Protocol of the Session on November 9, 2001

Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten, sehr verehrte Vertreter auf der Regierungsbank, sehr verehrte Gäste auf der Besuchertribüne, ich begrüße Sie zur 52. Plenarsitzung des 3. Thüringer Landtags an diesem Freitagmorgen hier im Plenarsaal.

Es ist der 9. November. Deswegen vorab einige wenige Gedanken zum heutigen Tag. Bereits in der gestrigen Sitzung wurde in verschiedenen Beiträgen auf diesen Tag in der deutschen Geschichte hingewiesen. Und auch heute werden Abgeordnete unseres Landtags an verschiedenen Veranstaltungen anlässlich dieses Tages teilnehmen. "Der 9. November - ein deutscher Tag?!" formulierten wir vor zwei Jahren anlässlich der diesem Tag gewidmeten Veranstaltung des Thüringer Landtags auf Schloss Ettersburg und nahmen dabei die verschiedenen 9. November unserer Geschichte in den Blick - von 1848 bis 1989. Ich möchte auch heute kurz daran erinnern.

Am 9. November 1848 wurde Robert Blum, der Führer der radikal-liberalen Fraktion und Vizepräsident der Nationalversammlung, in der Frankfurter Paulskirche erschossen. Er hatte sich für Republik und Volkssouveränität eingesetzt.

Am 9. November 1918 rief Philipp Scheidemann in Berlin die Republik aus.

Am 9. November 1923 marschierten die Nationalsozialisten auf die Feldherrenhalle in München, um dieser von ihnen ungeliebten und bekämpften Republik den Garaus zu machen.

Am 9. November 1938 brannten in ganz Deutschland die Synagogen und waren damit brutaler Ausdruck des durch die Nationalsozialisten zur amtlichen Politik gewordenen Antisemitismus und Rassenwahns.

Am 9. November 1989 ging am Abend in Berlin die Mauer auf.

Die Geschichte eines Tages voller Spannungen, Hoffnungen und Erwartungen, aber auch finsterster Abgründe und brutalster Barbarei. Den 9. November 1938, der auch in der gestrigen Debatte immer wieder Bezugspunkt war, auf der einen Seite und den glücklichsten der Deutschen im November im Jahr 1989 auf der anderen Seite haben wir dabei besonders vor Augen.

Zudem hat uns sicher auch das vergangene Jahr 2000 geprägt. Hier in Erfurt vor der Synagoge und in Berlin mit der großen Kundgebung unter der Überschrift "Aufstehen für Toleranz und Menschlichkeit" und ihrem Zug von der

dortigen jüdischen Synagoge durchs offene Brandenburger Tor bis zum Pariser Platz. Symbolträchtiger kann man die Janusköpfigkeit des 9. November mit all seinen Dimensionen, besonders aber des Jahres 1938 und des Jahres 1989, kaum zum Ausdruck bringen. Zu gern hätten wohl viele damals vor 12 Jahren es angesichts der Freudentränen und tausendfacher Umarmungen damit bewenden lassen - nach dem Motto: Nun ist die Geschichte an ihr glückliches Ende gekommen. Sie ist es nicht - und nicht zuletzt deshalb bleibt dieser Tag in all seinen Fassetten weiter wichtig, auch für das Jahr 2001. Gerade in diesen Tagen spüren wir wohl alle, wie sehr nach den Terroranschlägen des 11. September und den Folgen dieser Ereignisse uns wiederum eine Zäsur beschäftigt. Gerade in dieser Woche lässt uns der Beschluss des Bundeskabinetts, auch deutsche Truppen an der Seite der Amerikaner nach Afghanistan zu entsenden, den Ernst der Lage besonders bewusst werden. Wir spüren, wie ernst es mit dem Diktum - "nach dem 11. September ist nichts mehr so, wie es war" - um uns herum und bis in unsere nächste Nähe geworden ist. Doch gerade auch für die Wertung und den Umgang mit diesen jüngsten Erfahrungen einschließlich aller Kontroversen über die Frage, was jetzt konkret zu tun ist, gilt, was der 9. November lehrt: Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat sind nichts Selbstverständliches, sie sind teuer erkauft. Es gilt, sich der Gefahren bewusst zu sein, die diesen Gütern drohen. Über jene Gefahren, die aus der Mitte unserer Gesellschaft kommen, haben wir viel gesprochen, im vergangenen Jahr, auch am gestrigen Vormittag hier in diesem Haus. Jene, die von außen kommen, sind nun seit dem 11. September in ungeahnter Weise in den Blick unserer Wahrnehmungen und unseres Denkens gerückt. Beide Gefährdungen im Blick zu halten, ist notwendig. Beide dürfen wir bei all den verschiedenen Deutungen dieses Tages, aber auch bei allen Kontroversen über aktuelle politische Entscheidungen nicht übersehen und nicht vergessen.

Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, wollte ich an diesen 9. November auch im Jahr 2001 erinnert haben, bevor wir uns nun den Regularien und der Tagesordnung der heutigen Sitzung des Thüringer Landtags gemeinsam widmen.

(Beifall im Hause)

Damit kommen wir jetzt zu den nüchternen Dingen. Gleich, Frau Abgeordnete Nitzpon, ich gebe nur ordnungsgemäß für das Protokoll die Schriftführer bekannt: Herr Abgeordneter Carius und Herr Abgeordneter Höhn haben an meiner Seite Platz genommen. Herr Abgeordneter Carius wird die Rednerliste führen. Es haben sich für die heutige Sitzung entschuldigt: Ministerpräsident Dr. Vogel, Minister Gnauck, Abgeordneter Bonitz, Abgeordneter Dr. Botz, Abgeordnete Dr. Fischer, Abgeordnete Groß, Abgeordneter Bernd Wolf. So, jetzt Frau Abgeordnete Nitzpon.

Die PDS-Fraktion beantragt entsprechend § 22 Abs. 1 Punkt 4 die Absetzung des Tagesordnungspunkts 14 - Umsetzung des Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter im Freistaat Thüringen - Programm "50.000 Jobs für Schwerbehinderte" des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung und der Bundesanstalt für Arbeit sowie des Europäischen Sozialfonds. Da der Tagesordnungspunkt ein Berichtsersuchen beinhaltet, dieser Bericht für uns sehr wichtig ist, aber heute nicht gehalten wird, hoffen wir, dass er im Dezember kommt.

Gut, Sie haben den Antrag auf Absetzung gestellt. Ich denke, es ist Ihr Antrag, Sie sollten Herr Ihres Antrags bleiben. Widerspricht jemand dem Absetzungswunsch? Wenn das nicht der Fall ist, dann ist der Punkt abgesetzt und wir beginnen jetzt mit dem Tagesordnungspunkt 7

Zweites Gesetz zur Änderung der Verfassung des Freistaats Thüringen (Gesetz zur Entwicklung direkter Demokratie im Freistaat Thüringen) Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und PDS - Drucksache 3/1911 ERSTE BERATUNG

Es wird Begründung durch den Einreicher gewünscht; das tut der Abgeordneten Schemmel, SPD-Fraktion.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, eigentlich erfolgt die Einbringung dieses Gesetzentwurfs nicht hier und heute durch die Fraktionen von PDS und SPD, sondern sie ist bereits erfolgt durch den Willen der 360.000 Thüringer Bürgerinnen und Bürger

(Beifall bei der PDS, SPD)

auf Straßen und Plätzen in öffentlicher Sammlung, im politischen Gespräch zwischen den Vertretern der Initiative und den Bürgern. Dass SPD und PDS heute einen gemeinsamen Gesetzentwurf einbringen, ist sicherlich ein Einzelfall, wohl auch ein Novum in der Geschichte dieses Parlaments und auch für mich ist es wohl ein einmaliges Erlebnis der besonderen Art, hier gleichermaßen für die PDS-Fraktion sprechen zu dürfen,

(Beifall bei der PDS)

aber, meine Damen und Herren, es ist ein wohl begründeter Einzelfall. Wir, die wir als die zwei Oppositionsparteien mit über 20 weiteren Organisationen und Arbeitsgemeinschaften Träger der Initiative waren, fühlen uns dem Anliegen der Thüringerinnen und Thüringer glei

chermaßen und gleichberechtigt verpflichtet. Da von den Trägern nur wir über die Voraussetzung zur parlamentarischen Initiative verfügen, ist dieser Entwurf unser gemeinsames Anliegen, aber darüber hinaus natürlich auch das Anliegen des gesamten Trägerkreises.

(Beifall bei der PDS, SPD)

Der vorliegende Gesetzentwurf, meine Damen und Herren, verbindet den Bürgerwillen mit der Rahmensetzung des Thüringer Verfassungsgerichtshofs und gestattet auch der dritten Partei im Landtag den Zugang, der für die erforderliche Zweidrittelmehrheit für die vorgesehene Verfassungsänderung notwendig ist.

(Beifall bei der PDS, SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der parlamentarische Weg für eine Entwicklung der direkten Demokratie im Freistaat Thüringen ist somit eröffnet und es ist die Aufgabe, ja, ich glaube, sogar die Pflicht des gesamten Parlaments, nunmehr diesen Weg zu beschreiten. Danke schön.

(Beifall bei der PDS, SPD)

So, dann kommen wir zur Aussprache; es hat das Wort der Abgeordnete Wetzel, CDU-Fraktion.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, werte Abgeordnete, werte Gäste, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf in der Drucksache 3/1911 haben PDS und SPD nur vordergründig auf die Entscheidung des Thüringer Verfassungsgerichts vom 19. September dieses Jahres reagiert. Der Gesetzentwurf ist vielmehr erkennbar eine Reaktion auf die umfassenden Initiativen der CDU zur Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements

(Heiterkeit bei der PDS, SPD)

(Zwischenruf Abg. Schemmel, SPD: Bitte, schreiben Sie: Erhebliche Heiterkeit bei der SPD und PDS!)

in der Drucksache 3/1843 und 3/1861, die sie bereits wenige Stunden nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts der Öffentlichkeit vorgestellt hat und die die Opposition offenbar überrascht haben.

(Beifall bei der CDU)

Die CDU, Partei wie Fraktion, hat sich schon frühzeitig, offenbar doch auch früher als SPD und PDS, intensive Gedanken zu diesem Thema gemacht, und zwar unabhängig, Herr Kollege Schemmel, vom Ausgang des Verfah

rens vor dem Verfassungsgericht in Weimar. Das durch die Unterschriftsleistung von 360.000 Thüringerinnen und Thüringer deutlich gewordene verstärkte Politikinteresse und das Bedürfnis nach mehr bürgerschaftlicher Beteiligung hat die CDU stets sehr ernst genommen. Das spiegelt sich in ihren Initiativen zur Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements in Thüringen wider.

(Zwischenruf Abg. Schemmel, SPD: An wel- cher Stelle?)

Die CDU hat sich dabei nicht wie das Volksbegehren "Mehr Demokratie" oder dem jetzt in Drucksache 3/1911 vorgelegten Gesetzentwurf nur auf die plebiszitären Elemente in der Thüringer Landesverfassung beschränkt, sondern es wurden vielmehr umfassend alle Aspekte einer stärkeren Beteiligung der Bürger an unserem Gemeinwesen ins Blickfeld genommen. So enthalten die Vorschläge der CDU beispielsweise auch gesetzliche Änderungen zur Stärkung des Bürgerengagements auf kommunaler Ebene. Der Gesetzentwurf von SPD und PDS lässt diesen Bereich gänzlich außer Acht.

(Zwischenruf Abg. Schemmel, SPD: Das ist ein anderes Sachgebiet.)

Weiter werden von der CDU konkrete Vorschläge unterbreitet, wie Bürger besser in das Gesetzgebungsverfahren des Landtags eingebunden werden können. Hier soll im Rahmen der von der Verfassung vorgegebenen Schranken mehr Öffentlichkeit in den Sitzungen der Landtagsausschüsse hergestellt werden. Weiter nenne ich das Stichwort der "Elektronischen Demokratie". Hierzu liegen ebenfalls keine Vorschläge der Oppositionsparteien vor.

(Zwischenruf Abg. Schemmel, SPD: Es ist ein anderes Gesetz.)

Zu einer Neuregelung der bestehenden plebiszitären Regelungen gehört vernünftigerweise auch, dass man die Erfahrungen mit dem Volksbegehren "Mehr Demokratie e.V." auswertet und das Thüringer Gesetz über das Verfahren bei Bürgerantrag, Volksbegehren und Volksentscheid, kurz BVVG genannt, auf seine Zweckmäßigkeit hin untersucht.

(Zwischenruf Abg. Schemmel, SPD: Das hat der Justizausschuss schon beschlossen.)

Als nachteilig hat sich zum Beispiel die parallele Behandlung des Volksbegehrens im Landtag und beim Thüringer Verfassungsgerichtshof in Weimar erwiesen. Dadurch, dass der Landtag das Volksbegehren trotz des in Weimar anhängigen Verfahrens innerhalb von sechs Monaten abschließend zu behandeln hatte, war ein ungeheurer Zeitdruck entstanden. Meine Damen und Herren, wir erinnern uns, dass zu einer Plenarsitzung am 20. September eingeladen worden war für den Fall, dass das Gericht am 19. September eine andere Entscheidung getroffen hätte. Ich denke, derartige verfahrensrechtliche Unzuläng

lichkeiten müssen bei der jetzt anstehenden Debatte wirksam geändert werden. Die CDU hat hierzu konkrete und konstruktive Vorschläge unterbreitet bzw. die Landesregierung um die Vorlage eines entsprechenden Gesetzentwurfs gebeten. Die Vorschläge liegen Ihnen in den Drucksachen 3/1843 und 3/1861 vor. Nach der Überschrift des von der SPD und der PDS jetzt vorgelegten Gesetzentwurfs in Drucksache 3/1911 sollen die damit angestrebten Verfassungsänderungen der Entwicklung direkter Demokratie im Freistaat Thüringen dienen. Der Titel unterstellt mit dieser Formulierung, dass es zurzeit nur "kümmerliche" oder gar überhaupt keine plebiszitären Regelungen in unserer Verfassung gibt. Dass diese Annahme falsch ist, wird durch das erfolgreiche Volksbegehren "Mehr Demokratie e.V.", dem mehr als 18 Prozent der Stimmberechtigten ihre Zustimmung gegeben haben, widerlegt.

(Beifall bei der CDU)

Der Titel des Gesetzentwurfs ist daher nichts anderes als eine Provokation, der die Tatsache schlicht verfälscht.

(Beifall bei der CDU)

Bereits heute gibt es eine entwickelte direkte Demokratie in Thüringen. Nur gilt es jetzt, sie unter Beachtung der Grundsätze der Verfassung im Sinne von mehr Bürgerbeteiligung maßvoll auszubauen. Nach seiner Begründung soll der Gesetzentwurf von SPD und PDS sicherstellen, dass der Gegenstand des Volksbegehrens nach dem Urteil des Thüringer Verfassungsgerichtshofs weitestgehend erhalten bleibt. Ob dies gelingen wird, darf angesichts der Kernaussagen des Urteils vom 19. September, auf das ich am Ende meiner Ausführungen noch einmal zurückkommen werde, wohl bezweifelt werden. Ich möchte auf den gemeinsamen Gesetzentwurf der SPD und PDS heute nicht detailliert eingehen, sondern nur einige Kernpunkte ansprechen. Das Quorum für das Zustandekommen eines Bürgerantrags soll auf 25.000 Unterschriften gesenkt werden. Damit wird eine Forderung des gescheiterten Volksbegehrens, das ebenfalls eine Absenkung auf 25.000 Unterschriften zum Ziel hatte, aufrecht erhalten.

(Zwischenruf Abg. Schemmel, SPD: Diese 25.000 sind vom Verfassungsgericht direkt bestätigt worden.)

Moment mal, Herr Abgeordneter, es ist eine unerträgliche Unruhe hier im Raum. Ich bitte wirklich, dass man dem Redner zuhört. Wir haben auch Gäste auf der Besuchertribüne, das alles hinterlässt einen Eindruck, der ist nicht gut für unser Haus. Bitte.