Wir können nunmehr in die Debatte einsteigen. Es ist eine Fünfminutendebatte vorgesehen. Für die Landesregierung spricht Ministerpräsident Herr Dr. Haseloff. Sie haben das Wort.
(Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff über- gibt Thomas Lippmann, DIE LINKE, eine Brille, die dieser auf dem Rednerpult zu- rückgelassen hatte)
(Heiterkeit - Minister Thomas Webel: Rück- gabe! - Eva von Angern, DIE LINKE: Nicht Austausch! - Weitere Zurufe von der LIN- KEN)
- Gut. Rückgabe vor Austausch. Rückgabe der Brillen. In Ordnung. - Herr Ministerpräsident, Sie haben das Wort.
Herr Präsident, ich habe vor, meine eigene Brille zu behalten. - Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In wenigen Tagen gedenken
wir des Novemberpogroms vor 80 Jahren. In der Nacht vom 9. auf den 10. November brannten in Deutschland die Synagogen. Ein fanatisierter Mob zog mordend durch die Straßen und plünderte jüdische Einrichtungen und Wohnungen. Der Volksmund nannte diese Ereignisse später verharmlosend „Reichskristallnacht“, aber in dieser Nacht ging mehr als nur Schaufenster zu Bruch. Es war die Katastrophe vor der Katastrophe.
Vom 9. November 1938 führt ein direkter Weg nach Auschwitz und in die anderen nationalsozialistischen Vernichtungslager. Humanitäre Errungenschaften unserer Zivilisation sind alles andere als unerschütterlich. Sie können leicht zunichtegemacht werden. Der Firnis der Zivilisation ist dünn.
Wir müssen wachsam und sensibel sein gegenüber allen Einstellungen, Haltungen und Taten, die eine totalitäre Herrschaft möglich machen können.
Sich zu erinnern, ist deshalb keine Frage von Wollen oder Nicht-Wollen. Auch ist sie nicht in das Belieben des Einzelnen gestellt.
Wer sich fragt, ob er überhaupt wissen und sich erinnern will und warum er das tun sollte, dem ist zu entgegnen, dass Wissen und die Kenntnis der Vergangenheit die Voraussetzung für Zivilisation und Humanität sind. Ihm ist aber auch zu sagen, Hitler bleibt eine anthropologische Möglichkeit.
Der Journalist und Historiker Volker Ullrich schreibt im zweiten Band seiner jüngst veröffentlichten Hitler-Biografie:
„etwas lehrt, dann dies: Wie rasch eine Demokratie aus den Angeln gehoben werden kann, wenn die politischen Institutionen versagen und die zivilgesellschaftlichen Kräfte zu schwach sind, um der autoritären Versuchung zu begegnen.“
Die Erinnerung an die singulären Verbrechen des Nationalsozialismus ist ein moralischer Imperativ und eine unbedingte Verpflichtung. Diese Geschichte verjährt nicht. Man kann sie auch nicht bewältigen. Was geschehen ist, ist geschehen, aber wir alle tragen Verantwortung. Wir dürfen nicht blind in die Zukunft gehen.
aus dem Erinnern ein konkreter Auftrag. Dieser lautet, unsere Zukunft im Geiste der Freiheit, der Toleranz, der Mitmenschlichkeit und der Weltoffenheit zu gestalten.
„Wehret den Anfängen“ ist alles andere als eine Floskel. Wir müssen verantwortlich mit unserer Freiheit umgehen.
Historiker haben in den vergangenen Jahren herausgearbeitet, dass das Wissen um die Schoah weit verbreitet war. Die Bücherverbrennungen im Jahr 1933, die systematische Verfolgung politischer Gegner, die rechtliche Diskriminierung der Juden und die Zerstörung ihrer Synagogen konnten nicht übersehen werden. Die Brutalität, der Machtterror waren offensichtlich.
Doch zogen es die meisten vor, sich abzuwenden und wegzusehen. Sie wollten wider besseres Wissen die Verbrechen vor ihrer Haustür nicht wahrhaben. Aber wer wissen wollte, der konnte wissen. Die Tagebücher von Victor Klemperer und des weniger bekannten Laubacher Justizinspektors Friedrich Kellner legen davon Zeugnis ab. Ich empfehle jedem, sie zu lesen.
„Ich konnte die Nazis damals nicht in der Gegenwart bekämpfen. Also entschloss ich mich, sie in der Zukunft zu bekämpfen. Ich wollte kommenden Generationen eine Waffe gegen jedes Wiederaufleben solchen Unrechts geben.“
Kellners Waffe heißt Aufklärung. Sie beginnt in der Familie, in der Schule, an den Universitäten, im beruflichen und privaten Umfeld. Aufklärung und Erinnerung müssen zusammen gedacht werden.
Die Bedeutung des Mitlebenden für die Vermittlung historischen Wissens ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gewachsen. Deshalb stellt sich heute mehr denn je die Frage nach der Zukunft der Erinnerung.
In einigen Jahren wird sich niemand mehr aus eigenem Erleben an den Nationalsozialismus und an seine Verbrechen erinnern. Schon heute ist der Nationalsozialismus für die meisten Menschen
Geschichte und keine erlebte Vergangenheit. Dann liegt es an uns, die Erinnerung zu bewahren. Das Gedenken kann genauso nachhaltig sein wie eine von unmittelbarer Zeitzeugenschaft geprägte Erinnerungskultur.
Schließlich gibt es auch eine gelernte Zeitgenossenschaft und tätige Erinnerung. Geschichte ist mehr als nur die Summe aus persönlicher Erfahrung und persönlichem Erleben.
Die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus muss lebendig bleiben. Das sind wir allen Opfern der nationalsozialistischen Barbarei schuldig.
Wir schulden diese Erinnerung auch uns selbst. In unserer Gesellschaft muss ein Klima der Toleranz und des gegenseitigen Respekts herrschen. Nur dann können Menschen unterschiedlicher Kulturen und Religionen in Frieden miteinander leben.
„Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung“, schrieb der Philosoph Theodor Adorno schon 1966. Das gilt heute mehr denn je, und ich füge hinzu, indem ich den ersten Absatz des ersten Artikels unseres Grundgesetzes zitiere:
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
Eine Frage, bitte. - Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, ist es nicht gerade vor dem hier beschriebenen Hintergrund der damaligen Judenverfolgung, dieses Schreckens, dieses Grauens, an uns, an Deutschland, am deutschen Volk, heute alles dafür zu tun, dass sich der Antisemitismus heute nicht erneut breitmacht, nicht erneut stärker wird in unserem Land?
Ist es daher nicht unsere Pflicht, dem doch merklich neu aufkommenden Antisemitismus in unserem Land viel stärker entgegenzutreten? - Dabei ist es egal, was der Hintergrund dessen ist. Jetzt ist der Hintergrund natürlich eine Islamisierung verbunden mit Antisemitismus. Jetzt ist der Hintergrund eine Massenzuwanderung von Menschen, die diese Ideologie mitbringen.
Herr Poggenburg, ich möchte nur Folgendes darauf antworten, weil ich das Wesentliche in meinem Redebeitrag, so denke ich, zum Ausdruck gebracht habe. Ich bin 64 Jahre alt und habe in diesen 64 Jahren an eigener Lebenserfahrung und Lebenserinnerung in unterschiedlichen Systemen, unterschiedlichen Rahmenbedingungen und auch Umfeldern gewonnen.
Ich kann summarisch nur Folgendes sagen: In allen Zeiten meines Lebens sind mir in unterschiedlicher Ausprägung antisemitische Tendenzen offenkundig geworden. Ich bin immer aktiv gewesen, um dem entgegenzutreten. Das fängt mit der Sprache an, das fängt mit Witzen an, die erzählt werden, und mit vielem anderen - einschließlich einer politisch intendierten Meinung zum Staat Israel und zu dem, was aktuelle israelische Politik anbelangt.
Man könnte das in aller Breite diskutieren und versuchen zu analysieren. Es ist auch kein Phänomen eines einzelnen Bundeslandes. Es ist nicht einmal ein Phänomen, das nur in Deutschland existiert, sondern das ist in verschiedensten Fallgestaltungen eine globale Herausforderung. Wir müssen immer aktuelle Antworten dazu finden, wie wir damit umgehen.