Protocol of the Session on March 27, 2014

Es gab immer wieder einmal Initiativen; ich möchte gar nicht ruminieren, ob diese erfolgreich waren oder nicht. Die Zahlen, die uns vorliegen, zeigen deutlich, dass wir ein Problem haben.

Abitur - was nun? Diese Frage stellen sich in unserem Land jedes Jahr mehr als 6 000 Schüler und Schülerinnen, wenn sie ihre Schulzeit mit dem Abitur erfolgreich abgeschlossen haben und sich auf den Weg in die Berufswelt machen. Dort erwartet sie eine enorme Vielfalt an Berufs- und Studienmöglichkeiten, die manchmal die Orientierung und die Entscheidung nicht wirklich einfach macht.

Von den mehr als 6 000 Schülerinnen und Schülern mit Hochschulzugangsberechtigung haben sich beispielsweise im Jahr 2011 2 400 Schüler und Schülerinnen bzw. 38 % um einen Ausbildungsplatz beworben. Dagegen haben etwa 3 000 Schüler und Schülerinnen bzw. 54 % ein Studium in Sachsen-Anhalt begonnen.

Andersherum formuliert: Lediglich 17,2 % der Bewerber und Bewerberinnen um einen Ausbildungsplatz verfügten über eine Hochschulzugangsberechtigung. Mit diesen 17 % liegen wir weit hinter dem Bundesdurchschnitt von ca. 30 %. Dieser geringe Anteil von Abiturientinnen und Abiturienten, die sich um einen Ausbildungsplatz bemühen, kann als e i n Hinweis darauf gewertet werden, dass die Schüler und Schülerinnen im Gymnasium nur unzureichend auf den Übergang in die berufliche Ausbildung und die Berufswelt vorbereitet werden.

Aber auch was die Studienorientierung angeht, fehlt es in den Gymnasien des Landes an systematischer und verbindlicher Vorbereitung. Denn in Sachsen-Anhalt bricht jeder dritte Student, jede dritte Studentin ihr Studium erfolglos ab. Auch hierzu nenne ich Zahlen, dieses Mal aus dem Jahr 2012:

Damals haben gut 12 000 Studenten und Studentinnen die Hochschulen verlassen. Von diesen haben 6 500 Studenten und Studentinnen das Studium erfolgreich beendet, 1 000 haben schlicht

den Studienort gewechselt, aber gut 4 000 dieser Studenten und Studentinnen haben die Hochschule ohne Hochschulabschluss verlassen. Das ist eine persönlich höchst frustrierende und niederschmetternde Erfahrung. Das ist eine Verschwendung individueller Lebenszeit und nicht zuletzt eine Verschwendung von staatlichen Ressourcen.

(Zustimmung von Frau Lüddemann, GRÜ- NE, von Herrn Weihrich, GRÜNE, und von Frau Bull, DIE LINKE)

All diese Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Eine systematische Vorbereitung auf die Berufs- und Studienwahl muss auch in den Gymnasien verbindlich verankert werden. Ihre Bedeutung kann einerseits angesichts des Fachkräftemangels und andererseits angesichts der noch immer sehr tradierten Berufswahl nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ich zitiere:

„Die Berufs- und Studienfachwahl von jungen Frauen und Männern ist von traditionellen Rollenbildern geprägt. Der Berufs- und Studienberatung sowie der Berufsorientierung in der Schule kommt eine große Bedeutung zu. Gerade vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels bei mathematischnaturwissenschaftlich-technischen Berufen und Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsberufen wollen wir eine geschlechtergerechte Berufsberatung. Sie muss verbindlich Informationen über alle Berufs- und Verdienstmöglichkeiten für Mädchen und Jungen bieten.“

Den Kolleginnen und Kollegen von der CDU und der SPD kam das vielleicht bekannt vor - das war eine Passage aus dem Koalitionsvertrag der großen Koalition in Berlin. Damit wende ich mich an die Kolleginnen und Kollegen von der SPD und der CDU hier auf der Landesebene und sage: Lassen Sie Taten folgen!

(Zustimmung von Frau Lüddemann, GRÜ- NE, und von Herrn Weihrich, GRÜNE)

Aus der Sicht von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist daher eine fundierte Vorbereitung der Schüler und Schülerinnen auf die Wahl ihres Berufs und auch ihres individuellen Weges dorthin eine der wesentlichen Aufgaben der weiterführenden Schulen und damit auch der Gymnasien.

Bisweilen hört man an dieser Stelle der Debatte etwas ganz anderes: eine Klage über die zunehmende Akademisierung der Gesellschaft, eine Kritik daran, dass sich immer mehr junge Menschen für das Abitur entscheiden, anstatt eine Ausbildung zu machen. Diese Klagen findet man bisweilen bei Vertretern von Handwerkskammern und Industrie- und Handelskammern.

(Frau Bull, DIE LINKE: Das ist wohl wahr!)

Sie beklagen, dass sie kaum noch talentierte Bewerberinnen und Bewerber für Ausbildungsplätze fänden und dass als Folge dessen Zehntausende Lehrstellen unbesetzt wären. Dabei wird allerdings verkannt, dass diese Entwicklung ein Resultat der individuellen Wünsche der jungen Menschen ist.

In Zeiten des demografischen Wandels und des zunehmenden Fachkräftemangels sind die jungen Menschen natürlich umkämpft. Wer ihnen die besten Chancen bietet, hat die besten Karten. Das ist eine Herausforderung für die Ausbildungsbetriebe. Sie müssen gute Ausbildungskonditionen bieten und auch den Mut haben, Bewerberinnen zu nehmen, die eben noch nicht alle Voraussetzungen für einen erfolgreichen Abschluss der Berufsausbildung mitbringen. All dies gehört ebenso zu diesem Wettbewerb wie eine gute Berufsorientierung in allen Schulen, inklusive der Gymnasien.

(Zustimmung von Frau Lüddemann, GRÜ- NE, von Herrn Weihrich, GRÜNE, und von Frau Bull, DIE LINKE)

Eines aber darf nicht dazugehören: junge Menschen, die in der Lage sind, das Abitur zu machen, vom Abitur abzuhalten.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung von Frau Bull, DIE LINKE)

Wir, die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sagen ganz klar: Wir wollen alle Schülerinnen und Schüler zum bestmöglichen Schulabschluss bringen. Nur so stehen ihnen alle Optionen offen. Wer in der Lage ist, das Abitur zu machen, der soll jede Förderung und jede Chance bekommen, das zu tun. Dann kann sich der junge Mensch entscheiden: Studium, Berufsausbildung oder eine Kombination aus beidem. Deswegen halten wir die schlichte Dichotomie Abitur oder berufliche Bildung für falsch.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wer das Abitur hat, der wird seltener arbeitslos als jemand mit beruflicher Bildung. Wer das Abitur hat, der verdient mehr als jemand mit beruflicher Bildung. Und jemand mit Hochschulabschluss verdient im Durchschnitt fast doppelt so viel wie jemand mit Berufsausbildung. Deswegen sagen wir ganz klar: Es ist unsere Aufgabe als Staat, junge Menschen zum bestmöglichen Schulabschluss zu bringen und ihnen mit einer exzellenten Berufs- und Studienorientierung eine individuell passgenaue Berufswahlentscheidung zu ermöglichen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wie sieht die Realität aus? Ermöglichen wir allen jungen Menschen, die dazu in der Lage sind, das Abitur? - Die Zahlen machen deutlich: Hiervon sind wir in Sachsen-Anhalt noch weit entfernt. Im Chancenspiegel der Bertelsmann-Stiftung konnten wir zum Beispiel lesen: Im Jahr 2011 hatte das Land

Sachsen-Anhalt mit 36,8 % die im Vergleich aller Bundesländer geringste Quote an Abiturientinnen und Abiturienten. Der Bundesdurchschnitt lag bei 51 %.

Wir haben also noch viel vor uns, wenn wir jedem zweiten jungen Menschen in Sachsen-Anhalt das Abitur ermöglichen wollen. Denn nur das ist Bildungsgerechtigkeit, nur das ist soziale Gerechtigkeit, weil eine exzellente Ausbildung eben die größte Chance für ein Leben in Wohlstand, für eine Teilhabe an der Gesellschaft und für Verantwortung sich selbst und anderen gegenüber bietet.

Daher fordern wir in unserem Antrag die verbindliche Verankerung von Berufs- und Studienorientierung in unseren Gymnasien. Mit dieser verbindlichen Verankerung soll der Übergang in die berufliche Ausbildung und das universitäre Studium verbessert werden. Hierfür soll die Landesregierung ein Konzept entwickeln, mit dem die Schülerinnen und Schüler bei ihrer Berufsorientierung und beim Übergang in das Studium, in die Berufswelt unterstützt werden.

Es geht darum, alle Schülerinnen und Schüler zu befähigen, die eigenen beruflichen Neigungen, Fähigkeiten und Interessen zu klären und eine klare Perspektive für die weitere berufliche oder universitäre Ausbildung zu entwickeln. Eine Förderung hin zum bestmöglichen Schulabschluss, die systematische und geschlechtersensible Berufs- und Studienorientierung auch an den Gymnasien ist sozial gerecht. Damit machen wir unser Land zukunftsfest. - Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der LINKEN)

Danke sehr für die Einbringung. - Für die Landesregierung spricht Herr Minister Dorgerloh.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dass wir alle Möglichkeiten nutzen müssen, um jungen Menschen attraktive Bildungsoptionen in Sachsen-Anhalt zu bieten, ist unstrittig. Es liegt sowohl in deren eigenem Interesse als auch im Interesse der Gesellschaft, individuell höchstmögliche Bildungsabschlüsse zu erzielen.

Verehrte Frau Dalbert, in der Begründung Ihres Antrages bemängeln Sie nun aber, dass zu wenige Gymnasiasten eine Berufsausbildung aufnehmen. Ich möchte bei dieser Gelegenheit daran erinnern, dass das Gymnasium die Schülerinnen und Schüler in erster Linie darauf vorbereitet, den Bildungsweg an einer Hochschule fortzusetzen - so steht es jedenfalls im Schulgesetz.

Auch wenn es inzwischen eine Vielzahl von beruflichen Ausbildungen gibt, die in ihrem Anspruch vergleichbar sind und über die im Rahmen der Berufs- und Studienorientierung selbstverständlich ebenfalls informiert werden muss, so gilt doch: Die Zahl der Abiturienten bestimmt unsere Studierendenquote maßgeblich mit. Deshalb bemühen sich die Gymnasien, die Abiturienten für ein Studium zu begeistern und kein Potenzial ungenutzt zu lassen.

Grundvoraussetzung für eine Berufs- und Studienentscheidung ist eine belastbare Allgemeinbildung. Der Unterricht ist in allen Fächern entsprechend ausgerichtet. Er sichert die Grundlagen für ein lebenslanges Lernen, sowohl fachspezifisch als auch fachübergreifend, und ermöglicht es, mit der rasanten Wissensentwicklung Schritt zu halten. Das ist und bleibt das Kerngeschäft und der Auftrag der Schulen.

Bei dem Blick auf das Spektrum der Studienangebote und Berufsbilder vermag die einzelne Schule nicht mit eigenen Mitteln das anzubieten, was beispielsweise in den Berufsinformationszentren oder in den Hochschulberatungsstellen an individueller Beratung abrufbar ist. Im Rahmen der Berufs- und Studienorientierung ist es daher neben dem Kerngeschäft Aufgabe der Schule, Schülerinnen und Schüler sowie Fachleute zueinander zu bringen, Angebote zu vermitteln und die Schülerinnen und Schüler zu aktivieren, sich möglichst frühzeitig mit zukünftigen Berufs- und Studienfeldern auseinanderzusetzen.

Die Feststellung im Antrag, dass - ich zitiere - „in den Gymnasien des Landes eine systematische Berufs- und Studienorientierung kaum existiert“, geht an der Realität der Arbeit an den Gymnasien vorbei

(Zustimmung von Frau Niestädt, SPD)

und wird auch der engagierten Arbeit der Lehrkräfte nicht gerecht.

(Zustimmung bei der SPD)

Es gibt eine Vielzahl an studien- und berufsorientierenden Aktivitäten, die es den Schülerinnen und Schülern mit Unterstützung ihrer Schulen ermöglicht, sich umfassend zu einer künftigen Studien- bzw. Berufswahl zu informieren und damit eine fundierte Entscheidung zu treffen.

Ich nenne einige Beispiele: Prime-Gymnasien - diese bilden Kooperationen mit Hochschulen der Region; die Schüler besuchen universitäre Veranstaltungen und können bereits Creditpoints erwerben -, Hochschulinformationstage, Campustage, Sommercamps an Hochschulen, Studienberater der Hochschulen, Besuch der Hochschul- und Berufsinformationszentren, der Agentur für Arbeit - all das sind Möglichkeiten für die Studienorientierung.

Für die Berufsorientierung sind zu nennen: MINTPraktika, zweiwöchige Betriebspraktika in den Jahrgängen 9 oder 10, Berufsbildungs- und Berufsfindungsmessen, der Zukunftstag - der frühere Girls‘ und Boys‘ Day -, Bewerbungstrainings, Assessments mit Unternehmensvertretern, Kompetenzfeststellungsverfahren usw. usf.

Jedoch soll an dieser Stelle auch gesagt werden, dass es im Sinne einer erhöhten Eigenständigkeit sowie der Öffnung der Schulen nach außen aus meiner Sicht keine starren Vorgaben für die Berufs- und Studienorientierung in den Gymnasien geben kann, weil sich Zukunftsplanung sowohl an persönlichen, individuellen Entwicklungszielen orientiert als auch durchaus in Abhängigkeit von sich verändernden Berufsbildern sowie regionalen Gegebenheiten erfolgt.

Die Landesregierung fasste daher gemeinsam mit den Vertretern der Kammern und der Regionaldirektion Sachsen-Anhalt/Thüringen der Bundesagentur für Arbeit im Landesbeirat „Übergang Schule - Beruf“ den Beschluss, für Berufsorientierung und Berufswahlvorbereitung an Gymnasien eine Veröffentlichung von Leitlinien zur akademischen Berufsorientierung und Berufswahlvorbereitung vorzubereiten.

Diese Leitlinien werden auf den Leitlinien zur Berufswahlvorbereitung an den allgemeinbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt aufbauen. Sie werden den Auftrag der Gymnasien und Fachgymnasien, die Schülerinnen und Schüler zur Berufs- und Studienwahl zu befähigen, wie es im Entwurf des Grundsatzbandes für den neuen Lehrplan des Gymnasiums bzw. Fachgymnasiums verankert ist, unterstützen und begleiten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist klar zu erkennen, dass die Berufs- und Studienorientierung an den Gymnasien den erforderlichen hohen Stellenwert in der Arbeit der Landesregierung besitzt. - Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU und bei der SPD)

Danke sehr, Herr Minister. - Es ist eine Fünfminutendebatte vereinbart worden. Für die CDU-Fraktion spricht der Abgeordnete Herr Keindorf.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fachkräftesicherung, Unternehmensnachfolge, Studienabbrecher, Gleichwertigkeit beruflicher und akademischer Bildung, Überakademisierung - wenn ich mich zu solchen Themen äußere, wird mir per se unterstellt, dass ich aus jedem Abiturienten einen Elektriker oder Bäcker machen möchte. Deswegen habe ich mich über den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN ge

freut, gibt er mir doch die Möglichkeit, mich zu dieser Thematik zu äußern, ohne gleich in diesen Verdacht zu geraten.