Protocol of the Session on May 23, 2019

Ich verschließe auch nicht die Augen davor, welche Anziehungskraft die freiheitlich-rechtsstaatliche Ordnung des Grundgesetzes damals auf die Bürgerinnen und Bürger hatte. Der Beitritt gemäß Artikel 23 war die Folge einer demokratischen Entscheidung vor allem der Bürgerinnen und Bür

ger der DDR. Er war sicher auch eine gewisse historische Zwangsläufigkeit; denn nach dem Scheitern des Sozialismus in den Farben der DDR wurde auch das sie prägende Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell abgewählt. Ich bin auch bereit anzuerkennen, dass der verfassungsrechtlich so gestaltete Vereinigungsprozess uns damals eine verfassungsrechtliche Stabilität gegeben hat.

Aber, meine Damen und Herren, dieses Plus hat eben auch ein ganz klares Minus. Eine Verfassung, der man beitritt, kann in dem Teil von Staat und Gesellschaft, der beitritt, nicht in dem Maße Identität stiften, wie es eine gemeinsam ausgearbeitete, diskutierte, erstrittene, im Kompromiss ausgehandelte gesamtdeutsche Verfassung getan hätte.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich glaube, der eigentliche Fehler der westdeutsch dominierten Politik in den 90er-Jahren ist es gewesen, dass der Auftrag des Einigungsvertrages, eine einigungsbedingte Verfassungsdebatte zu führen, nicht wirklich ernst genommen wurde. Ich befürchte auch, dass wir hinsichtlich der Akzeptanz des Grundgesetzes und der durch dieses gestalteten Verfassungsordnung im Osten Deutschlands noch heute unter dieser politischen Fehleinschätzung leiden.

Dennoch, meine Damen und Herren: Ich bin ein Fan des Grundgesetzes. Warum ist das so? - In seiner in vielerlei Hinsicht gegebenen Offenheit gibt einem das Grundgesetz die Gewissheit, von der Gleichwertigkeit der Menschen gestützte Überzeugungen auch tatsächlich leben zu können. Das Grundgesetz ist in bemerkenswerter Weise frei von Ideologien und Dogmen, aber nicht frei von Werten. Es ist offen, es entgrenzt nicht und es ist auch nicht beliebig. Es spricht zu mir nicht als Schlussstein einer Entwicklung oder gar als das Ende der Geschichte oder als das Ende der Suche nach den richtigen Fragen auf die scheinbar gesicherten Antworten unserer Zeit.

Für mich ist das Grundgesetz sehr wohl ein Teil des Fundaments unserer Gesellschaft.

(Zustimmung bei der LINKEN, von Dr. Katja Pähle, SPD, und von Sebastian Striegel, GRÜNE)

Diesen weltanschaulich offenen Rahmen, der sich auf die Überzeugung von der gleichen Würde der Menschen und eben nicht nur der Deutschen sowie - das ist mir wichtig - auf einen antifaschistischen und antistalinistischen, zutiefst prorepublikanischen Konsens stützt, den wollen wir LINKE ausdrücklich bewahren.

(Zustimmung bei der LINKEN und von Se- bastian Striegel, GRÜNE)

Meine Damen und Herren! Genau so begreifen wir echten Verfassungsschutz.

Zu dieser Ordnung, zu dieser Offenheit gehört auch die Eigentumsordnung. In Artikel 14 steht der berühmte Satz „Eigentum verpflichtet.“ Die Verfassung selbst schiebt die Erläuterung nach, indem sie fordert, „sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen.“ Wohlgemerkt: Das ist nicht das Kommunistische Manifest, sondern unser aller Grundgesetz.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei den GRÜNEN)

Und, ja, Eigentum soll tatsächlich verpflichten. Denn Solidarität kommt nicht einfach aus der Steckdose. Sie muss stets neu begründet und gestaltet werden. Weil unser Land Artikel 14 Abs. 2 vernachlässigt hat, wird Artikel 15 aktuell. Unser Staat hat sich selbst enteignet. Weil es die neoliberale Heilslehre war und noch ist, hat die öffentliche Hand viele öffentliche Güter privatisiert, die unser aller Eigentum waren, um für uns die Daseinsvorsorge zu sichern. Wir haben uns quasi selbst enteignet.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Grundgesetz erinnert uns daran, dass wir unsere Pflichten für das Gemeinwohl nicht privatisieren dürfen. Artikel 15 ist auch kein sozialistisches Teufelszeug. Er ist gemeinsam mit Artikel 14 Abs. 2 das Soziale an der Marktwirtschaft.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung von Sebastian Striegel, GRÜNE)

Doch damit liegt es im Argen. Unser reiches Land leistet sich so eklatante soziale Schieflagen, dass ich befürchte, sie könnten die Akzeptanz unserer Verfassung ernsthaft gefährden, würden wir sie nicht ernsthaft angehen. Hierzu ein paar Fakten. 50 reichen Haushalten in Deutschland gehört so viel wie etwa 40 Millionen Deutschen, also der Hälfte der Bevölkerung. Die wohlhabendsten 10 % der Haushalte besitzen ca. 60 % des Gesamtvermögens. In den vergangenen Jahren fielen 90 Kindern Firmen im Wert von jeweils durchschnittlich 300 Millionen € steuerfrei in den Schoß. Solche Geschenke zementieren die Ungleichheit.

Hinzu kommt: Nahezu im ganzen Osten Deutschlands liegt das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen unter 20 000 € im Jahr. Laut Zahlen des Deutschen Kinderschutzbundes leben in Deutschland 4,4 Millionen Kinder und Jugendliche in Armut bzw. sind armutsgefährdet. Meine Damen und Herren! Das ist ein Offenbarungseid an unsere Zukunft, ein Offenbarungseid an die zukünftige Generation.

Worum es nicht nur, aber auch in Deutschland geht, bezeichnet der demokratische Präsident

schaftsbewerber in den USA Andrew Yang als Freiheitsdividende. Die Instrumente hierfür liegen auch in Deutschland auf dem Tisch. In Stichworten: Kindergrundsicherung, bedingungsloses Grundeinkommen, Grundsicherung im Alter, gerechte Besteuerung von Erbschaften, von Vermögen und von Kapital - insbesondere der Superreichen - und Staatsfonds zur Sicherung der Daseinsvorsorge.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Erlebt die Mehrheit der Menschen diese Freiheitsdividende jedoch nicht und treten Zukunftsängste hinzu, gefährdet das den sozialen Bundesstaat Bundesrepublik Deutschland, von dem in Artikel 20 Abs. 1 des Grundgesetzes aber ausdrücklich gesprochen wird.

Meine Damen und Herren! Noch ein paar Worte in eigener Sache. Meine Partei DIE LINKE wurzelt über die SED tief in der DDR. Das geht uns nicht alleine so, auch wenn es manchmal hier im Raum den Anschein hat.

(Zustimmung bei der LINKEN und von Se- bastian Striegel, GRÜNE)

Jede Partei wie jeder Mensch ist ganz individuell dazu verpflichtet, in den Spiegel der Geschichte zu schauen. DIE LINKE und auch ich ganz persönlich blicken furchtlos und verantwortungsbewusst hinein. Umso mehr irritiert es mich, wenn ich - nicht zuletzt in diesem Saal - selbst 30 Jahre nach der friedlichen Revolution in der DDR immer noch erleben muss, dass unsere zentrale Verantwortung für die DDR als Argument in fast jedem tagespolitischen Streit herhalten muss. Wir Abgeordnete der LINKEN sind durch die Menschen im Land als Vertreterinnen und Vertretern in den Landtag von Sachsen-Anhalt gewählt worden. Dies haben Sie zu respektieren.

Streiten Sie mit uns in der Sache. Sie müssen uns nicht alle mögen, aber respektieren Sie das Mandat, das auszuüben nicht nur Ihnen, sondern auch uns aufgegeben worden ist. Respektieren Sie bitte unseren mutigen, bei manchen von uns auch sehr selbstlosen Einsatz für den Fortbestand unserer freiheitlich-demokratischen Republik. Einige von uns nehmen persönliche Gefährdungen durch aktives, bewusst unser Gesicht zeigendes Unterstützen sowie Entgegentreten bewusst in Kauf und erleben hierdurch nicht selten Gefährdungssituationen.

(Zustimmung bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)

Dieser Respekt gegenüber uns als frei gewählten Mitgliedern dieses Parlaments ist die Voraussetzung für den mitunter auch entschiedenen Streit in der Sache. Von der Opposition Lob und Zustimmung zu erwarten verkennt nicht zuletzt ein

Grundprinzip der Verfassungsordnung. Demokratie ist nicht Konsens, sondern eben die Suche nach dem Konsens im Konflikt. Konflikt ist Teil des Wandels, vor dem wir stehen. Nicht nur Populismus schadet unserer Gesellschaft, sondern auch phlegmatische Ruhe.

By the Way, ich sprach von Respekt. Dieser Respekt ist auch die Voraussetzung für das zurzeit an manchen Orten öffentliche - hier in SachsenAnhalt im Jahr 2016, manche werden sich erinnern, vor den theoretisch denkbaren drei Wahlgängen gemäß der Landesverfassung betont nichtöffentliche - Nachdenken innerhalb der CDU auch im Hinblick auf DIE LINKE darüber, wie stabile handlungsfähige Mehrheiten in einem Parlament aussehen können.

Meine Damen und Herren! Nicht zuletzt durch die populistische Argumentation von rechts außen hat sich in Staat und Gesellschaft ein Missverständnis breit gemacht. Ich spreche von dem Missverständnis, die Demokratie sei der höchste politische Wert. Ich bin selbstverständlich davon überzeugt, dass die Demokratie schützenswert ist. Doch Weimar lehrt, dass sie allein uns nicht vor der Barbarei schützt. Die Demokratie kann zur Herrschaft des Mobs oder zur bloßen Akklamationsmaschine der Bürokratie oder der Eliten degenerieren, wenn es die Mehrheit will oder wenn der Mehrheit nahegebracht wird, dass es gut für sie sei.

(Tobias Rausch, AfD: Jetzt wird die Demo- kratie infrage gestellt!)

Für mich ist mit einem Blick nach Weimar und in das Grundgesetz die Republik der höchste zu schützende Wert.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung von Sebastian Striegel, GRÜNE)

Es ist die Republik, weil sie den Menschen in seiner Würde und seinen unveräußerlichen Rechten schützt, weil sie Minderheiten schützt,

(Zustimmung)

weil sie die staatlichen Gewalten möglichst sorgfältig voneinander trennt und weil sie durch mitunter mühselige parlamentarische Verfahren politische Durchmärsche verhindert.

Wir dürfen uns als Gesellschaft und als Parlament nicht von denen jagen lassen, die sich als die Verkünder des direkten Volkswillens präsentieren, den es im Übrigen gar nicht gibt. Wer hingegen der parlamentarischen Demokratie die Aufgabe zuweist, den Mehrheits- oder gar einen wo auch immer ablesbaren Volkswillen - bei den Nazis hieß und heißt das „gesundes Volksempfinden“ - möglichst direkt und unvermittelt in die Sprache des Gesetzes oder gar der Verfassung zu über

setzen, missversteht sie - nein, noch viel schlimmer, stellt sie infrage.

(Zustimmung bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)

Republik und Rechtsstaat weisen über die Verfassung nicht nur den Regierenden, sondern auch den Regierten und damit die Demokratie mit dem sie prägenden Mehrheitsprinzip in klare Schranken. Keine Mehrheit, kein Volkszorn darf die Rechte der Minderheiten und die Würde des Menschen antasten.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Damit bin ich bei Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieser Satz wirkt fast wie eine Verheißung des Paradieses. Dass er als Antithese zur Hölle der faschistischen Diktatur geboren worden ist, zeigt der zweite Satz, der oft nicht mitgelesen wird: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Wir stehen als „Gesellschaft der Singularitäten“ - wie der Soziologe Andreas Reckwitz es nennt - vor gewaltigen gesellschaftspolitischen Herausforderungen. Wir werden diese Herausforderungen nur in Freiheit meistern können, wenn wir auf dem Boden des Grundgesetzes bleiben und das Schicksal der Weimarer Republik und ihrer Verfassung als Mahnung in unserem kollektiven Bewusstsein wachhalten. Denn, meine Damen und Herren, eine Weimarer Probe musste unser Grundgesetz noch nicht bestehen. Unter Umständen steht uns das aber noch bevor.

Wenn man das Interviewbuch mit Herrn Höcke liest, bekommt man ein Gefühl dafür, was im geistigen Schoß der Partei alles ausgebrütet wird, die hier rechts außen in diesem Saal sitzt. Ich zitiere:

„In der erhofften Wendephase stünden uns harte Zeiten bevor, denn umso länger der Patient die drängende Operation verweigert, desto härter werden zwangsläufig die erforderlichen Schnitte sein.“

Der gleichgesinnte Interviewer wirft ein, schon Hegel habe doch gewusst, dass brandige Glieder nicht mit Lavendelwasser kuriert werden könnten. Darauf der Interviewte: „Eine neue politische Führung wird dann schwere moralische Spannungen auszuhalten haben, die ihrem eigentlichen moralischen Empfinden zuwiderlaufen.“ - So spricht der Fraktions- und Landesvorsitzende der AfD in Thüringen.

(Oliver Kirchner, AfD: 24 %!)

Er ist Spitzenkandidat für die bevorstehende Landtagswahl. Er sagt das nicht etwa in einem fakemäßig verstümmelten Zitat, sondern in einem

ungekürzten über knapp 300 Seiten laufenden Interview, das ankündigt, nicht Äußerungen über ihn, sondern von ihm zu publizieren, Originalton blau-braun also, ungekürzt und unzensiert.