Protocol of the Session on May 17, 2000

In meiner Kleinen Anfrage zur "Situation für Rollstuhlfahrer und andere Gehbehinderte im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) in Thüringen" wurde nach behindertengerechter Ausstattung von Bahnhöfen und Haltepunkten sowie dem Einsatz von behindertengerechten Fahrzeugen gefragt. In der gegebenen Antwort der Landesregierung (Drucksache 3/372) wurde im größten Teil von behindertenfreundlichen Fahrzeugen gesprochen.

Ich frage die Landesregierung:

Gibt es im Verständnis der Landesregierung einen Unterschied zwischen behindertengerechten und behindertenfreundlichen Fahrzeugen und worin besteht dieser Unterschied gegebenenfalls?

Es antwortet wieder Minister Schuster.

Frau Präsidentin, namens der Landesregierung beantworte ich die Frage von Herrn Abgeordneten Nothnagel wie folgt:

Ja, die Landesregierung unterscheidet zwischen den Begriffen "behindertengerechtes Fahrzeug" und "behindertenfreundliches Fahrzeug". Der Unterschied besteht darin, dass bei einem behindertengerechten Fahrzeug sämtliche für den behinderten Fahrgast gegebenenfalls in Betracht kommenden Nutzungsparameter durch diesen ohne fremde Hilfe nutzbar sein müssen. Zudem müssen behindertengerechte Fahrzeuge auch der Vielzahl verschiedenartig möglicher Behinderungen Rechnung tragen können. Von behindertenfreundlichen Fahrzeugen spricht man hingegen, wenn zumindest einige solche Nutzungsparameter den Anforderungen Behinderter entsprechen. Bei der Festlegung des in Thüringen zum Einsatz kommenden behindertenfreundlichen Fahrzeugmaterials unternimmt das Land im Rahmen seiner Zuständigkeit für den Schienenpersonennahverkehr alles, um besonders auch mobilitätseingeschränkten Personen einen attraktiven Schienenpersonennahverkehr anbieten zu können.

Gibt es Nachfragen? Ja, Herr Abgeordneter Nothnagel.

Das heißt nach dieser Definition, dass die Beantwortung der Kleinen Anfrage so zu verstehen ist, dass ein gewisser Bereich von behinderten Menschen in Thüringen von dem Schienenpersonennahverkehr ausgegrenzt ist.

Weil dieser nicht behindertengerecht gestaltet ist, meinen Sie, habe ich Sie da richtig verstanden?

(Zuruf Abg. Nothnagel, PDS: Ja.)

Dies trifft sicherlich in Bereichen zu, aber nicht generell.

Damit sehe ich keine weiteren Nachfragen. Wir kommen dann zur nächsten Anfrage in Drucksache 3/564, eine Anfrage der Frau Abgeordneten Sedlacik.

Rückerstattung von Kosten, Auslagen und Zinsen des Widerspruchsverfahrens bei einem Erfolg im Anfechtungsklageverfahren

Nach einem erfolgreichen Klageverfahren in Verwaltungsstreitsachen (Kommunalabgaben) stellt sich die Frage nach der Rückerstattung von Kosten, Auslagen und Zinsen des Widerspruchsverfahrens (Vorverfahren). Ein solcher Erstattungsanspruch setzt eine gesetzliche Grundlage voraus. Nach § 80 des Thüringer Verwaltungsverfahrensgesetzes (ThürVwVfG) sind die Kosten des obsiegenden Widerspruchsführers erstattungspflichtig.

Ich frage die Landesregierung:

1. Gilt nach Ansicht der Landesregierung § 80 Thüringer Verwaltungsverfahrensgesetz auch für Verwaltungsverfahren, in denen Rechtsvorschriften der Abgabenordnung anzuwenden sind, also nach § 15 des Thüringer Kommunalabgabengesetzes bei Verfahren des kommunalen Abgabenrechts, und wie wird diese Rechtsauffassung begründet?

2. Wie bewertet die Landesregierung, dass in Bayern zu diesem Sachverhalt eine andere Regelung existiert als in Thüringen?

3. Sieht die Landesregierung zum Sachverhalt einen gesetzlichen Regelungsbedarf und welchen Inhalt würde dieser haben?

Vielen Dank. Für die Landesregierung antwortet Innenminister Köckert.

Frau Abgeordnete Sedlacik, meine Damen und Herren, für die Landesregierung beantworte ich Ihre Anfragen wie folgt:

Zu Frage 1: In § 2 Abs. 2 Nr. 1 des Thüringer Verwaltungsverfahrensgesetzes wird dessen Anwendung für Verwaltungsverfahren, in denen Rechtsvorschriften der Abgabenordnung anzuwenden sind, ausdrücklich verneint. Auch findet sich im Kommunalabgabengesetz kein Verweis auf die Anwendung des Thüringer Verwaltungsverfahrensgesetzes selbst, so dass in Anlehnung an die Rechtsprechung die Anwendung von § 80 Thüringer Verwaltungsverfahrensgesetz in kommunalabgabenrechtlichen Widerspruchsverfahren ausscheidet.

Zu Frage 2: Die Kompetenz des Landesgesetzgebers kann in den Ländern zu unterschiedlichen Rechtsnor

men führen - wie wir also eine unterschiedliche im Vergleich zu Bayern haben. Der Thüringer Landesgesetzgeber hat sich für die angesprochenen Regelungen entschieden. Ich weise aber darauf hin, dass die derzeitige Thüringer Gesetzeslage nicht einzig in der Bundesrepublik ist, sondern mit der anderer Bundesländer, etwa Hessen, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen, übereinstimmt.

Zu Frage 3: Aus Sicht der Landesregierung sind die derzeit bestehende Rechtslage und die Rechtsfolgen eindeutig, also Klärungsbedarf besteht da eigentlich nicht. Eine Änderung der Rechtslage, das heißt die Anwendbarkeit des § 80 Thüringer Verwaltungsverfahrensgesetz auch im Abgabenrecht, wird im Rahmen der nächsten, allerdings zeitlich noch nicht feststehenden Änderung des Thüringer Verwaltungsverfahrensgesetzes geprüft. Man kann in diesem Zusammenhang aber schon jetzt darauf hinweisen, dass gegenwärtig die Aufwendungen der Widerspruchsgegner, der Aufgabenträger nämlich, auch im Falle ihres Obsiegens nicht erstattet werden müssen.

Gibt es Nachfragen? Das ist offensichtlich nicht der Fall, dann stelle ich die Beantwortung fest. Gleichzeitig stelle ich fest, dass die 60 Minuten der Fragestunde erfüllt sind, und schließe diesen Tagesordnungspunkt.

Vor Aufruf des nächsten Tagesordnungspunkts komme ich zurück zu Tagesordnungspunkt 14 und möchte die Wahlergebnisse bekannt geben. Zunächst die Wahl des Abgeordneten Primas, CDU-Fraktion: 81 abgegebene Stimmen, davon entfielen 56 Stimmen auf den Abgeordneten Primas, er ist damit eindeutig gewählt,

(Beifall bei der CDU)

19 Neinstimmen und 6 Enthaltungen. Herzlichen Glückwunsch, Herr Primas. Im Blick auf den Abgeordneten Werner Buse wurden auch 81 Stimmen abgegeben. Hier entfielen auf den Abgeordneten Buse 51 Stimmen, also ebenfalls gewählt,

(Beifall bei der PDS)

19 Neinstimmen, 11 Enthaltungen. Auch dazu Glückwunsch. Damit ist diese Wahl beendet und das Gremium voll arbeitsfähig. Vielen Dank an das Parlament, dass dieses jetzt geschehen ist.

Zum Zweiten möchte ich noch bekannt geben: Es hat in der Zwischenzeit noch einmal intensiven Kontakt mit dem Verband der Vertriebenen gegeben. Ich hatte meine Entscheidung unter anderem davon abhängig gemacht, ob der Vorsitzende des BdV sich von dem Inhalt des gestern verbreiteten Flugblattes distanziert - der Ältestenrat hat es ja einstimmig verurteilt und auch die Voten aus den Fraktionen waren in dieser Richtung eindeutig - und sich

dafür entschuldigt. Er sieht sich außer Stande dies zu tun. Er hat es nicht getan und damit - so muss ich auch als Präsidentin des Thüringer Landtags sagen - stehen die Räumlichkeiten des Thüringer Landtags für die heutige Veranstaltung nicht zur Verfügung.

(Beifall bei der PDS, SPD; Abg. Stauch, Abg. Böck, CDU)

Ich bedaure das sehr im Blick auf die vielen, vielen Vertriebenen, die wir im Land haben, die auch den Inhalt dieser Erklärung genauso wenig teilen wie wir, aber sich letztlich in diesem Schlepptau befinden. Wir müssen sehen, wie wir angemessen auf die vielleicht auch nicht mehr rechtzeitig Benachrichtigten dann reagieren, dass sich Abgeordnete vielleicht auch dafür zur Verfügung halten, soweit da noch Bedarf ist. Aber die Entscheidung wird Herrn Latussek jedenfalls so mitgeteilt.

(Beifall bei der PDS, SPD)

Damit kommen wir jetzt zum Tagesordnungspunkt 16

Aktuelle Stunde

a) auf Antrag der Fraktion der PDS zum Thema: "Situation der Thüringer Wohnungswirtschaft und die Wirksamkeit der wohnungs- und städtebaulichen Förderung" Unterrichtung durch die Präsidentin des Landtags - Drucksache 3/626

Dazu zunächst die antragstellende Fraktion, Frau Abgeordnete Sedlacik, PDS-Fraktion.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, werte Damen und Herren, die reale Wohnungssituation ist in sich sehr widersprüchlich und wird sehr unterschiedlich interpretiert. Experten der Wohnungswirtschaft und des Mieterbundes haben in ihren letzten Tagungen beraten und Ergebnisse und Probleme analysiert. Jedoch wird die Situation in der Wohnungswirtschaft gegenwärtig durch die Öffentlichkeit und die Politik nur am Rande wahrgenommen. Die Politik lässt hier kaum Verantwortung erkennen, deshalb hat die PDS-Fraktion auch diese Aktuelle Stunde beantragt.

(Zwischenruf Abg. Böck, CDU: Das ist autis- tisch und trifft vielleicht auf Sie zu. Das kann doch wohl nicht wahr sein. Das ist offensicht- lich. Das haben wir aber gern.)

Herr Böck, Sie können sich dann doch gern melden. Wir haben heute und morgen Zeit, uns auch über unsere Anträge zu unterhalten.

Ich bitte doch, die Rednerin ihre Rede halten zu lassen.

Die Thüringer Wohnungswirtschaft hat viele Probleme, von denen ein Problem gegenwärtig entschiedenes Handeln der Verantwortlichen fordert, nämlich der Wohnungsleerstand. Nach Angaben des Thüringer Wohnungsverbandes steht gegenwärtig jede zehnte Wohnung in Thüringen leer. Der Wohnungsleerstand in Thüringen ist ein flächendeckendes Problem. In einigen Regionen des Freistaats beträgt der Leerstand bereits 20 Prozent und hat im Einzelfall die 30-Prozent-Marke erreicht. Der Landesregierung ist diese Situation bekannt. Auf einzelne Wohnungsunternehmen gehe ich deshalb hier nicht ein, weil dies nur den Betroffenen weiteren Imageschaden zufügen würde. Die Wohnungsgesellschaften und Wohnungsgenossenschaften im Freistaat haben fast 40.000 leer stehende Wohnungen. Die daraus resultierenden Mietmindereinnahmen gibt der Wohnungsverband mit rund 150 Mio. DM jährlich an. Andererseits verursachen leer stehende Wohnungen Kosten, deren Höhe in Thüringen auf 6 bis 8 Mio. DM monatlich geschätzt wird. Um die Kosten für eine leer stehende Wohnung zu decken, sind Einnahmen von mindestens vier vermieteten Wohnungen nötig. Betriebs- und volkswirtschaftlich ist dies eine dramatische Situation. Andererseits müssen die Öffentlichkeit und die Politik mit den Problemen des Wohnungsleerstands und den daraus resultierenden wirtschaftlichen Problemen behutsam umgehen. Geschäftspartner der Wohnungsunternehmen, Banken und Mieter dürfen nicht weiter verunsichert werden; Lösungen müssen auf den Tisch, nicht nur Zustandsbeschreibungen. Die Wohnungsunternehmen erwarten von der Landesregierung zu Recht die gemeinsame Suche nach Lösungen aus dieser Krise.

(Beifall Abg. Nitzpon, PDS)

Ohne wirksame Schritte zum Abbau des Leerstands und ohne Umorientierung der Wohnungsunternehmen als Reaktion auf die neuen Bedingungen werden Wohnungsunternehmen und -genossenschaften in ihrem Bestand gefährdet. Daraus können für das Land und die Kommunen nicht kalkulierbare finanzielle Risiken und Folgekosten entstehen. Gezielte wirtschaftliche Hilfen zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind eine notwendige Reaktion für unkalkulierbare Finanzrisiken in der Zukunft. Die Wohnungsunternehmen entwickeln erfreulicherweise selbst vielfältige Ideen und Konzepte, um ihre Mieter zu halten und neue Mieter zu gewinnen. Hierzu zählen spezielle Mietangebote an junge und ältere Menschen. Die Wohnungswirtschaft hat längst erkannt, dass Wohnen in städtebauliche Gesamtkonzepte integriert werden muss. Das Programm "Soziale Stadt" bietet aus Sicht der PDS-Landtagsfraktion gute Ansatzpunkte für ausgewogene städtische Gesamtkonzepte, das das Wohnen einschließt. Ohne Aufstockung des entsprechenden Förder

mittelprogramms von Bund und Ländern wird das Programm "Soziale Stadt" aber nur Einzelprojekten wie in Leinefelde, Bad Salzungen, Jena oder Sondershausen zugute kommen und ein Schlagwort bleiben. Die PDS fordert jedoch ein flächendeckendes Programm "Die Soziale Stadt". Wohnungsförderung muss zukünftig über eine eigentliche Wohnungsbauförderung hinausgehen. Die PDS unterstützt die Forderungen der Thüringer Wohnungswirtschaft, wie zu Beginn dieses Monats in Suhl im Beisein des Innenministers Köckert verkündet. Für die PDS bilden soziale und ökonomische Aspekte...

Ich darf an die Redezeit erinnern, die fünf Minuten sind abgelaufen. Bitte kommen Sie zum Schluss.

Sofort. Kommunale Wohnungsunternehmen und -genossenschaften haben - anders als die private Wohnungswirtschaft - eine soziale Aufgabe und Verantwortung dafür, dass Wohnen für jedermann bezahlbar bleibt. Gerade diese Funktion kann die private Wohnungswirtschaft nicht erbringen. Die PDS hat im Landtag Anträge zur Beratung und Entscheidung vorgelegt, diese werden morgen auf der Tagesordnung stehen. Ich wünsche mir eine konstruktive Debatte dazu für eine aktive und zukunftsorientierte Wohnungspolitik. Danke.

(Beifall bei der PDS)