Protocol of the Session on September 7, 2001

(Zwischenruf Abg. Arenhövel, CDU: Ganz im Gegensatz zu anderen Zeiten.)

Hören Sie doch erst hin, Frau Arenhövel, erst hinhören, einschalten und dann reden. Wenn Sie sich der Mühe unterziehen, sich diese Ausschreibung wirklich genau anzuschauen, so wird allein aus der Ausschreibung klar, dass es eine ganze Menge von Fragen zusätzlicher Art noch gibt: Welche Zielrichtung soll er haben, außer dem allgemeinen Ziel - soziale Situation in Thüringen?

(Zwischenruf Abg. Arenhövel, CDU: Na, welche denn sonst?)

Sie haben immer wieder Anträge in den letzten Legislaturen abgelehnt, die andere Erhebungsnotwendigkeiten nachwiesen und Sie wollen praktisch mit dem alten Instrumentarium der Daten, die alle vorhanden sind, weiter arbeiten. Ich glaube, damit wird der Sozialbericht nicht qualifiziert. Wir haben in der Ausschreibung zu entdecken - wofür Sie seit 1999 zwei Jahre Zeit hatten - eine ganz straffe Zeitachse, wann jemand nämlich schon den Sozialbericht fertig haben soll: Abgabe des Manuskripts 01.04.2002. Das, was die Landesregierung in zwei Jahren nicht konnte, soll hier jemand in wenigen Monaten können.

Sechs Wochen hat derjenige dann zur Überarbeitung. Das lässt mich hellhörig werden. Sie schreiben in der Ausschreibung, dass es der Bericht der Landesregierung wird. Das ist vollkommen richtig, aber soll wieder passieren, was beim ersten passierte, dass zwischen Manuskript und tatsächlich Vorgelegtem die Knackpunkte nicht mehr erkennbar waren, die Empfehlungen, die Konsequenzen, die der Politik angeboten wurden aufgrund der Situation, welche Maßnahmen möglicherweise in Angriff genommen werden können, damit soziale Situationen sich verändern. Ich wünsche mir so einen Sozialbericht nicht, der dann im Prinzip regierungsfreundlich gestaltet ist und die...

(Zwischenruf Dr. Pietzsch, Minister für So- ziales, Familie und Gesundheit: Also Sie wollen den nicht?)

Dr. Pietzsch, ich hätte immer erwartet, dass Sie genau hinhören. Ich habe nicht gesagt, ich wünsche mir keinen Dritten Sozialbericht. Ich habe gesagt, ich wünsche mir so einen nicht, der innerhalb von sechs Wochen, wozu die Ausschreibung vermuten lässt, dann so regierungsfähig gemacht wird, indem Knackpunkte herausgestrichen wurden. Genau diese Wiederholung möchte ich nicht wieder erleben. Sie wissen genau, dass da die Kritik des Ersten Sozialberichts - und genau dieses sollte eine Landesregierung in der Situation, in der wir leben, nicht wiederholen - ansetzt. Ich frage mich die ganze Zeit, auf welcher Grundlage die Landesregierung Sozialpolitik macht, wenn sie nicht bestimmte Erhebungen bereit ist zu verändern. Mindestens acht Kleine Anfragen im sozialen Bereich habe ich gezählt, vom Schwerbehindertenbereich über die Förderung von Familien, in denen die Landesregierung uns sagt: Können wir nicht aussagen, weil die Erhebungen nicht getätigt werden. Selbst bei der Wirkung von Gesetzen des Landes, anstatt auf die Idee zu kommen, die Datenerhebung zu verändern, wird sich begnügt mit: Können wir nicht aussagen. Genau dieses ist eine Kritik, deswegen erwarte ich eine Offenlegung, wie wollen Sie etwas erheben, wie wollen Sie Lebenslagen in Thüringen verändern und offensichtlich wollen Sie genau dazu heute nicht berichten.

Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hat ein Novum gebracht, das, ich weiß, sich die Landesregierung in Thüringen immer wieder nicht zu Eigen macht und es ablehnt. Herr Panse hat es bereits benannt. Besonders beachtlich im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung ist nämlich, dass sie sich um eine Definition von Armut nicht herummogelt, sondern dass sie sagt, wenn wir zur EU gehören und wenn wir Europa wollen, dann müssen wir auch im Sozialbereich das europäische Recht akzeptieren. Dann haben wir eben das Phänomen, dass der Armuts- und Reichtumsbericht den seit 1984 in der EU zugrunde gelegten Armutsbegriff benutzt. Das ist gut so, denn das heißt nicht Schwellenniveau, sondern das weist aus, dass es nicht nur um geldliche Leistungen für Sozialhilfe geht, sondern dass es um materielle, kulturelle und soziale

Verhältnisse geht, an denen man letztendlich misst, ob ich daran teilnehmen kann oder nicht, eben Armut misst. Es gelten diese Menschen als arm, die weniger Mittel zur Verfügung haben, dass sie von dieser Lebensweise, die in dem Land als die durchschnittliche gilt, ausgeschlossen sind, dass sie nur ein Minimum zur Verfügung haben von dem, was die Menschen sonst in diesem Land als Vermögen besitzen. Dies, meine Damen und Herren, ist ein springender Punkt, den wir dann auch wieder in den Zeitungen lesen. Was haben wir als Landtag davon, wenn ausgewiesen wird, dass Thüringen hinter Bayern und Baden-Württemberg den dritten Platz, also die Bronzemedaille im Niveau der Sozialhilfeempfänger nur einnimmt. Nichts. Viele Thüringer Haushalte kommen mit ihrem Gesamteinkommen nicht aus. Es ist eine Armut, und Sie wissen, die prekären Bereiche, die in diesem Einkommen letztendlich vorliegen, liegen zwischen 50 und 75 Prozent des Durchschnittseinkommens von Thüringen. Das ist eine finanzielle Situation, bei der ein unvorhersehbares Ereignis wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, Berufsunfall zur tatsächlichen absoluten Armut sehr schnell führen kann.

Sie wissen, meine Damen und Herren, dass der letzte Sozialbericht schon ausgewiesen hat, dass 17 Prozent derer, die Sozialhilfe beantragen, tatsächlich einer Erwerbstätigkeit nachgegangen sind. Spätestens, wenn Sie diese Zahlen sehen, wäre es wieder eine Fragestellung an die Landesregierung: Wie steht sie zum Einkommensniveau? Welche Maßnahmen ist sie bereit, mit anzuschieben, damit derjenige, der tagtäglich einer Erwerbstätigkeit nachgeht, nicht noch zusätzlich Sozialhilfe beantragen muss? Wo sind die Vorschläge der CDU zur Veränderung dieser Situation? Kein Wort - Herr Panse konnte nur auf die Bundesregierung verweisen und immer einen anderen Schuldigen suchen,

(Beifall bei der SPD)

als in seiner Verantwortung wahrzunehmen, was hier im Lande zu tun wäre.

Meine Damen und Herren, das Wissen über die Gründe von Sozialhilfebezug allein reicht der PDS-Fraktion nicht aus.

(Beifall bei der PDS)

Wir sind der Auffassung, dass Konsequenzen, wie es in unserem Antrag formuliert ist, für die politische Gestaltung von Lebenssituationen abgeleitet werden müssen. Eine Landesregierung sollte ihre Politik überprüfen und muss für die Zigtausend, die am Existenzminimum leben, eine Chance erarbeiten, durch aktive Arbeitsmarktpolitik und nicht durch Förderleistungen, die nicht aus der Sozialhilfe herausführen, und durch soziale Ausgestaltung von Gesetzen, dass tatsächlich der Anspruch, der jedem realisiert werden sollte, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, in Annäherung irgendwann als

Ziel erreicht wird.

(Beifall bei der PDS)

Im Sommer schlugen die Wogen immer höher. Es waren die so genannten Faulendebatten. Es vollzog sich durch alle politischen Verantwortlichkeiten und bei Regierung, dass die Sozialhilfeempfänger plötzlich als faul, nicht arbeitswillig bezeichnet wurden, bis hin, dass Kürzungen der Sozialhilfe

(Zwischenruf Abg. Arenhövel, CDU:... aber das waren...)

angeboten wurden. Frau Arenhövel, wenn Sie der Meinung sind, wir waren das nicht, so habe ich konstatiert, dass der Sozialminister diese Politik nicht öffentlich mitgemacht hat. Das hätte ich auch von einem Sozialminister erwartet. Dass aber ein Ministerpräsident im Widerspruch zum Sozialminister darstellt, dass er sich vorstellen könnte, die Initiative des Herrn Koch zu unterstützen, das hat mich dann doch die Frage stellen lassen, welchen Gestaltungsspielraum es für einen Sozialminister für eine gestaltende Sozialpolitik gibt, wenn ein Ministerpräsident eine Koch'sche Initiative unterstützen will. Ich glaube, hier ist eine Crux, dass nämlich bestimmte Interessen immer wieder über soziale Interessen der Einzelnen, die in unserem Land als Parteiinteressen darüber hinweggehoben werden.

(Beifall bei der PDS)

Ministerpräsident Dr. Vogel müsste schon längst wissen, dass der Ruf nach geringen Einstiegsgehältern für junge Menschen bzw. die Einführung des so genannten Kombilohnes nicht vor Armut schützt und dieser Trend auch nicht, wenn er kommt, um Thüringen einen Bogen macht, sondern es sind Verdrängungswettbewerbe, so wie sich die Länder artikulieren, wenn sie es einführen. Herr Koch will seine Sozialhilfeempfänger offensichtlich loswerden. Er will sie wegschicken. Wir kennen diese Verdrängungsmentalitäten, wenn Herr Koch sich ausgerechnet auf amerikanische Städte beruft, in denen die Sozialhilfe, das adäquate Sozialhilfephänomen, abgeschafft worden ist und in diesen Regionen die Menschen, die arm sind, einfach nur weggehen mussten. Das sind Verdrängungswettbewerbe, die nicht nur Armut an den Rand von einer Gesellschaft drängen, sondern die Armut tatsächlich Menschen zwingt, irgendwo einen Ort zu suchen, wo sie noch leben dürfen. Und genau das ist die Kritik an der Koch'schen Theorie.

(Zwischenruf Abg. T. Kretschmer, CDU: Schreiben Sie doch mal Herrn Koch.)

Genau diese Theorie darf auch nicht ein Ministerpräsident unterstützen, schon gar nicht, wenn ein Fachminister sagt, diese Vorschläge sind für Thüringen nicht akzeptabel.

(Beifall bei der PDS)

Meine Damen und Herren, wenn es so bleibt und wir keinen Sofortbericht bekommen, dann beantragt die PDS-Fraktion die Überweisung an den Ausschuss für Soziales, Familie und Gesundheit. Ich glaube, einfach Parlamentarier an Konsequenzenüberlegungen auszugrenzen, wie Armut beseitigt und verhindert werden kann, ist der falsche Weg. Ich bitte Sie, stimmen Sie, wenn es keinen Bericht gibt, zumindest der Überweisung an den Ausschuss für Soziales, Familie und Gesundheit zu.

(Beifall bei der PDS)

Das Wort hat jetzt Frau Abgeordnete Arenhövel.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bin noch einmal hier vorgegangen, weil meine Vorrednerinnen Dinge gesagt haben, die man einfach so nicht im Raum stehen lassen kann.

(Beifall bei der CDU)

Was ich schon gar nicht ertragen kann, ist, dass hier so getan wird, als wären wir hier ein Land voller Familien, in denen nur geschlagen wird, als wären wir ein Land, in dem alle Schüler ihre Schule abbrechen usw.

Meine Damen und Herren, dem muss heftig widersprochen werden.

(Beifall bei der CDU)

Frau Bechthum, wenn Sie schon die Statistik bemühen, dann machen Sie sich doch auch einmal bitte sachkundig. Bei Ihrer Zahl der Schulabbrecher, die Sie genannt haben, da müssen Sie schon auch einmal genauer hinsehen, da sind Förderschüler mit drin, da sind junge Leute mit drin,

(Zwischenruf Abg. Nitzpon, PDS: Nein, nein, nein, das sind die Zahlen des Ministeriums ohne Förderschulen.)

die die 11. Klasse absolviert haben, die Berufsschulreife erworben haben. Ich denke, Thüringen ist ein Land, das mit dem Abitur nach 12 Jahren einen großen Fortschritt erzielt hat, indem wir nämlich die Ausbildung verkürzen. Das ist der Trend, dort muss es hingehen, meine Damen und Herren, und nicht in die andere Richtung.

(Zwischenruf Abg. Thierbach, PDS: Sie irren sich, Frau Arenhövel.)

(Beifall bei der CDU)

Sie haben vom Sozialbericht gesprochen. Meine Damen und Herren, wir haben die Aufforderung der PDS-Fraktion hierzu keinesfalls nötig. Wir nehmen die sozialen Probleme in diesem Land sehr ernst. Der Sozialminister hat den Bericht ausgeschrieben,

(Beifall bei der CDU)

und zwar ganz im Gegensatz, Frau Bechthum, als Ihre Partei das Ministerium noch geführt hat, wo nur die Landesregierung selbst einen Bericht vorgelegt hat. Auch das haben wir damals kritisiert. Jetzt ist er ausgeschrieben, Herr Minister, ich beglückwünsche Sie dazu. Ich kann nur hoffen,

(Heiterkeit bei der PDS, SPD)

dass Sie diesen Sozialbericht sehr offensiv aufgreifen, dass Sie auch einmal darstellen, wie die Familieneinkommen beispielsweise seit 1990 angestiegen sind. Auch das gehört hier mit dazu, wenn wir darüber reden.

Wenn wir über den Armutsbegriff reden, dann sollten Sie doch bitte auch einmal über den Tellerrand hinaussehen. Sind Sie denn schon einmal in Rumänien oder Russland gewesen, wo das blanke Chaos herrscht?

(Zwischenruf Abg. Thierbach, PDS: Wie zu DDR-Zeiten, da wurde auch auf Schlechteres verwiesen.)

Da wäre vielleicht auch einmal über Armut zu reden.

(Zwischenruf Abg. K. Wolf, PDS: Sie ver- achten Probleme Thüringer Menschen!) )

Selbstverständlich müssen wir uns um die Probleme hier in diesem Land kümmern. Die CDU-Fraktion wird sich sehr intensiv mit diesen Problemen befassen, aber was wir hier nicht ertragen können, ist die allgemeine Larmoyanz, die hier aufgemacht wird, dazu besteht überhaupt kein Grund. Ich möchte noch einmal hinzufügen, der Reichtums- und Armutsbericht der Bundesregierung weist in der Tat gravierende Mängel auf. Zum Beispiel fehlt es vollkommen, dass einkommensschwache Familien über einen längeren Zeitraum auch einmal beobachtet werden.

(Zwischenruf Abg. Thierbach, PDS: Wann hat das die Bundesregierung der CDU in der vorangegangenen Legislaturen getan?)

Frau Thierbach, jetzt bin ich dran. Lassen Sie mich bitte auch einmal ausreden.

(Beifall bei der CDU)