Protocol of the Session on December 12, 2014

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!

(Glocke des Präsidenten)

Ich bitte die Plätze einzunehmen. Ich begrüße alle Mitglieder des Hohen Hauses, ebenso die Gäste. Wir begrüßen Schülerinnen und Schüler des Fallstein-Gymnasiums aus Osterwieck auf der Besuchertribüne. Herzlich willkommen im Haus!

(Beifall im ganzen Hause)

Ich stelle die Beschlussfähigkeit des Hauses fest.

Es gibt einen besonderen Anlass zur Freude. Der Kollege Jürgen Weigelt hat heute Geburtstag und wird - ich denke, ich darf das sagen - 65 Jahre alt.

(Beifall im ganzen Hause)

Das war früher einmal das Eintrittsalter in die gesetzliche Rente. Aber wir wissen, das ist eine relative Zahl. Ich gratuliere Ihnen im Namen des Hohen Hauses und wünsche Ihnen Gottes Segen und alles Gute für die nächsten Jahrzehnte. Herzlichen Glückwunsch, Jürgen!

Wir setzen nunmehr die 39. Sitzungsperiode fort und beginnen heute mit dem Tagesordnungspunkt 8. Danach werden die Tagesordnungspunkte 9, 17, 18 und 19 folgen.

Ich erinnere daran, dass der Ministerpräsident für heute entschuldigt ist. Er begleitet den Bundespräsidenten, der heute in Sachsen-Anhalt in der Landeshauptstadt weilt. Herr Minister Stahlknecht ist wegen der Innenministerkonferenz ganztägig entschuldigt.

Uns darf ich noch einen guten Start in den letzten Sitzungstag der letzten Sitzungsperiode des Jahres 2014 wünschen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:

Aktuelle Debatte

Stendal: Wahlfälschung aufarbeiten, Stadtrat neu wählen, Vertrauen wieder herstellen

Antrag Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drs. 6/3662

Für die Aktuelle Debatte wurde im Ältestenrat eine Redezeit von 15 Minuten je Fraktion vereinbart. Die Landesregierung hat ebenfalls eine Redezeit von 15 Minuten. Es wurde folgende Reihenfolge vereinbart: GRÜNE, SPD, CDU, DIE LINKE. Zunächst hat die Antragstellerin, die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, das Wort. Herr Kollege Striegel, bitte.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Aus der strauchelnden, fast schon abgewickelten DDR des späten Jahres 1989 ist der das Strafgesetzbuch persiflierende Ausspruch eines unbekannten Ossis überliefert, dass, „wer Wahlergebnisse vorfertigt oder verfälscht oder vorgefertigte oder verfälschte in Umlauf bringt, mit einer Ausreisequote nicht unter 50 000, mit einer Botschaftsbesetzung nicht unter drei Monaten und einer Protestdemonstration zum Jahrestag nicht unter 10 000 Teilnehmern bestraft“ werde.

In Sachen Kommunalwahlfälschung in Stendal mir sind Protestdemonstrationen nicht aufgefallen. Gefüllt sind nicht die Straßen, sondern allenfalls die Leserbriefspalten der Zeitungen. Es herrscht weniger Wut, denn eine durch die Wahlfälschung weiter verstärkte Politik- und Demokratieverdrossenheit.

Weniger als die Hälfte der Wählerinnen und Wähler, die am 25. Mai an der Briefwahl teilgenommen hatten, machten am 9. November 2014 im Rahmen der Wiederholungswahl von ihrem Wahlrecht erneut Gebrauch. Die, die es taten, wählten in Teilen ungültig, weil sie nur so ihrer Hilflosigkeit Ausdruck verleihen konnten.

Gegen solcherart Wahlmüdigkeit sowie die Politik- und Demokratieverdrossenheit hilft auch kein Landesprogramm, wie es CDU und SPD mit dem vorgestern verabschiedeten Haushalt auf den Weg gebracht haben. Auch zwei Mal Mittel in Höhe von je 950 000 € für die Landeszentrale für politische Bildung zur Erhöhung der Wahlbeteiligung zur Landtagswahl 2016 können den Schaden nicht gutmachen, der der Demokratie durch die Ereignisse von Stendal entstanden ist.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Hätte man mich vor dem 25. Mai dieses Jahres gefragt, ob ich es für möglich halte, dass Vertreter einer demokratischen Partei den Versuch unternehmen würden, das Ergebnis von Kommunalwahlen zu verfälschen, wie das in Stendal offensichtlich geschehen ist, hätte ich diese Frage verneint. Ich hätte es insbesondere nicht für denkbar gehalten, dass, nachdem dieser Betrug an allen Wählerinnen und Wählern im Rahmen der Kommunalwahl vom 25. Mai aufgefallen war, zur Wiederholungswahl erneut ohne Skrupel getrickst und manipuliert wird. Vertreter der CDU haben uns eines Besseren belehrt.

Auch im Zuge der Briefwahlwiederholung am 9. November 2014 kam es zur Fälschung von Unterschriften im Briefwahlverfahren. Es wurden unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Versuche unternommen, an die Briefwahlunterlagen von Menschen zu gelangen. Hinzu kommen merkwürdig anmutende Kaffeefahrten zum Wahlbüro durch

ganze Belegschaften während der Arbeitszeit und Aufwandsentschädigungen, die Wählerinnen und Wählern von einem CDU-Mitglied gezahlt wurden. Ich nenne ein solches Gebaren Stimmenkauf.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

In welcher gefühlten Abhängigkeit müssen sich Menschen befinden, dass sie sich auf solcherlei Aktivitäten einlassen? Wie abgefeimt muss man sein, um Menschen so etwas anzubieten oder sie zu solchen Handlungen zu drängen? - Die CDU in Stendal hat sich den ihr vom Kollegen Tögel verliehenen Titel „Camorra von der Uchte“ redlich verdient.

Welch prophetische Gabe, dass der Innenminister zum Jahresanfang den örtlichen CDU-Vorsitzenden als „Netzwerker“ und „Paten von Stendal“ bezeichnete. Denn ganz offensichtlich war und ist den Lokalverantwortlichen, dem „Paten“ und den „Patenkindern“ - ich zitiere hier Wolfgang Kühnel - nicht jedes, aber doch fast jedes Mittel recht, um sich an der Macht zu halten.

Statt im politischen Wettbewerb auf die besseren Ideen zu setzen, sollte mit Wahlbetrug die führende Rolle der CDU in Stendal für die kommenden fünf Jahre festgeschrieben werden. Wo Zustände wie in Stendal herrschen, haben Allmachtsfantasien ganz offensichtlich den politischen Verstand aufgefressen.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Nach Presseberichten werden mittlerweile insgesamt zehn Ermittlungsverfahren gegen einen kürzlich aus der Partei ausgetretenen CDU-Stadtrat, weitere CDU-Mitglieder - unter ihnen der Fraktionschef im Kreistag -, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der CDU-Geschäftsstelle und Unternehmer geführt. Wohn- und Geschäftsräume von mindestens fünf Verdächtigen wurden durchsucht, darunter auch die Kreisgeschäftsstelle der CDU. Wir dürfen gespannt sein, was im Zuge dieser Ermittlungen noch alles zutage tritt. Die „Patenbrigade“ vor Ort scheint jedenfalls ganze Arbeit geleistet zu haben.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN - Zuruf von der LINKEN: „Paten- brigade“ ist noch zu niedlich!)

Es mag stimmen, dass sich im Zentrum der Vorwürfe gegen die CDU-Familie das Patenkind Holger Gebhardt befindet. Es greift aber zu kurz, wenn sämtliche CDU-Granden, unter ihnen der Landesvorsitzende Herr Minister Webel, die Wahlfälschung zur Tat eines Einzelnen stilisieren.

Holger Gebhardt war ganz offenbar die Zukunftshoffnung der CDU; ihm sollte der Weg zu Höherem geebnet werden. Er war bis zu seinem hastigen

Parteiaustritt intensiv in das Netzwerk der CDU vor Ort eingebunden. Gebhardt war Stadtratsmitglied, bekleidete verschiedene Parteiämter und war Mitarbeiter der Kreistagsfraktion.

Die CDU-geführte Stadtverwaltung half beim Aufbau der Person Gebhardt für höhere Weihen mit einer Einstellung ohne Ausschreibung. Sollte es stimmen, dass auf eine Ausschreibung auf Bitten von CDU-Vorstandsmitgliedern hin verzichtet wurde, wie die „Volksstimme“ unter Berufung auf einen Insider schreibt, wäre dies ein weiterer Hinweis auf das dichte Netzwerk, das in Stendal die Macht der CDU sichern soll. Dieses Netzwerk muss endlich aufgeklärt werden.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN - Zuruf von Herrn Borgwardt, CDU)

- Wir schreiben unsere Mitarbeiterstellen aus, Herr Borgwardt.

(Zurufe von der CDU: Ja, ja! - Lachen bei der CDU)

- Sie werden lachen, aber das machen wir sogar als Fraktion.

(Herr Borgwardt, CDU: Europaweit! Euro- paweit!)

Die CDU selbst hat zur Aufklärung wenig beigetragen. Allerspätestens seit Anfang Juli war klar, die Kommunalwahlen in Stendal waren nicht über jeden Zweifel erhaben. Aus Magdeburg wird auf den Zusammenhalt in der Familie verwiesen. Es kommen Appelle und Hinweise, das schwarze Schaf - und damit der einzig Verantwortliche - sei inzwischen aus der Partei ausgetreten.

Der Stendaler Oberbürgermeister Klaus Schmotz, ebenfalls CDU, hat über Wochen hinweg keine klaren Worte der Verurteilung gefunden und zudem wiederholt Einspruch gegen einen vom Stadtrat beschlossenen Sonderausschuss eingelegt, der die Briefwahlmanipulation aufklären soll. Die Stadtverwaltung selbst hat den Missbrauch des Briefwahlrechts begünstigt, weil sie viel mehr als die gesetzlich zugelassenen vier Vollmachten zur Abholung von Briefwahlunterlagen pro Person akzeptierte.

Der Kreistagsfraktionsvorsitzende Wolfgang Kühnel weist alle Vorwürfe zurück. Er sei schließlich nur - Zitat - der Bote gewesen, der allein 18 Briefwahlvollmachten - offenbar für die Kreistagswahl - überbracht und dafür entsprechende Unterlagen abgeholt habe. Ich frage mich, wie naiv muss man sein, um so zu agieren.

Warum braucht es bis Anfang November und bedarf erst einer Hausdurchsuchung in ihrer Kreisgeschäftsstelle, bis die CDU öffentlich erklärt, man wolle zur Aufklärung der Affäre beitragen? - BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erwarten von der gesamten CDU, dass sie bei einem im Raum stehenden Vor

wurf der Wahlfälschung nicht erst die Staatsanwaltschaft und die Polizei aufwarten lässt, sondern selbst Schritte zur Aufklärung unternimmt. Das ist nicht passiert. Stattdessen sollte die Affäre ganz offenbar ausgesessen werden.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Dass es dazu nicht kam, ist auch dem Verdienst unermüdlich recherchierender Medien wie im konkreten Fall der „Volksstimme“ in der Altmark zu verdanken. Die „Volksstimme“ nimmt hier ihren verfassungsgemäßen Auftrag ernst und blättert die hinter der Wahlfälschung liegenden Strukturen und Netzwerke Schicht für Schicht auf.

Wir wissen heute, in Stendal hat es bei der Stadtratswahl eine wiederholte Wahlfälschung gegeben. Belege dafür, wie gefälschte Unterschriften, liegen vor. Die Briefwahlergebnisse und statistischen Auffälligkeiten mehrerer Kandidaten geben Hinweis darauf, dass das Ergebnis tatsächlich im Sinne der CDU und ihrer Kandidaten verbessert wurde.

Auch über der Kreistagswahl liegt ein Schatten der Wahlmanipulation. Auch wenn das Innenministerium mittlerweile klargestellt hat, dass an der formalen Gültigkeit der Wahl nach einem entsprechenden Beschluss des Kreistages nicht mehr zu rütteln sein wird, lohnt der wahlmathematische Blick auf die Ergebnisse.

Als Mitarbeiter der Kreistagsfraktion trat Gebhardt zur Wahl des Kreistages selbst nicht an. Seine Partei, die CDU, erhielt bei den zeitgleich stattfindenden Kreistags- und Stadtratswahlen aber ähnlich viele Stimmen. In der Tat zeigt sich, für Wolfgang Kühnel und Hardy Peter Güssau stimmten zur Kreistagswahl überdurchschnittlich viele Briefwählerinnen. Fast ein Drittel seines Kreistagsstimmergebnisses kam für Güssau per Briefwahl zustande. Bei der Stadtratswahl waren es interessanterweise zu demselben Zeitpunkt nur 12 %. Das ist auffällig und weist auf mögliche Manipulationen hin.

Die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen müssen zügig zu Ende geführt werden. Die Staatsanwaltschaft ist dabei auf die Hilfe der Polizei angewiesen. Ich bedaure, dass angesichts der Tragweite die Ermittlungen zunächst vom örtlichen Polizeirevier geführt wurden und erst zu einem späteren Zeitpunkt die überörtliche Ebene die Verantwortung übernommen hat, um jede partei- und regionalpolitische Einflussnahme oder Zurückhaltung von vornherein auszuschließen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hält auch eine Abgabe der Ermittlungen an Externe für sinnvoll.