Protocol of the Session on February 28, 2014

Rechte Gewalt und ihre Todesopfer als solche anzuerkennen heißt auch, sich mit ihren Entstehungsbedingungen und Wirkungsweisen sowie mit ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen und mit ihren Folgen auseinanderzusetzen.

Die breite rassistische Gewalt zu Beginn der 90erJahre war weder zufällig noch ausschließlich spontan. Die damals von politischen und gesellschaftlichen Eliten mit einer Das-Boot-ist-voll-Rhetorik aufgebaute Stimmung fand ihren Widerhall in einer rassistischen Gewalt- und Pogromwelle, die von Rostock-Lichtenhagen bis Mölln, von Solingen bis Hoyerswerda und sogar bis nach Quedlinburg reichte. Im Ergebnis dieser Entwicklungen wurde nicht etwa das Ausmaß rechter Gewalt realistisch und ehrlich eingeschätzt, sondern es wurde mit dem sogenannten Asylkompromiss die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl betrieben.

In diese Zeit fällt die politische Sozialisation von Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Sie erlebten die faktische Sanktionslosigkeit des Staates und die Ignoranz bis hin zur leisen Akzeptanz einer Gesellschaft gegenüber rechter Gewalt zu Beginn der 90er-Jahre. Ich bin sicher, dass diese Erfahrungen ihr politisches Handeln auch in den Jahren darauf prägten.

Wollen wir Rassismus und rechte Gewalt wirksam bekämpfen, können die Schlussfolgerungen nur wie folgt lauten: erstens gezielt gegen jeden Versuch anzugehen, politische Auseinandersetzungen auf dem Rücken von Minderheiten auszutragen.

(Zustimmung von Frau Prof. Dr. Dalbert, GRÜNE, und bei der LINKEN)

Wir brauchen zweitens endlich eine ehrliche Bestandsaufnahme rechter und rassistischer Gewalt in diesem Land. Hierzu gehört auch der Blick zurück auf das Ausmaß dieser Gewalt in den vergangenen zwei Jahrzehnten und die Beantwortung der Frage, wie viele Menschen seit 1990 durch Neonazis zu Tode gebracht worden sind.

Drittens sind wir es den Opfern und Angehörigen schuldig, den konkreten Grund für den Tod eines geliebten Menschen herauszuarbeiten. Denn nur so kann eine würdige Erinnerung auch vor Ort und auch an den mindestens 13 Stellen, an denen so etwas in Sachsen-Anhalt geschah, endlich Realität werden. Ich glaube, damit haben wir eine Aufgabe, der wir uns stellen sollten. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der LINKEN)

Danke schön, Herr Kollege Striegel. - Für die Landesregierung spricht nun der Innenminister Herr Stahlknecht.

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach dem Bekanntwerden der Mordserie der rechtsterroristischen Gruppierung, die sich selbst als „Nationalsozialistischen Untergrund“ bezeichnete, haben die Länder und der Bund gemeinsam am 16. Dezember 2011 das Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus/Rechtsterrorismus, kurz GAR, eröffnet, um den polizeilichen und nachrichtendienstlichen Informationsaustausch zu optimieren.

Am GAR sind polizeiliche und nachrichtendienstliche Behörden des Bundes und der Länder beteiligt; selbstverständlich gilt dies auch für SachsenAnhalt. Mittlerweile ist das GAR als Teilbereich in das neu gegründete Gemeinsame Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum, kurz GETZ, integriert worden.

Es verfügt über eine Arbeitsgruppe „Fallanalyse“, an der sich auch Sachsen-Anhalt beteiligt. In dieser Arbeitsgruppe werden zurzeit bisher unaufgeklärte Tötungsdelikte mit einem möglichen politisch rechtsmotivierten Hintergrund einer Überprüfung unterzogen. Folgende Kriterien wurden dabei angelegt: der Deliktschlüssel, also Mord/Totschlag, einschließlich Versuchshandlungen, der Tatzeit

raum von 1990 bis 2011, also zwei Jahrzehnte, und der Umstand, dass es keine Tatverdächtigen gibt.

Für Sachsen-Anhalt wurden nach diesen Kriterien 70 Fälle recherchiert. Diese wurden gemäß dem Tatortprinzip über das Landeskriminalamt den jeweils zuständigen Polizeidirektionen übersandt. Dort wurden die entsprechenden Akten der Staatsanwaltschaften angefordert. Gemäß einem weit gefassten opfer- und objektbezogenen Indikatorenkataloges, der gemeinsam durch polizeiinterne und polizeiexterne Wissenschaftler aus dem Bereich der Rechtsextremismusforschung entwickelt und zwischen den Ländern und dem Bund abgestimmt wurde, erfolgte die weitere Recherche.

Im Ergebnis wurden Daten zu 28 Tötungsdelikten für eine weitergehende Überprüfung an das Bundeskriminalamt gemeldet. Daneben wurden die Daten von weiteren 13 Tötungsdelikten mit bekannten Tätern gemeldet. Dabei handelt es sich um Delikte, die in Sachsen-Anhalt begangen wurden, die in der sogenannten Jansen-Liste, nach dem Journalist Jansen benannt, aufgeführt sind.

Zu den einzelnen Delikten und zur Verfahrensweise nehme ich Bezug auf die Beantwortung der Kleinen Anfrage zum Thema „Mutmaßliche rechte Tötungsdelikte in Sachsen-Anhalt“ in der Drs. 6/2726.

Der Indikatorenkatalog ist Bestandteil der vom Bund und den Ländern abgestimmten Konzeption zur Arbeitsgruppe „ Fallanalyse“. Diese Konzeption ist insgesamt als „VS - nur für den Dienstgebrauch“ eingestuft. Aufgrund der Beantwortung einer seitens der Bundestagsfraktion DIE LINKE an die Bundesregierung gerichteten Kleinen Anfrage wurde diese Einstufung für den Indikatorenkatalog aufgehoben und dieser in der Bundestagsdrucksache 18/343 veröffentlicht.

Danach stehen zum Beispiel Straftaten im Blickpunkt, bei denen nach Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie gegen eine Person gerichtet sind wegen der Herkunft, der Nationalität, der Volkszugehörigkeit, der Religion, der Weltanschauung und der politischen Einstellung. - Ich bitte um Verständnis dafür, dass ich hier nicht den gesamten Kriterienkatalog vorlesen kann. Ich verweise insofern auf die Drucksache.

Als Zwischenstand der Überprüfungen möchte ich Ihnen mitteilen, dass seitens des Bundeskriminalamtes in acht Fällen Erkenntnisse mitgeteilt worden sind, die relevant sein könnten. Diese wurden bereits durch das Landeskriminalamt an die örtlich zuständigen Behörden mit der Bitte um Prüfung übersandt. Die Bewertung von vier dieser Prüffälle hat zu dem Ergebnis geführt, dass diese nicht verfahrensrelevant sind. Die Bewertung der anderen vier steht derzeit noch aus.

Ich möchte Ihnen weiterhin mitteilen, dass nach dem Abschluss der aktuellen Überprüfung eine Erweiterung auf Straftatbestände, die über den Deliktschlüssel Mord/Totschlag hinausgehen, beabsichtigt ist. Dazu zählen beispielsweise ungeklärte Brand- und Sprengstoffdelikte sowie ungeklärte Raubüberfälle auf Banken und Sparkassen.

Im Interesse einer zukünftig verlässlichen Identifizierung rechter Handlungsmotivation verweise ich insbesondere auf die Handlungsempfehlungen des Zweiten Parlamentarischen Untersuchungsausschusses der 17. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages zum Themenkomplex Nationalsozialistischer Untergrund. Diese werden gegenwärtig in verschiedenen Gremien der Innenministerkonferenz geprüft und werden in konkrete Umsetzungsschritte münden. Dieses ist die Aufgabe, die wir in unserem Haus ernsthaft betreiben.

Eine letzte Bemerkung, Herr Striegel: Der Herr Ministerpräsident hat nicht unsere Polizei getadelt oder kritisiert, er hat lediglich untermauert, dass es weiterhin erforderlich ist, dass wir mit solchen Straftaten sensibel umgehen. Ich erlaube mir, an dieser Stelle zu sagen, dass unsere Polizei und der Staatsschutz in diesem Bereich sehr sensibel sind und dass wir eine sehr gute Polizei haben, die ganz sicher nicht auf dem rechten Auge blind ist. - Herzlichen Dank.

(Zustimmung bei der CDU und bei der SPD)

Danke schön, Herr Minister. - Als Nächster spricht für die Fraktion der SPD der Abgeordnete Herr Erben.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Das Ausmaß des Nationalsozialistischen Untergrundes war für mich wie für viele andere, wahrscheinlich für alle, unvorstellbar, und zwar zunächst hinsichtlich der Tatsache, dass über einen so langen Zeitraum eine Terrorgruppe mordend und raubend durch Deutschland ziehen konnte, und auch hinsichtlich des zumindest teilweisen Versagens von Sicherheitsbehörden in unserem Land.

Ich glaube, wir können feststellen, dass das alle wachgerüttelt hat: die Behörden, die Politik, die Gesellschaft insgesamt. Wir sind es den Opfern und deren Angehörigen schuldig, wir sind es den Menschen und unserem Land schuldig, dass die Dinge abschließend aufgeklärt werden, dass die richtigen Lehren, auch aus dem Versagen der Sicherheitsbehörden, gezogen werden, um auf diese Weise zu verhindern, dass es zu einer Wiederholung in unserem Land kommt.

Diese Motive möchte ich den Antragstellern keinesfalls absprechen. Aber wenn ich Ihren Vortrag,

Herr Striegel, - das müssen Sie sich jetzt anhören - noch einmal an meinem inneren Auge vorbeiziehen lasse, muss ich sagen: Das, was Sie hier wieder einmal als Generalangriff gegen alle vom Stapel gelassen haben, das tut dem Anliegen, das Sie haben, wirklich nicht gut.

(Zustimmung bei der SPD)

Denn Pauschalkritik und pauschales Vorwerfen von Versagen für 20 Jahre Tätigkeit der Ermittlungsbehörden in diesem Lande, in SachsenAnhalt und anderswo, ist wahrlich nicht die richtige Antwort.

Nach dem Auffliegen des NSU hat es sehr umfangreiche Anstrengungen gegeben. Ich habe sie kurz erwähnt. Es gab parlamentarische Untersuchungsgremien auf der Bundesebene und in den hauptsächlich betroffenen Bundesländern - in Baden-Württemberg übrigens nicht.

(Herr Striegel, GRÜNE: Alle SPD!)

Dazu ist auf der Behördenebene - der Minister hat es bereits vorgetragen - eine sehr umfangreiche Fallanalyse in den Ländern und auf der Bundesebene erarbeitet worden. Hier in Sachsen-Anhalt hat man sich auch noch einmal intensiv die Liste des Journalisten des „Tagesspiegels“ Frank Jansen vorgenommen. All das läuft.

Ich pflichte Herrn Minister Stahlknecht darin bei: Wir sollten jetzt einen Schritt nach dem anderen tun. Es sollte zunächst über das, was hinsichtlich der genannten Straftatbestände schon abgearbeitet worden ist, im Innenausschuss berichtet werden. Danach soll entschieden werden, welche weiteren Deliktbereiche wir in eine Überprüfung aufnehmen.

Das ist auch eine quantitative Frage. Das muss auch von den Behörden abgearbeitet werden. Mit dem ersten Schritt ist die Sache noch lange nicht abgeschlossen. All das zu erörtern und uns darüber berichten zu lassen, dafür ist der Innenausschuss der richtige Ort. Deswegen werden wir für die Überweisung Ihres Antrages in den Innenausschuss stimmen. - Herzlichen Dank.

(Zustimmung bei der SPD und bei der CDU)

Danke schön. - Als Nächste spricht für die Fraktion DIE LINKE Frau Abgeordnete Quade.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Rechte Gewalttaten gehören in Deutschland und in Sachsen-Anhalt - das zeigt allein der Blick auf die Ereignisse der letzten Woche in Merseburg - leider zum Alltag. Nahezu jeden Tag ereignen sich Angriffe, Beleidigungen, Übergriffe und oftmals brutale, ja sogar tödliche Attacken.

Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Hass auf Ausländer sind besonders häufig leitende Tatmotive. Für die Betroffenen rechter Gewalt sind diese Taten lebensprägende Ereignisse mit oftmals lebenslangen psychischen und physischen Folgen, die sich durch nichts ungeschehen machen lassen.

Umso wichtiger ist die Frage, wie Behörden, Politik und Zivilgesellschaft mit dieser Situation und mit diesen Menschen umgehen, welche Erfahrungen die Betroffenen im Umgang mit staatlichen Stellen machen und ob und wie diese Gewalttaten und auch sonstige rechte Straftaten geahndet werden.

Öffentlich bekannt gewordene Übergriffe sind dabei jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Denn zum einen bleibt eine große Zahl rechter Angriffe im Verborgenen. Die Beratungsstellen stellen deutlich mehr Betroffene und Angriffe fest, als es die amtlichen Statistiken tun. Vor allem aber ist Gewalt untrennbar mit neonazistischer und rechter Ideologie und ihren Versatzstücken verknüpft und immanenter Bestandteil eines rechtsextremen Welt- und Menschenbildes.

Sich dies zu vergegenwärtigen ist nach meiner Überzeugung notwendig, um den Hintergrund des hier zur Beratung stehenden Antrages zu verstehen und auch um den damit verbundenen Aufwand abwägen zu können. Ja, dieser Aufwand ist enorm - keine Frage. Er ist aber notwendig und er ist mehr als nur gerechtfertigt.

(Zustimmung von Herrn Striegel, GRÜNE)

Eine Konsequenz aus den schrecklichen Verbrechen des NSU und der Arbeit der Untersuchungsausschüsse ist die erneute Überprüfung von Tötungsdelikten auf einen möglichen neonazistischen oder rechten Hintergrund hin. Dies ist ein richtiger und notwendiger Schritt, vor allem aber ist er ebenso überfällig wie nicht ausreichend.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Vertreterinnen von Opferberatungsstellen und Fachträgern der Bildungsarbeit gegen Neonazismus fordern genau das seit vielen Jahren ein: Opfer rechter Gewalt brauchen professionelle Hilfe und Beratung. Sie brauchen aber auch gesellschaftliche Solidarität und die offizielle Anerkennung als Opfer rechter Gewalt.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Lassen Sie uns einen Blick auf Sachsen-Anhalt werfen. Gegenwärtig werden in Sachsen-Anhalt mehrere Prozesse nach rechten Überfällen und Angriffen geführt. Beispielsweise ist einer der Beschuldigten im Prozess um den lebensbedrohlichen Angriff auf einen türkischstämmigen Imbissbetreiber in Bernburg auch der Haupttäter bei dem widerwärtigen Angriff auf den 12-jährigen Kevin in Pömmelte im Jahr 2006, der über Stunden gefoltert wurde.

Auch andere Angeklagte sind bereits mit ähnlichen Taten polizei- und gerichtsbekannt. Trotz dieser einschlägigen Vorbelastung und Vorbestrafung, vor allem aber - das ist für das eigentliche Verfahren entscheidend - trotz der Zeugenaussagen über rassistische Parolen und Beleidigungen sieht die Staatsanwaltschaft kein rassistisches oder rechtes Tatmotiv, weil es sich nach Angabe der Beschuldigten um einen unpolitischen Junggesellenabschied gehandelt habe und zudem das erste Opfer eine Deutsche, nämlich die Freundin des Hauptopfers, gewesen sei.

(Zuruf von Herrn Striegel, GRÜNE)

In einem anderen Fall, der bundesweit Aufsehen erregte, wurden ein ebenfalls türkischstämmiger Imbissbetreiber und seine Freundin in Mücheln attackiert, verletzt, beleidigt und mit Bezügen auf den NSU bedroht. Die Polizei nahm den Notruf nicht ernst. Zuerst machte man bei dem Opfer einen Alkoholtest, statt es medizinisch zu versorgen, ignorierte zunächst Schnittwunden am Kopf des Opfers und schloss dann vor Ort einen rechten Tathintergrund aus. Aus Mangel an Beweisen wurden die Beschuldigten folgerichtig freigesprochen. Für die Opfer und ihre Angehörigen muss das wie Hohn sein.