Protocol of the Session on July 8, 2020

Wir als Sachsen-Anhalt profitieren von diesem Wiederaufbauprogramm für die betroffenen Regionen, weil nur so eine Europäische Union in den Augen der Menschen und ökonomisch zusammenwachsen wird, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall)

Ich will am Ende nichts zum Thema Migration und Flüchtlinge sagen - dazu hat Frau Quade in den letzten Landtagssitzungen genug gesagt -, sondern noch auf ein anderes Thema zu sprechen kommen. Der Ministerpräsident hat am 3. Juli 2020 im Bundesrat eine interessante Rede gehalten. Mit Blick auf osteuropäische Nachbarn fordert er Verständnis für deren Positionen innen- und europapolitisch ein. Man dürfe da nicht vormundschaftlich auftreten und man müsse Vielfalt akzeptieren.

Allerdings stellt sich die Frage, wo Vielfalt innerhalb der EU ihre Grenzen hat. Beim Rassismus gegen Sinti und Roma? Bei der faktischen Abschaffung der Pressefreiheit? Bei der Ausschaltung der Justiz als unabhängige Kraft? Beim latenten Antisemitismus? Bei der Entrechtung und Misshandlung von Migranten oder bei der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung?

Herr Abg. Gallert, kommen Sie zum Schluss.

Nein, Herr Ministerpräsident, hierbei wünsche ich mir keine Vielfalt in der Europäischen Union. - Danke.

(Lebhafter Beifall)

Es gibt eine Wortmeldung des Abg. Herrn Roi. - Bitte, Herr Roi.

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich habe zwei Fragen. Die erste Frage möchte ich damit einleiten, dass viele Bürger in unserem Bundesland kritisch gegenüber der EU sind; auch unsere Partei ist das.

Sie haben gerade angesprochen, dass die EUKommission das Land Italien 68 Mal aufgefordert hätte, das Gesundheitssystem herunterzufahren, und letztlich dazu gezwungen hat, dieses zu privatisieren. Das ist ein Umstand, der genau die Kritik bestätigt, die viele Bürger in unserem Bundesland teilen. Sie sehen die EU als eine LobbyVeranstaltung für Großkonzerne. Wenn ich jetzt Ihr Beispiel nehme, dann ist das die Bestätigung dieser Auffassung.

Meine Frage an Sie wäre: Wie wollen Sie das, was Sie gerade beschrieben haben, reformieren? Sehen Sie in irgendeiner Weise einen Reformbedarf bzw. eine Möglichkeit, das, was sich dort abspielt, zu ändern?

Die zweite Frage betrifft die Flüchtlingspolitik, die Sie zum Schluss angesprochen haben. Sie sprachen von Vielfalt in den Positionen der Regierungen in Osteuropa. Dazu frage ich Sie ganz konkret: Wie stehen Sie zur Souveränität der Nationalstaaten, wenn eine Regierung sagt, dass sie das Kontingent an Flüchtlingen, das der deutsche Innenminister Seehofer vorschlägt, nicht aufnehmen will? Wie gehen Sie mit diesen Ländern um, wenn deren Parlamente und Regierungen sagen, dass sie nicht aufnehmen wollen?

Herr Roi, kommen Sie zum Schluss. - Bitte, Herr Gallert.

Zur ersten Frage kann ich Ihnen garantieren: EUkritisch bin auch ich. Das haben Sie möglicherweise an meiner Rede gemerkt. Was ich von Ihnen bisher immer gehört habe, war, dass Sie die EU ablehnen. Das ist ein Unterschied.

Zweitens. Natürlich ist die EU ein menschengemachtes institutionelles Gremium. Der zentrale sozusagen genetische Fehler war: Es ist eine Freihandelszone und um die sozialen Sicherungssysteme sollen sich die Länder selbst kümmern. Aber wir haben doch etwas gelernt, übrigens schon nach der Finanzkrise. Sogar ein so neoliberaler Chef wie der damalige Chef der Kommission aus dem werten Luxemburg, der erst Steuerhinterziehung organisiert hat, hat, als er dann EU-Kommissionschef war, gemerkt, dass die Leute ihm wegbrechen, wenn sie die EU mit sozialer Kälte verbinden, und auf einmal angefangen, etwas von sozialer Säule etc. zu erzählen. Selbst solche Leute sind lernfähig.

Ich sage ganz ausdrücklich: Eine menschengemachte Institution kann ihre Ziele neu definieren. Deswegen brauchen wir solche Ziele, wie zum Beispiel den Mindestlohn in den europäischen Ländern, mindestens 60 % des Medianlohnes. Wir brauchen eine Europäische Union - das kann man machen, indem man Verträge ändert -, die nicht etwa die Leute dazu zwingt, die sozialen Strukturen abzubauen, sondern die sie dazu motiviert und unterstützt, soziale Strukturen aufzubauen. Das ist meine feste Überzeugung; deswegen bin ich Europäer.

(Beifall)

Und weil ich Europäer bin, kritisiere ich die Europäische Union, aber ich lehne sie nicht ab. Das ist der Unterschied zwischen uns.

(Zuruf)

Noch einmal zur Frage der nationalen Souveränität. Wissen Sie, der Begriff der nationalen Souveränität wird immer dann herausgeholt, wenn es gerade am besten passt. Nationale Souveränität haben wir in vielen Bereichen Europas schon längst nicht mehr. Wenn wir diese hätten, dürfte jedes Land sein eigenes Auto bauen. Das geht aber schon deshalb nicht, weil die verschiedenen technischen Normen nicht zusammenpassen würden.

Nationale Souveränität bedeutet an der Stelle: Ich interessiere mich nicht für die Probleme, die durch den Europäischen Wirtschaftsraum an seinen

Außengrenzen entstanden sind. - Nein. Ich sage: Humanismus, Grundwerte, Menschlichkeit sind für mich deutlich höhere Werte als der der nationalen Souveränität. Deswegen kann ich nicht akzeptieren, wenn sich jemand hinstellt, die Migration verurteilt, Migranten diskriminiert und ihnen die Rechte nimmt. - Das ist die Antwort darauf, Herr Roi.

(Beifall)

Es gibt eine Nachfrage. Aber ich bitte Sie, diese kürzer halten.

Nur ganz kurz zu dem zweiten Aspekt. Sie haben als Letztes gesagt, dass Sie es nicht akzeptieren können, wenn das jemand ablehnt.

Jetzt ist meine Frage: Was wollen Sie politisch mit der Regierung eines Landes machen, die sagt, dass sie nur ein kleines Kontingent oder gar kein Kontingent an Flüchtlingen aufnimmt und sich das eben nicht vom deutschen Innenminister auferlegen lassen will?

Die Frage ist: Was wollen Sie politisch machen? Wollen Sie sie zwingen? Wollen Sie ihnen den Geldhahn abdrehen? Wollen Sie sie aus der EU schmeißen? Was ist Ihre politische Antwort auf eine Regierung, die sagt: Wir setzen den Willen unseres Volkes um?

Herr Gallert, bitte.

Wissen Sie, die Europäische Union ist ein Vertragswerk. Da gibt es gemeinsame Regeln. Wenn man klar sagt, gemeinsame Regeln will man nicht einhalten, dann muss man dieses Vertragswerk letztlich infrage stellen. Das ist ja in Großbritannien auch passiert. Da haben die Leute - zumindest in diesem einen Fall - gesagt, dass sie in diesem Vertragswerk nicht mehr mitgehen wollen.

Wissen Sie, was mich völlig frustriert? Nehmen wir einmal an, wir würden sagen - das war ja die Debatte, die wir lange hatten -, uns interessieren die entsprechenden Urteile des Europäischen Gerichtshofs nicht mehr, wir machen eine Tarifbindung bei öffentlichen Aufträgen. Da gibt es dann sofort ein Regelwerk, das Ihnen das untersagt. Wir haben viele Diskussionen gehabt, wie wir irgendwelche Bypässe legen können, weil wir wissen: An der Stelle ist die Europäische Union knallhart. Tarifverträge dürfen wir nicht als Grundlage nehmen.

Interessanterweise jedoch zuckt man, wenn es um Fragen wie Rechtsstaatlichkeit, Migration,

Freiheit der Presse oder Unabhängigkeit der Justiz geht, mit den Schultern und sagt, das ist jetzt leider nicht so. Und der Ministerpräsident sagt: Habt doch mal Verständnis, die haben eine andere Tradition. Die wollen das nicht so.

Warum ist das auf der einen Seite möglich, auf der anderen aber nicht? Natürlich kann man unterschiedlicher Meinung darüber sein, ob man dann Mittel streicht. Aber ich frage mich natürlich auch, wie es einen Anspruch auf europäische Mittel gerade bei den Ländern geben kann - diese halten sogar am meisten die Taschen auf -, die gegenüber den europäischen Institutionen die größte Hetze loslassen. Wir wissen, wie das bei Duda ist. Wir wissen, wie das bei Orbán ist. Da braucht man sich bloß deren Reden anzuhören. Und dann gucken wir uns einmal an, wer die meisten Gelder bekommt, die zum Teil sogar in ihre privaten Taschen wandern. Das regt mich auf, Herr Roi; das können Sie aber glauben. - Danke.

(Beifall)

Vielen Dank, Herr Abg. Gallert. Ich sehe keine weiteren Wortmeldungen. - Bevor wir in die Dreiminutendebatte der Fraktionen einsteigen, hat für die Landesregierung der Staats- und Kulturminister Herr Robra das Wort. - Herr Minister, bitte.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Abgeordneter und Vizepräsident Gallert, gestatten Sie mir eine - wenn Sie so wollen - persönliche Vorbemerkung. Ich verfolge ja mit wachsendem Interesse Ihr Engagement für Europa und nehme wahr, dass Sie da innerhalb der LINKEN eine sehr realistische, man könnte sagen, eine Realo-Position einnehmen. Wenn es in der LINKEN mehr von Ihnen gäbe, wäre ich nicht so pessimistisch, was die Zukunft der LINKEN in Europa betrifft. - Das einmal vorweg.

(Zuruf)

In der Tat, Europa steht vor Riesenherausforderungen. Die Frage ist, ob nun, wie der Antrag der LINKEN suggeriert, ein Neustart erforderlich ist. Dazu habe ich eben auch nichts gehört, sondern es sind viele Probleme und zugegebenermaßen auch Lösungsansätze dargestellt worden. Ich persönlich glaube nicht, dass wir einen Neustart brauchen, sondern wir brauchen jetzt Engagement, um die Herausforderungen, die Sie in großen Teilen zutreffend beschrieben haben, bewältigen zu können.

Zu diesen Herausforderungen hat der Ministerpräsident im Bundesrat aus Anlass der Übernah

me der Präsidentschaft durch die Bundesrepublik Deutschland einiges gesagt. Dazu gehört, dass wir - um ihn zu zitieren - gerade für uns Deutsche die Brücken zwischen Ost und West im Bewusstsein der gemeinsamen Werte stabilisieren. Wer will denn bestreiten, dass es sehr wichtig ist, dass wir die osteuropäischen Länder, die nach Ostdeutschland, nämlich 2004, zur Europäischen Union gekommen sind, integrieren und uns um sie sorgen und kümmern?

Der Ministerpräsident hat weiter gesagt:

„Es gibt Konflikte, das ist nicht zu leugnen. Aber wir müssen alles tun, um diese konstruktiv und verständnisvoll zu lösen. Mit der Androhung von Strafmaßnahmen und

Sanktionen fördert man EU-skeptische Einstellungen vielleicht auch dort, wo sie noch nicht stark sind. Mit dem Entzug europäischer Mittel träfe man möglicherweise in den Kommunen und Regionen diejenigen, die die Kritik, die von außen kommt, im Innern selbst formulieren.“

Das ist doch so. Wir sind mit unseren Partnern aus Kujawien-Pommern und Masowien, den Marschallen Calbecki und Struzik, die nicht zur PiS-Partei gehören, im ständigen Gespräch und hören natürlich auch deren Kritik. Man muss sich auch einmal die Frage stellen, was dort in den Regionen passiert, wenn eine Zentralregierung möglicherweise antieuropäische oder rechtsstaatlich bedenkliche Praktiken verfolgt. Man kann nicht alle in Sippenhaft nehmen. Das Anliegen, denke ich, ist berechtigt. Wir teilen das gerade in der Situation der Pandemie.

Dazu ist für mich die Frage: Was hätten Sie jetzt eigentlich zur Übernahme der Präsidentschaft im Trio mit Portugal und Slowenien gesagt, wenn es die Pandemie nicht gegeben hätte? Es gibt so viele andere Fragen - das wird deutlich, wenn man sich das Programm der Triopräsidentschaft anschaut -, die in Europa in den unterschiedlichsten Bereichen gelöst werden müssen, gerade um einen spürbaren Mehrwert für Europa zu schaffen, der dann tatsächlich von den Menschen in Europa wahrgenommen wird und zu einer stärkeren Identifikation mit Europa führt.

Ich sehe, die rote Lampe leuchtet schon wieder, obwohl ich eigentlich noch so gut wie gar nichts gesagt habe. Noch kurz zur Pandemie, damit sich da keine Legenden bilden. In der Lage waren wir in Deutschland so gut und erfolgreich, weil wir regional gehandelt haben. Wir Länder haben das in enger Abstimmung mit dem Bund gemacht. Es hätte uns nichts genützt, in der Gemeinschaft von soundso vielen Mitgliedstaaten in Brüssel in der Lage erst einmal die erforderlichen Instrumente zu schaffen.

Es gab das Problem bei der Beschaffung von Schutzausrüstung in China und sonst wo. Natürlich ist das nicht optimal gelaufen. Aber wir hatten zunächst die chinesischen Studierenden, die hier die Apotheken leergekauft haben, um das nach Hause zu schicken. Das war völlig berechtigt, aber infolgedessen gab es hier nichts mehr. Dann sind wir nach China gegangen. Da waren die Amerikaner unterwegs. Das Problem waren nicht die anderen europäischen Mitgliedstaaten. Wir hatten große Probleme, an Schutzausrüstung zu kommen, die wir letzten Endes mithilfe der deutschen Industrie gelöst haben, die in China engagiert ist. Aber wir haben diese Probleme gelöst, weil wir sie dezentral gelöst haben, weil wir das Subsidiaritätsprinzip beachtet haben, alles das, was man in Sonntagsreden hochhält.

Natürlich müssen wir - da ist sich niemand der Lage besser bewusst als die deutsche Kanzlerin - in der deutschen Präsidentschaft jetzt Europa in die Lage versetzen, nicht wieder in eine solche Situation zu kommen. Natürlich müssen wir das Grenzregime neu regulieren. Natürlich müssen wir die Migrationsfragen lösen. Natürlich müssen wir - auch das steht im Präsidentschaftsprogramm des jetzt agierenden Trios - die industriepolitische Souveränität Europas stärken, nicht nur die nationale, sondern gemeinsam die europäische.

Irgendwann habe ich mich gefragt, ob Sie den Brexit schon vergessen haben. Ganz am Schluss, als Sie auf die Frage der AfD eingegangen sind, haben Sie beiläufig darauf hingewiesen. Das ist doch ein Fanal für uns alle. Wir wollen doch nicht noch mehr Staaten aus der Europäischen Union hinaustreiben, sondern wir wollen Europa stärken. Wir wollen die mitgliedschaftliche Verbundenheit stärken. Wir wollen mehr gemeinsam machen.

Dafür werden jetzt unglaublich viele Mittel bewegt, 750 Milliarden €; Sie haben es erwähnt. Natürlich werden das am Ende Zuschüsse und Darlehen sein. Auch dieser Streit wird einmal zu Ende sein. Aber auch da müssen wir zur Kenntnis nehmen - wir können das von hier aus weiß Gott nicht beeinflussen -, dass es vier selbst ernannte Sparsame gibt, die das anders sehen als wir. Die haben ja auch ihre nationalen Parlamente. Wenn Sie dahin gehen und die Debatte in Österreich verfolgen, dann stellen Sie fest, auch da finden das nicht alle gut. Aber am Ende agiert im Ministerrat der Regierungschef, und der sieht das so, und seine drei Partner sehen das auch so.

Es ist eine große diplomatische Herausforderung, jetzt dafür zu sorgen, dass wir diese 750 Milliarden € dennoch in vernünftiger Weise in Gang kriegen. Ich bin zuversichtlich, dass das mit Ursula von der Leyen und Angela Merkel im Duo, auf das jetzt so viele ihre Hoffnungen setzen, auch gelin