Protocol of the Session on May 23, 2002

Liebe Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete, meine sehr geehrten Damen und Herren der Landesregierung, sehr geehrte Vertreter der Medien, verehrte Gäste, meine sehr geehrten Damen und Herren, ich darf Sie am heutigen 23. Mai 2002 hier im Plenarsaal des Thüringer Landtags sehr herzlich begrüßen und damit die 63. Plenarsitzung eröffnen.

Es ist das erste Mal, dass wir hier in diesem Saal des Plenums des Thüringer Landtags nach der mörderischen Bluttat in dieser Stadt am Erfurter Gutenberg-Gymnasium zusammentreten. Ich bin dankbar dafür, dass aus diesem Anlass auch Angehörige von unmittelbar Betroffenen, Angehörige von Opfern dieses für uns noch immer unfassbaren Verbrechens den Weg zu uns gefunden haben. Ihnen gelten zu Beginn dieser Plenarsitzung an erster Stelle unser Mitgefühl und unsere Anteilnahme. Ich möchte Sie herzlich grüßen und heiße Sie im Namen aller Abgeordneten einschließlich der Landesregierung besonders willkommen. Das Gleiche gilt für den Oberbürgermeister dieser Stadt, Herrn Ruge, und seine Frau, die ebenfalls gekommen sind und denen wir als Parlament ausdrücklich für ihr ebenso umsichtiges wie couragiertes Handeln in den dunkelsten Stunden dieser Stadt zu danken haben. Dabei denken wir an alle, die geholfen haben, Lehrerinnen und Lehrer, Eltern und Schüler, Polizisten und Rettungskräfte, Betreuer und Seelsorger, ihnen allen gilt unser Dank.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, als uns gegen Mittag des 26. April 2002 die ersten Meldungen über Schüsse am Gutenberg-Gymnasium erreichten und bange Ungewissheit sich immer mehr zur schrecklichen Nachricht verdichtete und zunächst von zwei Toten, dann von drei Toten zwei Lehrern und einem Polizisten - die Rede war, war es uns unmöglich, in der normalen Tagesordnung fortzufahren. Wir brachen die Sitzung ab. Das ganze Ausmaß dieses fürchterlichen, bis zu diesem Zeitpunkt nie für möglich gehaltenen Verbrechens mit insgesamt 12 getöteten Lehrerinnen und Lehrern, einem getöteten Polizisten, einer getöteten Sekretärin, zwei getöteten Schülern sowie dem Tod des Täters selbst, sollte uns noch im Verlauf des Nachmittags in erschreckender Weise einholen. Viele von uns sahen sich am Abend des 26. April 2002 und an den darauf folgenden Tagen in den Kirchen dieser Stadt, an den Gedenkorten vor der Schule, im Rathaus, auf den Domstufen wieder bis hin zu den beeindruckenden Trauerfeierlichkeiten am 3. Mai 2002 mit über 100.000 Menschen auf dem Erfurter Domplatz. Von einer Stunde zur anderen hat sich Erfurt verändert, ist diese Stadt zusammengerückt in Schmerz und Trauer, aber auch in dem Empfinden, in dem Gespür, dass bei dem, was da passiert ist, auf einmal ganz grundlegende Fragen unseres Menschseins, unseres Zusammenlebens, unserer Gesellschaft angesprochen sind. Fragen, die uns über

alle sonstigen Kontroversen der Politik, über die Verschiedenheit unserer religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisse hinweg zusammenführen. Sie führen uns zusammen, weil sie uns elementar, ganz gleich, wo wir ansonsten stehen, was wir ansonsten denken oder tun, getroffen haben. Wir sind uns über alle Fraktionen dieses Hauses darin einig, dass es uns auch heute, fast vier Wochen nach dem entsetzlichen Geschehen, nicht möglich ist, die am 26. April 2002 abgebrochene Tagesordnung einfach wieder aufzunehmen. Wir alle halten es für notwendig, vor einer Rückkehr zur Tagespolitik - und das heißt auch vor einer Rückkehr zur parlamentarischen Auseinandersetzung zwischen den Fraktionen, den Fraktionen und der Regierung, vor einer Rückkehr zum Wettbewerb der verschiedenen Vorstellungen und Konzepte im politischen Alltag - gemeinsam innezuhalten und gemeinsam danach zu fragen, was es eigentlich ist, was uns in dieser Gesellschaft zusammenhält, was trägt, was Zukunft gibt, Sinn und Orientierung. Was ist der Grundbestand gemeinsamer Werte und Normen, ohne die kein Gemeinwesen auf Dauer auskommen kann? Was ist der Grundbestand gemeinsamer Werte und Normen, für die wir auch bereit sind, gemeinsam als Abgeordnete dieses Landtags einzustehen und nicht nur einzustehen, sondern auch Vorbild zu sein im Umgang miteinander und auch vor der Öffentlichkeit dieses Landes. Ich bin allen dankbar, den Fraktionen wie der Landesregierung, die sich in den vergangenen Tagen und Wochen dafür eingesetzt haben, dass wir als Thüringer Landtag mit dem heutigen Tag ein Zeichen dieses Bemühens setzen wollen. Wir werden dazu eine Regierungserklärung von Herrn Ministerpräsidenten Dr. Vogel hören. Die Vorsitzenden der Fraktionen werden dazu sprechen. In einer gemeinsamen Entschließung soll uns dieses Bemühen auch über den Tag hinaus begleiten, sozusagen als Fundament, als gemeinsamer Bezugspunkt, auch dann, wenn wir in konkreten Sachfragen unterschiedliche Positionen beziehen werden. Dieser gemeinsame Schritt des gemeinsamen Innehaltens und Nachdenkens ist uns wichtig, auch als Ausdruck unserer stillen Verneigung vor den Opfern, als Ausdruck unserer Solidarität mit den Angehörigen und als Zeichen einer Botschaft, die stärker ist als alle Gewalt, die stärker ist als dieses unsagbare Verbrechen und aller Tod. In diesem Sinne erheben wir uns am Beginn dieser Sitzung von den Plätzen und widmen den Opfern des Gewaltverbrechens am 26. April am Erfurter Gutenberg-Gymnasium ein stilles Gedenken.

Ich bitte um diese Minute des Schweigens. Ich danke Ihnen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit komme ich nun zu einigen notwendigen Regularien für die heutige und morgige Sitzung. Zunächst als Schriftführer haben Platz genommen neben mir Frau Abgeordnete Dr. Wildauer und Herr Abgeordneter Braasch. Frau Abgeordnete Dr. Wildauer wird die Rednerliste führen. Für die heutige Sitzung haben sich entschuldigt Frau Ministerin Prof. Dr. Schipanski, Herr Minister Dr. Birkmann, Herr Minister Traut

vetter, der im Übrigen den Freistaat Thüringen, die Thüringer Landesregierung heute im Deutschen Bundestag bei der Rede des amerikanischen Präsidenten Bush vertreten wird, Herr Abgeordneter Buse, Frau Abgeordnete Arenhövel, Herr Abgeordneter Schröter.

Noch ein Hinweis: Im Vorraum haben Sie eine Präsentation der Thüringer Staatskanzlei zur Raumordnung und Landesplanung im Freistaat Thüringen gesehen.

Zur Änderung der Tagesordnung habe ich einiges bekannt zu geben: Die SPD-Fraktion hat mir signalisiert, dass sie die Punkte 11 und 12 der Tagesordnung in der Plenarsitzung im Juni aufgerufen wissen möchte, wir sie also heute von der Tagesordnung absetzen können.

TOP 15 - Fragestunde: Es kommt eine Mündliche Anfrage in Drucksache 3/2437 hinzu.

Die Landesregierung hat angekündigt, dass sie zu TOP 5 sowie zu TOP 9 und 10 von der Möglichkeit eines Sofortberichts gemäß § 106 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung Gebrauch machen wird.

Dann ist mir signalisiert, es gibt noch Ergänzungen zur Tagesordnung. Herr Abgeordneter Stauch, bitte.

Frau Präsidentin, wir beantragen zur Aufnahme in die Tagesordnung das "Dritte Gesetz zur Änderung des Thüringer Kinder- und Jugendhilfeausführungsgesetzes", Gesetzentwurf der Landesregierung in Drucksache 3/2450, sowie den Antrag der CDU-Fraktion in Drucksache 3/2443 "Kontakte eines Polizeibeamten zum Rotlichtmilieu".

Gut, für beide Aufnahmen sind Zweidrittelmehrheiten erforderlich aufgrund der Fristen. Es ist mir signalisiert worden, sie seien vorhanden. Ist das der Fall? Einverständnis. Dann setzen wir die Punkte auf, den Gesetzentwurf der Landesregierung am Ende der bereits eingebrachten Gesetzentwürfe, also nach TOP 4, und den Antrag der Fraktion der CDU nach den bereits eingereichten Anträgen, das heißt, nach dem TOP 10 würden wir dann diese Aufsetzung vornehmen. Weitere Hinweise sehe ich nicht, dann kann ich die Tagesordnung so als festgestellt betrachten. Es gibt keinen Widerspruch, dann ist dies der Fall und wir können so verfahren.

Ich komme zum Aufruf des Tagesordnungspunkts 1

Regierungserklärung des Ministerpräsidenten "Der 26. April 2002 und die Konsequenzen"

Der gemeinsame Entschließungsantrag aller Fraktionen wird jetzt in den nächsten Minuten, so hoffe ich, noch

verteilt. Herr Ministerpräsident Dr. Vogel, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten, am 26. April dieses Jahres wurde am Erfurter Gutenberg-Gymnasium das schrecklichste Verbrechen seit Wiedergründung des Freistaats Thüringen verübt. Es ist die schlimmste Tat dieser Art, die seit dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland geschehen ist. Das Entsetzen, aber auch unser Mitgefühl und unsere Solidarität mit den Angehörigen der Opfer und allen anderen Betroffenen halten bis auf den heutigen Tag an.

Ich halte es für meine selbstverständliche Pflicht, in der ersten Sitzung nach dieser Bluttat im Namen der Landesregierung Ihnen und der Öffentlichkeit zusammenfassend zu berichten und erste Konsequenzen zu ziehen.

Was geschehen ist, bleibt auch nach den bisherigen Ermittlungen unfassbar. Ein 19-jähriger Täter hat 12 Lehrer, zwei Schüler, die Schulsekretärin und einen Polizisten ermordet. Danach hat er sich selbst gerichtet. Weil zahlreiche Zeugen von einem weiteren Täter sprachen, eine Geiselnahme nicht auszuschließen war und sich noch viele Schüler und Lehrer im Gebäude befanden, mussten Polizei- und Rettungskräfte äußerst umsichtig und behutsam vorgehen. Um jede weitere Gefährdung von Menschenleben zu vermeiden, mussten sie sich von Raum zu Raum vorarbeiten. Den Spezialkräften, die das Gebäude nach möglichen Mittätern und Geiseln durchsuchten, bot sich ein unvorstellbares Bild. Der Täter hatte ein Blutbad angerichtet. Notärzte und Rechtsmedizin haben bestätigt, alle Opfer erlitten so schwere Verletzungen, dass sie keine Überlebenschance hatten.

Über die Motive des Täters wird wahrscheinlich auch nach Abschluss der Ermittlungen keine endgültige Klarheit herrschen. Fest steht, dass der Täter am Ende der 10. Klasse einen externen Realschulabschluss angestrebt, die Prüfungen aber vorzeitig abgebrochen hat. Fest steht, dass er die 11. Klasse wegen schwacher schulischer Leistungen auf Bitten seiner Eltern hin freiwillig wiederholt hat und fest steht, dass er am 5. Oktober 2001 als Schüler der 12. Klasse das Gutenberg-Gymnasium verlassen hat. Er ist wegen unentschuldigten Fehlens und Fälschung eines ärztlichen Attestes dem Vorschlag seiner Schule gefolgt, an ein anderes Gymnasium zu wechseln. Sicher ist auch, dass er danach ein Beratungsgespräch mit dem Schulamt geführt hat und zunächst dem Erfurter Königin-Luise-Gymnasium zugewiesen worden ist. Weil es an dieser Schule in diesem Schuljahr keinen Grundkurs Physik gab, wurde dem Täter ein anderes Gymnasium genannt, dort hat er sich nicht gemeldet. Der Täter wollte nicht, dass seine Eltern informiert werden, er wollte das selbst tun. Da er volljährig war, hatten Schule und Schulamt dies zu akzeptieren.

Der Täter war Mitglied eines Erfurter Schützenvereins und hat die Waffen und die Munition für dieses Verbrechen - man muss es leider sagen - offenbar legal erworben. Allerdings ist er seiner Verpflichtung, den Kauf der Waffen dem Ordnungsamt anzuzeigen, nicht nachgekommen. Fest steht auch, dass der Täter in großer Zahl Gewaltvideos und Gewalt verherrlichende Computerspiele besessen und konsumiert hat.

Dieses Verbrechen, der Mord an 16 Menschen, hat in Deutschland, europa- und weltweit tiefe Betroffenheit ausgelöst. Es hat aber auch in ungewöhnlichem Ausmaß Hilfsbereitschaft, Zusammengehörigkeitsgefühl und Mitmenschlichkeit deutlich werden lassen. Die Trauernden in Erfurt und in ganz Thüringen haben eine Welle der Solidarität erfahren.

Wir danken der Polizei, den Rettungskräften, den Ärzten, den Sanitätern, die mutig und engagiert mehr als nur ihre Pflicht getan haben. Wir danken den Psychologen und Seelsorgern und jedem, der den Angehörigen, den Schülern, den Lehrern und den Eltern über die ersten Stunden hinweg geholfen hat. Wir danken dem Oberbürgermeister von Erfurt und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Ein nicht abreißender Strom von Mittrauernden hat die Erfurter in den dunklen Tagen nach der Tat nicht allein gelassen. Viele Tausende von Beileidsbekundungen und Kondolenzbriefen sind in der Schule, bei der Stadt und bei der Landesregierung eingegangen. Über 100.000 Menschen haben an der Trauerfreier auf dem Erfurter Domplatz teilgenommen. Das Partnergymnasium in Mainz und Schulen aus ganz Thüringen haben Lehrer nach Erfurt geschickt, damit der Schulbetrieb wieder aufgenommen werden konnte. Aus unseren Nachbarländern und vom Bund kamen Polizisten, Psychologen, Seelsorger, Betreuer und Helfer, um nur einige Beispiele zu nennen.

Von einer auf die andere Sekunde war sichtbar, dass es viel mehr Gemeinsamkeit und Gemeinsinn in unserem Volk gibt, als wir das zuvor für möglich gehalten haben. Erfurt ist nicht zum Synonym für eine schreckliche Bluttat geworden, sondern von dieser Stadt geht auch Hoffnung aus. Ich wiederhole, was ich auf dem Domplatz gesagt habe, die Botschaft von Erfurt heißt: Mitmenschlichkeit ist in Deutschland keine verloren gegangene Tugend.

Über Nacht ist aller Tagesstreit hinter dem Verlangen zurückgetreten zusammenzustehen, Solidarität zu zeigen und voller Betroffenheit mitzutrauern. Ich danke den Fraktionen des Thüringer Landtags, ich danke Frau Landtagspräsidentin Lieberknecht, dass sie vom ersten Augenblick an diese Gemeinsamkeit zu Ihrer Sache gemacht haben und ich danke den Repräsentanten der ganzen Bundesrepublik, dass sie nahezu ausnahmslos nach Erfurt gekommen sind.

Unsere Solidarität und unser Mitgefühl galt selbstverständlich zuerst den Opfern, den Angehörigen der Opfer dieser schrecklichen Tat. Wir haben versucht zu helfen,

wo wir helfen konnten. Ich danke Herrn Dr. Schultz, dem ehemaligen Präsidenten der Oberfinanzdirektion, dass er sich zur Verfügung gestellt hat, ich danke aber auch vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Landesregierung für ihren selbstlosen Einsatz.

Inzwischen wurden die Angehörigen, soweit sie es wünschten, über die bisher vorliegenden Erkenntnisse zum Tathergang unterrichtet. Für die Betreuung Betroffener und Hilfe Suchender wurde eine Hotline eingerichtet, die in den ersten Tagen nach der Tat rund 250 Anrufe täglich verzeichnet hat. Betreuungsmaßnahmen für traumatisierte Schüler, Lehrer, Polizisten und Helfer wurden sofort durch das Innenministerium ergriffen. Inzwischen hat das Sozialministerium die Hotline und die Betreuung übernommen.

Die Schülerinnen und Schüler, die Lehrerinnen und Lehrer und die Eltern haben den Wunsch, möglichst bald wieder in ihr Schulgebäude zurückzukehren. Es soll versucht werden, dies nach den Sommerferien zu ermöglichen. In einem Ersatzgebäudekomplex, der dem Gutenberg-Gymnasium zur Verfügung gestellt wurde, ist der Unterricht inzwischen, so gut das eben geht, wieder aufgenommen worden. Das Kultusministerium hat eine Anlaufstelle für psychologische Beratung von Lehrern und Schülern und für schulorganisatorische Fragen eingerichtet. Für die Abiturienten der Schule dieses Jahrgangs hat der Kultusminister individuelle Regelungen vorgesehen und die Abschlüsse werden bundesweit anerkannt.

Über den Tathergang, meine Damen und Herren, und die ergriffenen Maßnahmen sind dem Kabinett bisher vom Innen- und vom Justizminister zwei Berichte vorgelegt worden. Die Berichte sind wegen der notwendigen Vorläufigkeit aller Feststellungen den Fraktionsvorsitzenden vertraulich zur Kenntnis gegeben worden. Ein dritter Bericht soll Ende des Monats vorliegen. Wir streben einen vorläufigen Abschlussbericht, wenn möglich bis zur Sommerpause, an; er soll veröffentlicht werden.

Der Kultusminister hat Angaben zur Schullaufbahn des Täters veröffentlicht und die so genannten Profiler von LKA und BKA bereiten ein detailliertes Täterprofil vor. Wir regen einen bundesweiten Erfahrungsaustausch an, weil sich daraus Anregungen für die Tatprävention und die Gewalt- und Kriminalitätsbekämpfung ergeben können.

Noch einmal: Die Tat übersteigt unser Fassungsvermögen. Die Tat ist unbegreiflich, so unbegreiflich wie das Verbrechen des Amokschützen von Zug in der Schweiz, der drei Mitglieder der Kantonsregierung und elf Mitglieder des Kantonsrats tötete, so unbegreiflich wie die Tat in Nanterre bei Paris, bei der fast der gesamte Stadtrat ermordet wurde. Es muss alles Menschenmögliche getan werden, um ähnliche Taten für die Zukunft auszuschließen. Und doch wissen wir, dass uns Grenzen gesetzt sind; etwas anderes zu sagen, wäre eine Illusion. Das Leben muss weitergehen, aber zum Alltag zurückkehren dürfen wir nicht. Die Botschaft von Erfurt, von der ich sprach,

verpflichtet uns und sie verpflichtet uns mehr zu tun, als nur Gesetze zu ändern. Notwendig ist jetzt eine sehr grundsätzliche und umfassende Debatte: Wie kommt es zu wachsender Gewaltbereitschaft? Wie kann Gewalt geächtet werden? Warum schwindet der Respekt vor der Würde des menschlichen Lebens? Wie kann die Achtung vor dem Leben des anderen und vor dem eigenen Leben Mord und Selbstmord verhindern? Jährlich begehen in Deutschland 1.200 junge Menschen Selbstmord. Wie wehren wir uns gegen Vereinsamung und Entwurzelung? Was sind die Rechte und was sind die Pflichten der Eltern und der Familie? Was ist die Aufgabe der Schule? Welche Stellung haben die Lehrer in unserer Gesellschaft? Gibt es Übereinstimmung in den Erziehungszielen unserer Schulen? Welche Werte werden von uns allen anerkannt? Was erwarten wir von den Medien? Die Dimension des Verbrechens ist ungeheuerlich. Schnelle und darum notwendigerweise oft oberflächliche Antworten werden ihm nicht gerecht. Die Schülersprecherin des Gutenberg-Gymnasiums hat sehr eindrucksvoll und sehr früh und sehr richtig gesagt, die Ereignisse dürfen nicht zu Aktionismus führen, sie dürfen aber auch keine Lähmung verursachen.

Ich habe, wie Sie wissen, die Fraktionsvorsitzenden gebeten, im Deutschen Bundestag eine Grundsatzdebatte zu führen. Eine Debatte, die auch den Bundesrat mit einbezieht und von der ich mir wünsche, dass sie geführt wird wie vor einigen Monaten die Debatte über den Import von Stammzellen mit Ernsthaftigkeit, mit Einfühlungsvermögen, ohne Polemik und über Fraktionsgrenzen hinweg. Inzwischen ist diese Debatte wohl für Anfang Juli vorgesehen. Ich bin dankbar, dass der gemeinsame Wille besteht, eine solche Debatte heute Morgen in diesem Haus zu beginnen. Wir haben erfahren, der Mensch hat die Fähigkeit Gutes zu tun und Gutes zu bewirken, aber der Mensch ist auch fähig Böses zu tun. Wir haben alles Menschenmögliche zu tun, um ihn daran zu hindern. Johannes Rau hat auf dem Domplatz gesagt: "Was immer ein Mensch getan hat, er bleibt ein Mensch." Und weil das so ist, gilt unser Mitgefühl auch den Angehörigen des Täters.

Ein Ziel steht über allem: Wir verachten Gewalt und Terror. Wir wollen nicht, dass Gewalt und Terror erfolgreich sind, auch nicht im Spiel und auch nicht in virtuellen Scheinwelten. Wir wenden uns gegen jede Verherrlichung und gegen jede Verharmlosung von Gewalt. Gewalt will den Willen eines anderen Menschen gewaltsam brechen. Gewalt will in den Lebensbereich des anderen verletzend, störend oder gar zerstörend eingreifen. Darum widersetzen wir uns und darum widersagen wir jeder Form von Gewalt und Terror. Wenn wir über die Ursachen von Hass, Gewalt und Terror sprechen, müssen wir darüber sprechen, welches Bild wir vom Menschen haben, wie wir Werte definieren, welche Werte für unser Zusammenleben vorrangig sind. Zu häufig erwarten wir von den Lehrern und Erziehern, dass sie der nächsten Generation ein Welt- und Wertebild vermitteln, und sind uns doch selbst im Unklaren darüber, was das für ein Weltbild sein soll. Für uns steht die Unverwechselbarkeit,

die Einzigartigkeit eines jeden Menschen im Mittelpunkt. Aus ihr ergibt sich seine persönliche Würde; der Mensch ist Mittelpunkt aller politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Entscheidungen und allen gesellschaftlichen Handelns. Unser Grundgesetz, das heute auf den Tag vor 53 Jahren vom Parlamentarischen Rat verabschiedet worden ist, hat die Folgerungen aus der Entpersonalisierung des Menschen, aus seiner Unterdrückung und Entrechtlichung und aus seiner Unterordnung unter eine menschenfeindliche Ideologie durch die nationalsozialistische Unrechtsherrschaft gezogen. Mit der Unantastbarkeit der Menschenwürde in Artikel 1 und mit der Verpflichtung des Staates sie zu achten und zu schützen und mit der Aufnahme der Grundrechte in die Verfassung hat das Grundgesetz eindeutig Stellung bezogen gegen Beliebigkeit, gegen Wertneutralität, gegen einen totalitären Kollektivismus und gegen die Abwertung des Menschen zu einem Objekt des Staates. Weil der Mensch und nicht der Staat an erster Stelle steht, schafft unser Grundgesetz Voraussetzungen dafür, dass sich unter seinem Dach verschiedene Meinungen, Haltungen und Weltanschauungen entfalten können. Das Grundgesetz setzt den Rahmen, den wir füllen müssen, und das Grundgesetz ermöglicht Toleranz, weil es der persönlichen Freiheit dort eine Grenze setzt, wo die Freiheit und die Würde des Nächsten beginnt. Es fordert die Verantwortung jedes Einzelnen für den anderen Menschen, für das Gemeinwesen, für die Demokratie, weil Freiheit ohne Verantwortung in die Unfreiheit führt. Das erfordert vor allem, dass wir Übereinstimmung über das erzielen, was sich aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde ergibt - eine Verachtung und Verhinderung von Gewalt gegen andere und anders Denkende, menschliches Miteinander, soziale Gerechtigkeit und fairen Ausgleich von Interessen.

Helmut Schmidt hat das einmal sehr klar ausgedrückt. Ich zitiere ihn: "Wenn die Übereinstimmung in elementaren Grundwerten und Grundauffassungen fehlt, dann sind Freiheit und Würde des Menschen gefährdet. Eine Gesellschaft, in welcher der Konsens über elementare Grundwerte verloren gegangen ist, treibt auf Anarchie zu." So Helmut Schmidt.

Meine Damen und Herren, Toleranz und Verantwortung sind die Voraussetzungen der Freiheit, Werte, die sich gegenseitig bedingen und die wir mit Inhalt füllen müssen. Toleranz darf nicht mit Desinteresse gleichgesetzt werden. Toleranz heißt nicht Duldung, sondern Anerkennung des Anderen. Verantwortung ist nicht in erster Linie die Verantwortung der Allgemeinheit für mein Wohl, sondern zunächst meine Verantwortung für das Gemeinwohl. Unsere Landesverfassung, auf die wir - wie ich finde - zu selten Bezug nehmen, spiegelt den Grundwertekonsens wider, auf den sich die Thüringerinnen und Thüringer nach der friedlichen Revolution verständigt haben. Sie gibt die Erziehungsziele vor, die sich aus der Notwendigkeit von Toleranz und Verantwortung konkret ergeben und an denen wir uns orientieren können.

In Artikel 22 der Landesverfassung heißt es: "Erziehung und Bildung haben die Aufgabe, selbständiges Denken und Handeln, Achtung vor der Würde des Menschen und Toleranz gegenüber der Überzeugung anderer, Anerkennung der Demokratie und Freiheit, den Willen zu sozialer Gerechtigkeit, die Friedfertigkeit im Zusammenleben der Kulturen und Völker und die Verantwortung für die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen und die Umwelt zu fördern." Soweit der Artikel.

Ich glaube, meine Damen und Herren, es kommt vor allem darauf an, wie diese Werte, wie Grund- und Menschenrechte vermittelt werden, wie sie mit Leben erfüllt werden. Werden Menschenrechte nur aus Zwang anerkannt, werden Werte nicht vorgelebt, bleibt Toleranz oft nicht mehr als eine desinteressierte und missachtete Duldung des anders Denkenden und des anders Lebenden. Eine Duldung, die schnell in Gewalt, in Verächtlichmachung und in Hass umschlagen kann. Roman Herzog sagt: "Toleranz heißt nicht Standpunktlosigkeit." Man kann auf Dauer nicht miteinander leben, wenn man nichts voneinander weiß und nicht miteinander redet. Ohne gegenseitiges Wissen gibt es kein gegenseitiges Verständnis, ohne Verständnis gibt es keinen gegenseitigen Respekt und kein Vertrauen und ohne Vertrauen gibt es keinen Frieden, sondern wirklich nur die Gefahr des Zusammenpralls.

Wir sprechen in Deutschland gern von einer neuen Kultur der Bildung und einer neuen Kultur der Werte. Meine Überzeugung ist, bevor wir das tun, müssen wir vor allem von einer neuen Kultur des Zuhörens sprechen, einer Kultur des gegenseitigen Kennenlernens. Wir müssen Sprachlosigkeit überwinden, wo Sprachlosigkeit herrscht. Wir müssen die drohende Kluft zwischen den Generationen überbrücken, wir brauchen eine Kultur des Miteinandersprechens. Sie schafft Verständnis, Respekt, Vertrauen und sie mindert die Gefahr eines Zusammenpralls. Dass wir vielfach nicht wissen, was junge Menschen bewegt, dass viele nicht wissen, womit sie ihre Freizeit verbringen, dass sie sich hinter verschlossenen Türen mit Gewalt verherrlichenden Computerspielen beschäftigen, das, meine Damen und Herren, muss uns beunruhigen. Das fordert uns alle heraus, und zwar Eltern, Familien, Lehrer, Erzieher, Mitschüler und uns Politiker. Erziehung, das wissen wir alle, beginnt in der Familie. Darum muss über die Pflichten, die die Eltern bei der Vermittlung und Weitergabe von Grundwerten wahrzunehmen haben, gesprochen werden. Im Elternhaus wird der Grundstein für die Bildung jeder Persönlichkeit gelegt, der Grundstein für das Bewusstsein seines Selbstwertes und das Bewusstsein für den Wert und die Würde jedes anderen Menschen. Familie ist der Ort, an dem Liebe, Vertrauen, Offenheit, Geborgenheit, Verlässlichkeit vorgelebt, erlebt, gefördert, eingefordert und weitergegeben werden. Familie ist der Ort, der Rückhalt bei Niederlagen und Demütigungen durch andere geben muss und Familie ist der Ort, der unabhängig von Leistungen und Fähigkeit Kindern Selbstwertgefühl, Selbstbewusstsein und Verantwortungsbewusstsein vermitteln muss. Bei den Eltern liegt die erste und wichtigste Ver

antwortung, weil der Mensch in seinen ersten Lebensjahren entscheidend geprägt wird, weil in der Familie Verzicht, Rücksicht und Ordnung eingeübt werden können, weil dort die Spielregeln vermittelt werden, die ein menschliches Miteinander möglich machen.

Kinder merken es, wenn sie als lästig empfunden werden. Wer die Prioritäten falsch setzt, wer beispielsweise ungestörten Fernsehkonsum mehr schätzt als die Beschäftigung mit seinen Kindern, der darf sich über Lieblosigkeit und Gewaltbereitschaft, über extremes Denken nicht wundern. Kinder können nur Orientierung finden, wenn sich ihre Eltern zu ihnen bekennen, wenn sie sich ihnen widmen, wenn sie ihnen Aufmerksamkeit schenken. Eltern müssen Zeit haben, müssen sich Zeit nehmen, sich mit ihren Kindern zu beschäftigen. Deswegen bekennen wir uns ausdrücklich zu einer Politik, die die Familie unterstützt und ihnen eine stabile materielle Grundlage bietet.

Aber in der Diskussion darum sollten wir nicht übersehen, das ist nur die eine Seite. Wir haben erlebt, dass es nicht nur materielle Grundlagen sind, die die Zukunft junger Menschen sichern, sondern dass es darauf ankommt, dass sich die Familie ihrer Verantwortung bewusst ist. Natürlich dürfen wir die Eltern dabei nicht allein lassen. Wir müssen sie unterstützen. Wir müssen Familienberatungs- und Betreuungseinrichtungen stärken und ihre Angebote bekannter machen. Kindergärten, Kinderhorte, Schulen, außerschulische Betreuung müssen ergänzend dafür da sein, die Erziehung in der Familie zu unterstützen; ersetzen können wir aber durch diese Einrichtungen die Familie nicht. Weil Bildung ohne Erziehung ebenso unmöglich ist wie Erziehung ohne Bildung, greifen die Erziehungsarbeit der Eltern und der Schule ineinander. "Die Schulen sind Werkstätten der Humanität, indem sie ohne Zweifel bewirken, dass die Menschen wirklich Menschen werden." Dies hat Johann Comenius schon am Ende des 16. Jahrhunderts gesagt und das stimmt zu Beginn des 21. Jahrhunderts genauso.

Schule muss mehr sein als eine Anstalt zur Stoffvermittlung. Sie ist auch dazu da, Werte zu vermitteln. Mut zur Erziehung - es ist Zeit, diesen Mut aufzubringen. Erziehung gedeiht mit Zuwendung, aber auch mit Regeln und Grenzen, mit Liebe, aber nicht mit Beliebigkeit. Erziehung lebt vom Vorbild. Das gilt selbstverständlich für Eltern wie für Lehrer. Wir haben es erlebt, wie sehr sich Lehrerinnen und Lehrer dieser Vorbildfunktion bewusst sind. Das Wohl und die Unversehrtheit ihrer Schüler haben die Lehrer des Gutenberg-Gymnasiums so wichtig genommen, dass sie dafür ihr eigenes Leben eingesetzt haben. Bessere Vorbilder für Mitmenschlichkeit kann es nicht geben. Allzu oft wird in der Öffentlichkeit ein Bild der Lehrer gezeichnet, das ihnen und ihrer Aufgabe nicht gerecht wird. Der Beruf des Lehrers ist seit alters ein hervorgehobener, ein herausragender Beruf, der Anerkennung verdient. Zu selten erfahren Lehrerinnen und Lehrer die öffentliche Anerkennung, die sie erwarten dürfen. Das trifft ähnlich auch auf Kindergärtnerinnen und Hortne

rinnen und auf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unserer Schulen und Erziehungseinrichtungen zu.

Wir müssen gerade nach den hinter uns liegenden Taten und Tagen Lehrerinnen und Lehrern Mut machen, Wissen zu vermitteln und Erzieher zu sein. Wir müssen sie dazu besser in die Lage versetzen und ihnen dazu das notwendige Handwerkszeug geben. Die Debatte über die Lehreraus- und -weiterbildung, die verstärkt wieder eingesetzt hat, halte ich z.B. deswegen für überaus wichtig. Die Anforderungen an Lehrer sind heute andere als noch vor vier oder fünf Jahrzehnten. Oft stehen Lehrer vor der schier unlösbaren Aufgabe, Sozialarbeiter, Erzieher, Bildungsvermittler, Vorbild, Autoritätsperson und Vertrauensperson in einem sein zu sollen. Bei dieser Diskussion sollten wir uns nicht von pädagogischen Mythen beeinträchtigen lassen. Das Bild eines angeblich begeistert selbst lernenden Schülers, dem nur ein Lernmoderator zur Seite gestellt werden müsse, entspricht vielleicht den Vorstellungen einer Spaßgesellschaft, aber es entspricht nicht den Realitäten. Der Lehrer bleibt die entscheidende Person im Unterricht. Der Unterricht, der gelenkte Erwerb von Wissen, Können und Urteilsfähigkeit ist zentrale Aufgabe der Schule. Aufgabe von Erziehung und Schule ist es, auf das Leben als Erwachsene vorzubereiten.

Nach der Veröffentlichung der PISA-Studie hieß es, die Schulen müssten leistungsorientierter werden. Jetzt nach dem Geschehnis in Erfurt warnen manche, man dürfe nicht länger von Wettbewerb und Leistung an unseren Schulen sprechen. Johannes Rau hat die richtige Antwort gefunden ich zitiere ihn: "Ohne Leistung, ohne Leistungsbereitschaft wäre jede Schule wirklichkeitsfremd." Vor Wettbewerb und Konkurrenz dürfen wir unsere Kinder nicht schützen, sie müssen vielmehr lernen, damit umzugehen. Ein Verzicht auf Förderung von Talenten, von individuellen Anlagen und Fähigkeiten bedeutet nicht nur, dass wir diese Gaben der Schüler nicht ernst nehmen, es bedeutet auch, dass wir diesen Schülern nicht gerecht werden, weil wir sie unterfordern, vernachlässigen, langweilen und schließlich entmutigen. Bildung heißt, Benachteiligung vermeiden, heißt aber auch, Begabung, ja auch Höchstbegabung rechtzeitig zu erkennen und zu fördern. Fördern und fordern, aber nicht überfordern. Wir werden nichts daran ändern können, dass es begabte und weniger begabte Menschen gibt. Jeder muss seine Chance bekommen. Eltern müssen einsehen, dass ihr Kind die Schule besuchen soll, die seinen Fähigkeiten gerecht wird und nicht ihren Wunschvorstellungen und dass sie zur richtigen Entscheidung den Rat und die Hilfe des Lehrers brauchen. Eltern tun Kindern nichts Gutes, wenn sie sie auf eine Schule schicken, auf der sie permanent überfordert werden.