zur Wirklichkeit gehört eben auch, dass uns in Thüringen noch rund 120.000 Arbeitsplätze fehlen, um auf die gleiche Arbeitsplatzdichte wie im Durchschnitt der alten Bundesländer zu kommen. Zur Wahrheit gehört eben auch, dass

heute 12 Prozent der Thüringer Beschäftigten in den alten Bundesländern als Pendler ihre Arbeit finden und so dazu beitragen, dass die Arbeitslosenquote in Thüringen besonders niedrig ist. Den Grund kann man auch in Untersuchungen nachlesen, die Institute über Thüringen gemacht haben. Uns fehlt es in den letzten Jahren an wirtschaftlicher Dynamik. Es ist ja nicht ohne Grund so, dass Thüringen in den letzten Jahren zwar neue Arbeitsplätze geschaffen hat, aber weniger als in den anderen neuen Bundesländern entstanden sind. Die Dynamik ist uns ein ganzes Stück abhandengekommen.

Das Gleiche gilt auch für die Lohnentwicklung. Auch hier gibt es Licht und Schatten. Ich will natürlich mit den guten Seiten beginnen. In einigen Bereichen ist die Angleichung der Löhne inzwischen gelungen. Der Grundtarif in der Metallbranche in den neuen Bundesländern z.B. unterscheidet sich heute nicht mehr vom Grundtarif in den alten. Auch im öffentlichen Dienst haben wir deutlich zugelegt. In den unteren Einkommensgruppen ist die Angleichung geschafft, insgesamt stehen wir bei 95 Prozent Angleichung. Das gehört zu den guten Seiten im Bereich der Lohnentwicklung. Aber es gibt natürlich auch Schatten. Zu den Schatten gehört, dass der monatliche Durchschnittslohn in Thüringen immer noch 500 € unter dem monatlichen Durchschnittslohn in den alten Bundesländern liegt - 500 €. Zu den Schattenseiten gehört auch, dass Thüringen ein Niedrig- und Niedrigstlohnproblem hat. Fast ein Drittel der Beschäftigten in Thüringen, fast ein Drittel, verdient weniger als 900 € netto. Bei knapp 60.000 reicht der Arbeitslohn allein nicht aus, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Sie müssen ihren Lohn beim Arbeitsamt aufstocken. Insbesondere Frauen sind von dieser Niedriglohnentwicklung betroffen.

Deshalb sage ich, bei aller Positiventwicklung, die wir in einigen Bereichen haben, wir dürfen nicht den Kopf in den Sand stecken und wegschauen, wenn es um solche Niedriglohnbereiche geht. Deshalb sage ich Ihnen ganz deutlich, ich habe eine Vision davon, wohin sich Thüringen entwickeln soll. Ich will, dass wir in zehn Jahren Standorte haben, die genauso attraktiv sind wie die Standorte in den Nachbarländern Bayern und Hessen. Ich will, dass wir in zehn Jahren weiter vorangekommen sind, und zwar in großen Schritten, was die Lohnangleichung angeht. Aber die Frage ist natürlich auch, und die wird zu Recht gestellt: Wie kommen wir dahin? Das ist ja keine einfache Aufgabe. Wie kommen wir zu mehr Arbeitsplatz- und Wirtschaftsdynamik? Wie sorgen wir für mehr Wirtschaftskraft? Wie sorgen wir dafür, dass die Löhne nachziehen können? Das ist kein Selbstlauf, das weiß ich. Deshalb bin ich überzeugt, dass wir aufhören müssen, alles irgendwie zu fördern. Wir müssen uns anschauen, wo die wachstumsstärksten Branchen sind. Wir müssen diese Stärken

weiter ausbauen.

Ich will dazu gemeinsam mit der Wirtschaft und mit der Wissenschaft einen Zukunftsatlas Thüringen erstellen, einen Zukunftsatlas, der uns zeigt, wo die dynamischsten Entwicklungen sind, wo die Post abgeht in den nächsten Jahren, der Auskunft über Dynamik und Potenziale der Branchen, aber auch der Regionen gibt.

(Zwischenruf Abg. Heym, CDU: Und wo das nicht ist, machen wir es.)

Dazu gehört es, sich die Branchen anzuschauen, aber auch die Entwicklung in einzelnen Regionen. Die ist durchaus unterschiedlich. Zwei Drittel des Fahrzeugbaus beispielsweise konzentrieren sich in Westthüringen. Die optische Industrie konzentriert sich sehr stark in Mittelthüringen, 40 Prozent davon in Jena. Chemie und Textilien konzentrieren sich sehr stark im Osten Thüringens. Wir haben also erkennbare regionale Stärken neben den starken Branchen. Wir können mehr tun, solche regionalen Stärken weiterzuentwickeln durch kluge Infrastrukturpolitik, durch kluge Förderpolitik. Wenn wir es schaffen, Wachstumsbranchen noch stärker voranzutreiben, dann entsteht eine weitere Herausforderung, auch die ist beschrieben: Bis 2015 brauchen wir rund 100.000 neue Fachkräfte in den Betrieben. Sie müssen sich schon die Frage gefallen lassen, was haben Sie eigentlich in den letzten Jahren Ihrer Regierungsverantwortung dafür getan, dass eine solche Fachkräftelücke nicht aufreißt? Fachkräfteservice ist ein Stichwort, aber das reicht längst nicht aus. Damit allein können wir doch die Lücke nicht schließen, die sich hier auftut. Deshalb sage ich, wir wollen hierzu ein Fachkräftemonitoring aufbauen, das uns genauer erkennen lässt, wo ist eigentlich der Bedarf in den nächsten Jahren, in welchen Branchen, in welchen Regionen besonders, denn wir können doch nicht erst 2015 reagieren, wenn die Leute gebraucht werden. Wir müssen heute mit Schülerinnen und Schülern darüber reden, welche Ausbildungsberufe attraktiv sind, wo man gute Chancen in den nächsten Jahren hat, wir müssen darüber reden, welche Studienrichtungen besonders gefragt sind, und wir müssen natürlich auch die Ausbildungskapazitäten an Berufsschulen und Universitäten nach wie vor halten. Mein Vorschlag ist ein solches Fachkräftemonitoring und darauf aufbauend junge Leute für solche Entwicklungen zu gewinnen.

(Beifall SPD)

Zurzeit jedenfalls noch - und das ist leider unübersehbar - wandern immer noch viele, gerade junge und gut ausgebildete Menschen aus Thüringen ab. Die Lohnentwicklung ist ein wesentlicher Grund dafür. Man braucht doch mit den Leuten nur einmal zu

reden. Natürlich ist Thüringen ein wunderschönes Land mit enormen Stärken, aber die Frage Bleiben oder Gehen hängt eben ganz oft an der Frage: Erstens, finde ich den Arbeitsplatz, den ich mir wünsche, und zweitens, stimmt das Geld hinterher im Portemonnaie? Da brauchen wir doch nicht drumherum zu reden. Deshalb sage ich Ihnen auch, wir müssen mehr dafür tun, dass die Lohnangleichung schneller geschafft wird. Nun weiß ich auch, das ist keine Frage, die die Politik entscheidet, außer im öffentlichen Dienst.

(Beifall SPD)

Aber wir können z.B. gemeinsam mit den Tarifpartnern mehr dafür tun.

(Zwischenruf Abg. Seela, CDU: Was denn?)

Was denn? Das will ich Ihnen sagen. Ich habe vor, gemeinsam mit den Tarifpartnern eine neue Initiative zu starten, die Tarifbindung in Thüringen deutlich zu erhöhen, wir haben noch viel zu viele Unternehmen, die nicht in der Tarifbindung stehen, die schlechtere Löhne bezahlen, das wäre ein erster wichtiger Schritt.

(Beifall SPD)

(Unruhe CDU)

Nur mit guten Löhnen bleiben die Menschen im Land. Das zweite Problem, die Niedriglöhne, habe ich auch angesprochen. Die unterste Eingruppierung eines Wachmannes in Thüringen liegt bei 4,32 €. Ich habe vor einiger Zeit eine Frau bei mir im Büro gehabt, die in der Wache eines Unternehmens sitzt, die alleinerziehend ist, die Vollzeit arbeitet. Sie hat mir erzählt, dass sie hinterher trotzdem zum Amt gehen und ihren Lohn aufstocken lassen muss. Wenn sie das erzählt, dann stehen ihr die Tränen in den Augen, weil sie das als ungerecht empfindet, weil sie das zutiefst als ungerecht empfindet, alles selber zu tun, um mit eigener Hände Arbeit sich und das Kind ernähren zu können und trotzdem darauf angewiesen zu sein, hinterher zum Amt zu gehen und Bitte sagen zu müssen. Das darf so auf Dauer nicht bleiben und deshalb werde ich dafür sorgen, dass die Thüringer Stimme im Bundesrat eine Stimme für gesetzliche Mindestlöhne wird.

(Beifall SPD) Ich will einen zweiten wichtigen Komplex ansprechen. Eine große Zukunftsherausforderung heißt Bildung, in der Wissensgesellschaft zumal. Die große Frage, die wir beantworten müssen: Wie können wir es schaffen, Bildungschancen wirklich gerecht zu verteilen? Ich bin überzeugt, das ist die neue soziale Frage des 21. Jahrhunderts. Die ist nicht gelöst bisher. Denn noch immer hängt die Bildung zu stark von der Herkunft ab, noch immer ist das Bildungssystem zu wenig in der Lage, Aufstieg zu organisieren. Deshalb müssen wir die Frage stellen: Was können wir tun, damit möglichst viele Kinder eine gute Bildung bekommen? Natürlich gibt es auch hier in Thüringen Licht und Schatten. Ich will das, was geschafft worden ist, überhaupt nicht kleinreden. In Thüringen besuchen überdurchschnittlich viele Kinder den Kindergarten. Das ist gut. In den Bildungstests steht Thüringen im innerdeutschen Vergleich nicht schlecht da. Auch das ist gut. Aber das Bildungssystem zeigt doch auch erhebliche Schwachstellen. Ich will jetzt nicht darüber reden, weshalb bei den innerdeutschen Vergleichen die Zahlen vielleicht doch nicht so ganz gleichzusetzen sind, wir lassen das mal so stehen. Das Bildungssystem zeigt auch erhebliche Schwachstellen. Wir können doch nicht daran vorbeisehen, dass heute in den Kindergärten 2.000 Erzieherinnen und Erzieher fehlen. Sie haben die Untersuchungen doch auch auf dem Tisch. Das System Kindergarten, in dem die Grundlagen für die Bildung gelegt werden sollen, das arbeitet auf Verschleiß. Deshalb wird es höchste Zeit, dass wir endlich dafür sorgen, dass es wieder mehr Erzieherinnen in den Kindergärten gibt. (Beifall SPD)

Zu den Schattenseiten gehört eben auch, dass es einen finanziellen Anreiz für arme Familien gibt, die Kinder zu Hause zu lassen. Das sagen doch nicht nur wir Ihnen. Das sagen Ihnen doch auch die Sozialverbände und die Kirchen, dass das keine gute Entscheidung war, einen solchen Anreiz zu setzen.

(Zwischenruf Althaus, Ministerpräsident: Die Kirchen haben das anders gesagt.)

Zu den Nachteilen im Bildungssystem gehört nach meiner Überzeugung auch, dass die Kinder zu früh getrennt werden, dass viel zu früh die Entscheidung über die Schullaufbahn gefällt wird. Da können Sie noch so viel über Durchlässigkeit reden. Es gehört zur Wahrheit, dass mehr Schüler aus Abiturklassen abgestuft werden in die Regelschule als Durchlässigkeit nach oben da ist.

(Beifall SPD)

Das gehört einfach zur Wirklichkeit in diesem Land. Wenn man mit Eltern redet, dann sagen die auch, es wäre doch besser, die Kinder länger zusammen lernen zu lassen. 70 Prozent der Menschen in Thüringen sind dieser Überzeugung. Warum verweigern Sie sich eigentlich einem solchen Weg, den so viele für sinnvoll ansehen?

Ich will auch das Problem der Lehrer ansprechen. Sie haben gesagt, im kommenden Schuljahr wollen Sie 100 neue Lehrer einstellen. Eine Studie Ihrer Regierung sagt uns, bis 2015 fehlen uns 5.000 Pädagogen. In den nächsten 10 Jahren gehen 40 Prozent aller Lehrer in den Ruhestand. Auch da geht doch die Rechnung nicht auf. Wie wollen Sie denn das mit 100 Neueinstellungen bewältigen, eine Lücke zu schließen, die in den nächsten sechs Jahren 5.000 Lehrer bedeutet? Also da müssen Sie sich doch etwas anderes einfallen lassen. Meine Vision von Thüringen ist, Herr Althaus, dass wir Thüringen zum Bildungsland Nummer 1 machen, zum Bildungsland Nummer 1 deshalb, weil hier alle Kinder gleiche Bildungschancen haben, angefangen beim Kindergarten über die Schule bis hin zu gebührenfreien Hochschulen. Das ist das Ziel, dem wir folgen müssen.

(Beifall SPD)

Wie kann das gehen? Indem wir die Kindergärten stärken - dazu habe ich etwas gesagt -, indem wir mehr Ganztagsangebote an den Schulen machen. Auch da sind Sie zögerlich, auch da gibt es viel mehr Schulen, die bereit wären, diesen Weg einzuschlagen als Sie zulassen. Das beinhaltet doch gerade auch die Möglichkeit, individueller zu fördern. Eins will ich dazu auch sagen, wer eine solche Entwicklung nicht vorantreibt, der sorgt wieder für Benachteiligung. Wie viele Eltern müssen denn heute für ihre Kinder Nachhilfeunterricht organisieren, weil die Ganztagsangebote nicht da sind, weil die individuelle Förderung nicht da ist. Nachhilfe, Herr Althaus, ist inzwischen ein Milliardenmarkt in Deutschland geworden. Das ist aber kein positiver Markt, der da entstanden ist, sondern das ist ein Markt, der wieder dafür sorgt, dass sich gute Bildung nur diejenigen leisten können, die genügend Geld im Portemonnaie haben. Das kann doch nicht die Zukunft des Bildungssystems sein.

(Beifall SPD)

Was den Lehrernachwuchs angeht, so sage ich Ihnen, mein Vorschlag ist, dass wir jetzt allen Absolventen in Thüringen, die einen qualifizierten Abschluss vorzuweisen haben, eine Anstellungsgarantie geben. Wir haben rund 350 Absolventen pro Jahr. Wenn wir die jetzt nicht alle binden, wie wollen wir denn in den nächsten Jahren die Lücke schließen? Ich weiß auch, dass wir dann jetzt erst mal mehr Lehrer in den Schulen haben, als wir aktuell brauchen. Das ist mir sehr bewusst. Die kosten auch Geld, auch das ist mir bewusst. Aber verraten Sie doch mal, wie Sie die Lücke schließen wollen in ein paar Jahren, wenn in einem Schuljahr 1.000 Lehrer in den Ruhestand gehen und wir nur noch 350 Absolventen haben. Wo wollen Sie denn die Lehrerinnen und Lehrer dann herkriegen, wenn Sie sagen, das

ist die falsche Strategie?

(Beifall SPD)

Ich sage Ihnen deutlich, es gibt genügend zu tun im Bildungssystem. Wer sich zufrieden hier vorn hinstellt und sagt, wir haben alles gut gemacht und wir brauchen keine Änderungen, ich glaube, der hat keine Ahnung, welche Herausforderungen für die Bildungslandschaft in den nächsten Jahren vor uns stehen. Auf einem Spruchband bei einer Kundgebung in Erfurt in den letzten Tagen stand: „Denk’ ich an Bildung in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.“ Das mag zugespitzt sein, aber es zeigt die Sorgen junger Leute um das Bildungssystem und es zeigt auch, dass da einiges zu tun ist. Ich finde, eine Regierung darf an solchen Entwicklungen nicht einfach vorbeireden. Sie können ja andere Überzeugungen haben, aber Sie müssen doch den Menschen zumindest mal zuhören, Sie müssen sich den Argumenten stellen und sich damit auseinandersetzen. Das tun Sie nicht, das haben Sie auch heute nicht getan und das finde ich bedauerlich.

(Beifall SPD)

Ich will eine dritte wichtige Frage ansprechen, die viele Menschen im Land bewegt: Wie sorgen wir für sozialen Zusammenhalt? Was ist der Kitt einer Gesellschaft? Ich will zunächst zu einem Aspekt kommen, der nicht so weit vorn auf der politischen Agenda steht. Wir leben in einer Wettbewerbsgesellschaft, Wettbewerb hat etwas Belebendes, aber Konkurrenz birgt auch Schattenseiten. Wenn es nur noch darum geht, dass der eine den anderen aussticht, um welchen Preis auch immer, dann stimmt etwas nicht mehr. Wenn weite Bereiche der Gesellschaft ökonomisiert werden, dann stimmt etwas nicht mehr in der Entwicklung. Wenn bei Zeitungen nicht mehr von Lesern, bei Kulturveranstaltungen nicht mehr von Zuschauern, in Krankenhäusern nicht mehr von Patienten, sondern überall nur noch von Kunden die Rede ist, dann macht das den Eindruck, als reduziere sich das ganze Leben nur noch auf Geschäftsbeziehungen. Ich finde, auch das muss man mal politisch in den Blick nehmen. Denn es sind doch gerade auch die immateriellen Werte, die das Leben lebenswert machen, die die Entwicklung einer Gesellschaft bestimmen: Freundschaften, gegenseitige Achtung, sich gegenseitig helfen, respektieren, füreinander einstehen. Deshalb stellt sich für mich auch immer dringender die Frage: Wie können wir unter den Bedingungen einer Wettbewerbsgesellschaft, wie können wir unter den Bedingungen auch harter Konkurrenz für sozialen Zusammenhalt sorgen? Wie sorgen wir dafür, dass menschliche Beziehungen nicht reduziert werden auf Geschäftsbeziehungen? Wie sorgen wir dafür, dass nicht Menschen zum bloßen Rädchen im Getriebe werden?

Wie sorgen wir dafür, dass Menschen auch ihre Träume leben können? Wer erlebt das nicht in Gesprächen mit Freunden, im Familienkreis: Auf der einen Seite leiden viele Menschen unter enormem Leistungsdruck, der in den letzten Jahren auch gewachsen ist im Berufsleben, und auf der anderen Seite stehen Menschen am Rand und werden nicht mehr gebraucht. Ich sage Ihnen ganz deutlich, Herr Ministerpräsident, für mich ist das ein Widerspruch, mit dem ich mich nicht abfinden will, wo ich frage: Was können wir eigentlich auch politisch tun, um gegenzusteuern?

(Beifall SPD)

Ich bin überzeugt, man kann etwas tun. Wir brauchen eine Verständigung darüber in Wirtschaft und Gesellschaft, was wir tun können, um hier für besseren Ausgleich zu sorgen, was wir tun können für eine bessere Balance zwischen Arbeits- und Lebenswelt, für flexible Arbeitszeit- und Lebenszeitmodelle, für die Frage betrieblicher Kinderbetreuung, bis hin, warum nicht auch Ideen, die es einmal gab, wie Betriebsferienlager wieder aufzugreifen. Es gibt viele Ideen, die man - Sie lachen - umsetzen kann, und es gibt genügend Kinder, genügend Familien, die sich den Urlaub, die Ferien nicht leisten können. Ich will, dass wir in unserer Gesellschaft für mehr Balance sorgen und gemeinsam mit Unternehmern, mit Gewerkschaften, mit Betriebsräten darüber nachdenken, was man da tun kann.

Natürlich gehören dazu auch gesetzliche Regelungen. Der Rechtsanspruch auf Pflegefreistellung ist eine solche gesetzliche Regelung. Unser Vorschlag, ein Bildungsfreistellungsgesetz zu machen, ist eine solche gesetzliche Regelung. Damit steigt Lebenszufriedenheit, damit erhöht sich Arbeits- und Lebensqualität und das hilft insbesondere auch Familien. Es ist richtig, Familien sind der wichtigste Anker für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wir müssen dafür sorgen, dass Familien gute Bedingungen auch und gerade in der Arbeitswelt haben, denn wenn wir nicht gemeinsam mit den Tarifpartnern dafür sorgen, mit denen, die sich vor Ort engagieren auch in den Kommunen, wenn wir nicht dafür sorgen, dass auch für Eltern mit Kindern gute Arbeits-, Aufstiegs- und Verdienstmöglichkeiten bestehen, dann werden sich immer mehr junge Menschen eben nicht für Kinder entscheiden. Deshalb brauchen wir gute Betreuung von der Kinderkrippe bis zur Ganztagsschule, wir brauchen aber auch mehr Engagement für eine neue Balance zwischen Arbeits- und Lebenswelt.

(Beifall SPD)

Zum sozialen Zusammenhalt gehört aber auch die Frage, wie wir die Unterschiede zwischen arm und reich begrenzen können. Keine Frage, das ist im

Wesentlichen auch eine Aufgabe von Bundespolitik, aber auch Länder und Kommunen können einen wichtigen Beitrag leisten, dass sich die Spaltung in unten und oben in einer Gesellschaft nicht verfestigt. Das Bildungssystem ist vielleicht der wichtigste Ansatzpunkt dazu, hier habe ich einiges gesagt. Aber auch Hilfen für arme Familien, für Kinder, die in armen Verhältnissen aufwachsen, sind eine Möglichkeit, die wir hier vor Ort nutzen können. Ich habe mit Freude gehört, als die jetzige Sozialministerin, als sie ins Amt kam, angekündigt hat, sie wolle den Kampf gegen Kinderarmut zu ihrer wichtigsten Aufgabe machen. Nur leider, wenn man jetzt zurückschaut, was ist denn an konkreten Entscheidungen herausgekommen? Es ist eine KinderCard herausgekommen, die ein Stempelheftchen ist, wo man Angebote abhaken kann, die man wahrnimmt, wo auch dafür geworben wird, aber mehr auch nicht. Ich sage Ihnen ganz deutlich, mir reicht das nicht. Das ist zu wenig. Wer Kinderarmut wirklich bekämpfen will, muss mehr tun, z.B. die Frage beantworten: Wie sorgen wir dafür, dass alle Kinder gesundes Mittagessen in Kindergarten und Schule bekommen? Unser Vorschlag für einen entsprechenden Essenfonds liegt auf dem Tisch. Stimmen Sie doch endlich solchen Vorschlägen einmal zu.

(Beifall SPD)

Zum sozialen Frieden in Deutschland gehört auch, dass wir die sozialen Unterschiede zwischen Ost und West abbauen. Ich denke, bei dem Ziel, gleiche Renten in Ost und West, sind alle drei Fraktionen hier im Thüringer Landtag beieinander. Wir wissen aber auch alle miteinander, dass es keine leichte Aufgabe ist, dieses Ziel durchzusetzen. Es gibt in der Tat hier einen Ost-West-Konflikt. Wer wollte denn das verschweigen? Und es kostet 6 Mrd. zusätzlich, diese Rentenangleichung zu stemmen, 6 Mrd., die aufgebracht werden müssen. Wir müssen auch darüber reden, was passiert mit denen, die heute ihre Löhne aufgestockt bekommen - auch ein Unterschied Ost/West im Rentensystem. Aber ich sage auch ganz ehrlich, 20 Jahre nach dem Fall der Mauer und im nächsten Jahr 20 Jahre deutsche Einheit, das muss für uns Ansporn sein, in den kommenden Jahren - und ich sage es deutlich -, in der nächsten Legislaturperiode des Bundestags gemeinsam dafür zu sorgen, dass der Anspruch, gleiche Renten in Ost und West, endlich durchgesetzt wird.

(Beifall SPD)

Es gibt viele Menschen, die sich für andere engagieren. Ich habe vorhin von der Wettbewerbsgesellschaft gesprochen. Gesunde Konkurrenz gehört dazu, aber Konkurrenzverhalten darf nicht allein das Leben bestimmen. Gerade das Miteinander und Füreinander macht auch unsere Natur aus. Es gibt in

uns das Prinzip Menschlichkeit. Ich weiß nicht, wer von Ihnen das Buch des Freiburger Neurobiologen Joachim Bauer kennt, der hat den Satz gesagt: „Unsere Biologie ist nicht auf Gegnerschaft angelegt.“ Ob das jetzt in jedem Einzelfall stimmt, das lasse ich mal dahingestellt sein. Aber überzeugt bin ich schon, dass am Ende nur gelingendes Miteinander für gutes Leben sorgen kann, und deshalb, glaube ich, müssen wir uns der Frage stellen, was wir tun können, um solches gelingendes Miteinander in der Gesellschaft zu fördern. Das Ehrenamt ist angesprochen; es ist gut, wenn wir das in vielen Reden erwähnen, wie wichtig die ehrenamtliche Arbeit ist, aber es ist noch besser, wenn wir dafür sorgen, dass das Ehrenamt auch eine stärkere hauptamtliche Stütze bekommt, denn ehrenamtliches Engagement ist in vielen Fällen darauf angewiesen, auch durch hauptamtliche Grundstrukturen unterstützt zu werden. Dort gibt es noch deutlichen Handlungsbedarf in den nächsten Jahren.

(Beifall SPD)

Meine Vision ist ein soziales und solidarisches Thüringen, ein Land, in dem wir füreinander da sind, ein Land, das jedem Einzelnen hilft, sich selbst zu verwirklichen, aber nicht auf Kosten anderer. Richard von Weizsäcker hat es einmal schön gesagt, ich darf ihn zitieren: „Nur eine solidarische Welt kann eine gerechte und friedvolle Welt sein.“ In diesem Sinn bin ich selbst gern Weltverbesserer, in diesem Sinn bin ich auch bereit, Experimente zu wagen, und ich bin dafür, dass wir möglichst bald auch damit anfangen.

(Beifall SPD)