Protocol of the Session on April 24, 2015

Einbringerin ist Frau Lüddemann. Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Stellen Sie sich eine Familie vor. Ich vermute, zur statistischen Durchschnittsfamilie haben wir alle ähnliche Bilder im Kopf: Vater, Mutter, zwei Kinder, beide Eltern berufstätig, wobei die Frau ein wenig kürzer arbeitet und deswegen auch weniger verdient; Eltern, die bei der Geburt des Kindes um die 30 Jahre alt sind, Eltern, die vielleicht nicht perfekt sind, aber durchaus in der Lage, gut und gesund ihre Kindern zu fördern, zu erziehen - sogenannte Good-Enough-Parents, wie es der bekannte Psychotherapeut Donald Winnicott bereits vor 60 Jahren formulierte.

Diese Durchschnittsfamilie stellt sicherlich die Mehrzahl aller Fälle dar. Und „Durchschnitt“ ist hierbei durchaus positiv gemeint.

Dieses Bild wird auch gern medial aufgegriffen. Wenn wir Familienbilder in Zeitungen, Zeitschriften, in der Werbung oder an anderen Stellen - in Doku-Soaps etc. - sehen, stellen wir fest, dass meistens die heterosexuelle weiße Familie mit zwei Kindern dargestellt wird, oft ein älterer Sohn, eine jüngere Tochter, wenn es richtig ideal wird, dann noch ein Hund an der Seite, alle lächelnd, gesund, schlank, ohne Behinderung. Jeder von uns kennt das. Zum Glück entspricht die Realität

diesem Bild im Wesentlichen. Das mit dem zweiten Kind gibt es nicht mehr so häufig, aber ansonsten ist die Realität oft so.

Aber leider ist das nicht die vollumfängliche Realität. Die Wirklichkeit ist anders, sie ist vielfältiger, das Leben ist - wie so oft - komplexer. Ein Großteil von Familien lebt nämlich anders, auch hier bei uns im Land: minderjährige Eltern, suchtgefährdete Eltern, inhaftierte Eltern, ökonomisch bedrängte Eltern - und eben auch deren Kinder. Im fachlichen Diskurs spricht man von vulnerablen Familienkonstellationen, auf Deutsch: von verletzlichen Familien.

Das Thema vulnerable Familienkonstellationen und die entsprechenden Hilfesysteme wollen wir GRÜNE mit diesem Antrag in den Blick nehmen. Zur Beurteilung und adäquaten Reaktionen darauf brauchen wir Fakten. Wir wollen einen Bericht der Landesregierung, der sowohl den Fachausschüssen als auch dem Landesjugendhilfeausschuss zugehen soll.

Meine Damen und Herren! Wir dröseln das Thema - diese Frage wird vermutlich kommen - ganz bewusst nicht in unzählige Kleine Anfragen, Große Anfragen und Selbstbefassungsanträge auf. Ich glaube, das wäre sehr viel Verwaltungsaufwand und der Thematik nicht angemessen. Ein Antrag, der angenommen würde, ein Bericht, das könnte schnellere Reaktionen generieren.

Lassen Sie mich kurz ausführen, warum ich so auf die Faktenlage abstelle. Diese belasteten oder auch herausfordernden Familienkonstellationen

sind vielfältig und wir wissen nicht viel darüber. Es ist häufig nur eine Mengenangabe, die wir kennen.

Wenn ich als Beispiel ein Schlaglicht auf die minderjährigen Eltern werfen darf: Nach Zahlen der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung liegt bundesweit bei neun von 1 000 Geburten das Alter der Mutter zwischen 15 und 19 Jahren. Die AOK hat im Jahr 2010 berichtet, dass Sachsen-Anhalt bundesweit die höchste Quote an minderjährigen Müttern aufweist, Baden-Württemberg die geringste.

Diese Rangfolge findet sich auch in verschiedenen anderen Quellen, allerdings schwanken die Angaben zu den Quoten. Einmal wird Baden-Württemberg ein Anteil von 0,4 % zugerechnet und für Sachsen-Anhalt ein Anteil von 1,4 % aufgezeigt, ein anderes Mal für Baden-Württemberg 1,6 % und für Sachsen-Anhalt 4,6 %.

Die „Welt“ titelte im Juni des vergangenen Jahres - ich zitiere -:

„Die Zahl der Schwangerschaften von Minderjährigen ist in den neuen Bundesländern stark angestiegen.“

Sie führt weiter aus:

„Zwischen 1996 und 2010 hat sich die Anzahl der Schwangerschaften von Teenagern in Ostdeutschland fast verdoppelt. 4 % aller Neugeborenen dort haben heute Mütter unter 19 Jahren.“

Es scheint, dass Teenagerschwangerschaften und Geburten von minderjährigen Müttern hier nicht immer klar auseinandergehalten werden. Da schätzungsweise etwa die Hälfte der minderjährigen Schwangeren ihre Kinder nicht austrägt, ergeben sich naturgemäß divergierende Werte. Das geht jetzt ein bisschen ins Detail. Das können wir dem Bericht hoffentlich genauer entnehmen.

Grundsätzlich festzustellen ist: Sachsen-Anhalt wird wiederholt als das Bundesland mit den meisten Teenagerschwangerschaften und -mutterschaften genannt. Daher ist es dringend geboten - ich habe eben versucht, es zu erklären -, eine dezidierte Faktenermittlung vorzunehmen.

Zahlen zur Suchtgefährdung von Familien sind noch schwieriger zu bekommen. Hört man in die Fachwelt hinein, dann ist die einhellige Aussage, dass sich gerade durch den zunehmenden Konsum von Crystal in familiären Kontexten die Problemlage stark erhöht. Alkohol ist im familiären Kontext nach wie vor das größte Problem, aber durch diese neuen sogenannten Designerdrogen haben wir eine zusätzliche Verschärfung. Es ist unstrittig, dass für die kindliche Entwicklung und ein gesundes Aufwachsen süchtige oder suchtgefährdete Eltern einer der größten Risikofaktoren sind.

Zum Thema inhaftierte Eltern haben wir eine Kleine Anfrage gestellt. Darauf komme ich später noch einmal separat.

Allgemein gesprochen bergen diese Familienformen, die ich hier kurz dargestellt habe, eine besondere Gefahr. „Erschöpfte Familien“ sind die Folge, ein Begriff, den Professor Lutz von der Fachhochschule Erfurt eingeführt hat.

Solche strukturellen Überlastungssituationen können zu gesundheitlichen Einschränkungen führen. Sie schränken psychisch und körperlich alle Familienmitglieder ein und nehmen auf die kindliche Entwicklung einen schädlichen Einfluss. Familien zerrütten. Überlastungssituationen sind natürlich auch Nährboden für interfamiliäre Gewalt.

Die genannten Unterpunkte unseres Antrags zielen auf spezifische solcher Belastungssituationen und eben auch auf das Hilfesystem. Uns muss daran gelegen sein, die Unterstützungsstrukturen für solche besonders verletzlichen Familien zu stärken.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Wir wollen in Erfahrung bringen: Was läuft gut? Was läuft weniger gut? Wo müssen wir als Land

einsetzen? Wo müssen wir als Politik handeln? Explizit nennen wir auch die Handlungsfelder Familienurlaub und Eltern-Kind-Kuren. Es ist insbesondere für die von mir beschriebenen Familien sehr wichtig, dass sie die Möglichkeit erhalten, aus ihrem belasteten Alltag herauszutreten.

Das Thema der Familienurlaube wurde im vorigen Jahr besonders virulent, nachdem eine Erhebung ergeben hat, dass 22 % aller deutschen Familien aus finanziellen Gründen auf einen Jahresurlaub verzichten. Davon sind 60 % armutsgefährdeten Gruppen zuzurechnen.

Wenn man sich nun die besonderen Armutsgefährdungsgruppen bei uns im Land anschaut, dann kann man sich vorstellen, dass es viele Kinder gibt, die niemals die Möglichkeit haben, ihr Wohnumfeld zu verlassen, und schon gar, nicht für mehrere Tage in einen Urlaub zu fahren. Wir wollen wissen, wie das Land Familienurlaube ökonomisch bedrängter Familien fördert.

Zur Thematik der Eltern-Kind-Kuren: Als Gesundheitsleistungen insbesondere zur Gesundheitsprävention für das System Familie sind diese Kuren wertvolle Angebote. Dank einer Kleinen Anfrage der Kollegin Zoschke liegen dafür Zahlen für das Jahr 2011 vor.

Die weitere Entwicklung scheint mir aber interessant zu sein. In der Antwort auf die Kleine Anfrage ist zu lesen, dass die Zahl der Anträge von mehr als 600 im Jahr 2010 auf 400 im Jahr 2011 zurückgegangen ist. Die Zahl der abgelehnten Anträge stieg im gleichen Zeitraum aber leicht von 162 auf 177, sodass bereits im Jahr 2011 mehr als 40 % der Anträge abgelehnt wurden. Sollte sich dieser Trend fortsetzen - es ist das Ziel, dies in Erfahrung zu bringen -, müsste man sich genauer damit befassen und auch mit den Kassen in Verbindung setzen.

Unser Antrag zielt - das kann nur in der Natur der Sache liegen - nicht auf alle sogenannten verletzlichen Familien und kann nicht alle Konstellationen beschreiben. Manche haben wir bereits an anderer Stelle behandelt, wie die Frage der Unterstützungsleistungen für Ein-Eltern-Familien oder die sozialpädagogische Betreuung von Kindern in Frauenhäusern. Andere hat beispielsweise die Fraktion DIE LINKE aufgerufen, so mit ihrem Antrag zur Elternassistenz.

Auch die Landesregierung - sie ist ja an der Stelle nicht untätig; das muss man der Wahrheit halber sagen - nimmt insbesondere die Familien in den Blick, wo beide Elternteile arbeitslos sind, also die ökonomisch bedrängten Familien. In diesem Sinne möchte ich unseren Antrag wirklich als Ergänzung verstanden wissen.

Neben diesen spezifischen Familiensituationen und Hilfesystemen wollen wir grundsätzlich die Rah

menbedingungen in den Jugendämtern in Augenschein nehmen. Unter welchen personellen Bedingungen wird dort gearbeitet? Eine zentrale Frage der Qualität der Kinder- und Jugendhilfe sind eben die dort tätigen Personen und Rahmenbedingungen.

Wenn genug qualifiziertes Personal vorhanden ist, dann kann auch die Arbeit gut geleistet werden. Dafür sind der Allgemeine Soziale Dienst und seine Ausstattung relevant. Kennzahlen für die Belastung der Mitarbeitenden in Form durchschnittlicher Fallzahlen, Krankenstand oder Überlastungsanzeigen sind von entscheidender Bedeutung; denn eines ist klar: Ein erschöpftes Jugendamt kann erschöpften Familien nicht helfen.

Neben diesen schwierigen Familienverhältnissen ist der zweite Zugang zum Thema Kinder in schwierigen Lebenslagen die Statistik zur Kindeswohlgefährdung. Gemäß § 8a SGB VIII liegen diese Statistiken vor. Sie müssen erhoben werden. Nach meinem Kenntnisstand wird mit diesen Statistiken aber nicht tatsächlich gearbeitet. Sie müssen ausgewertet und darüber muss diskutiert werden. Die Kenntnisse daraus müssen in Handlungsoptionen überführt werden.

Gerade für die Netzwerke „Frühe Hilfen“ ist es nützlich und sinnvoll, nachhaltige Strategien für Kinderschutz und Hilfesteuerung zu entwickeln. Sie sehen, ich bewege mich in der Tradition der integrierten Sozial- und Jugendhilfeplanung, die mir besonders am Herzen liegt.

Meine Damen und Herren! Zu Punkt 2 unseres Antrags möchte ich nur kurz ausführen. Ich glaube, er ist selbsterklärend.

Das Strafvollzugsgesetz und das Untersuchungshaftvollzugsgesetz formulieren ein allgemeines Besuchsrecht der Inhaftierten und legen minimale Besuchszeiten fest. Entsprechend existieren vor Ort in den einzelnen Justizvollzugsanstalten unterschiedliche Regelungen, festgelegt in den jeweiligen Hausordnungen.

Mit Stand vom März 2013 - aus diesem Zeitraum stammt unsere Kleine Anfrage - ist die Justizvollzugsanstalt Volkstedt beispielhaft. Dort werden wöchentliche Besuche ermöglicht. Das geht weit darüber hinaus, was andere Haftanstalten zulassen. Alle haben die räumlichen und teils auch die personellen Voraussetzungen. Deswegen möchten wir weitergehende Regelung ermöglichen. Wir halten das, was Volkstedt praktiziert, für äußerst sinnvoll. Es geht darum, dass das Kind nicht bestraft wird, wenn ein Elternteil - zumindest in der Regel ist es der Vater - bestraft werden muss. Gerade für jüngere Kinder ist ein kurzer Rhythmus sehr zentral. Zweiwöchige oder gar monatliche Besuche sind zu wenig.

Es geht um das Recht des Kindes auf Umgang mit dem Elternteil. Eine Inhaftierung macht jemanden

nicht per se zu einem schlechten Vater. Die elterliche Rolle zumindest ansatzweise wenigstens über Kenntnisnahme und persönliche Begegnung weiter ausführen zu können, ist ein wichtiges Anliegen;

(Zustimmung von Herrn Weihrich, GRÜNE)

denn es geht natürlich auch um die Resozialisierung des inhaftierten Elternteils. Elterliche Verantwortung ist an sich ja schon ein wesentlicher Beitrag für gelingende Resozialisierung.

Klar ist: Längst nicht alle inhaftierten Mütter und Väter wollen solche regelmäßigen Besuchszeiten und auch nicht alle Kinder. Es soll nicht ausgehebelt werden, dass es in der Eigenverantwortung liegt. Es soll aber als grundsätzliches Angebot in allen Justizvollzugsanstalten ermöglicht werden.

Meine Damen und Herren! Die von uns geforderten Fakten würden allen Fachpolitikerinnen und Fachpolitikern in allen Fraktionen von großem Nutzen sein. Sie würden den Kinder- und Jugendbericht, den wir alle noch erwarten, sinnvoll ergänzen.

Ich bitte um direkte Zustimmung zu unserem Antrag und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Wir danken Ihnen, Frau Kollegin, für die Einbringung. - Bevor der Minister für Arbeit und Soziales das Wort nimmt, der schon zum Pult geht, begrüßen wir alle ganz herzlich Damen und Herren des Stadtseniorenrates Schönebeck.

(Beifall im ganzen Hause)

Wenn hier nicht „Senioren“ gestanden hätte, man hätte es nicht geglaubt.