Bundesweit waren im Jahr 2012 ganze 10,8 % aller Sanktionen auf eine Weigerung zur Aufnahme einer Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit oder Maßnahme zurückzuführen. Fragen nach der der Qualität der Arbeitsangebote oder der Sinnhaftigkeit mancher Maßnahmen werden natürlich nicht gestellt.
Übrigens sind die Sanktionen aus besagten Gründen zwischen 2007 und 2012 um rund 20 % zurückgegangen, während sich die Sanktionen wegen Meldeversäumnissen nahezu verdoppelt haben. In Sachsen-Anhalt zeigt sich das gleiche Bild. 71,1 % aller Leistungsminderungen erfolgten aufgrund von Meldeversäumnissen.
Die Steigerungszahlen zeichnen jedoch auch aus anderen Gründen ein ganz falsches Bild. Sanktionen treffen überhaupt nur einen verschwindend kleinen Personenkreis. Es sind ganze 3 % der Leistungsberechtigten, 4 % der Männer und 2 % der Frauen, die mit Sanktionen belegt werden. Bei Jugendlichen sind es fast 6 %, was von den Expertinnen auf die Tatsache zurückgeführt wird, dass den Jugendlichen vergleichsweise zahlreiche Angebote unterbreitet werden, die dann zu Sanktionen führen können.
Dennoch wurde Ende 2012 der Anstieg der Sanktionen als ein Indiz dafür gewertet, dass es immer mehr und immer härterer Strafen bedarf, wenn die Arbeitslosigkeit erfolgreich bekämpft werden soll.
Auf diese Weise wird versucht, die Arbeitslosigkeit als Ergebnis individuellen Fehlverhaltens und fehlender Motivation darzustellen. Die Gesellschaft versucht, sich von der Verantwortung für die Arbeitslosigkeit, aber vor allem für die Arbeitslosen freizusprechen.
Das Sanktionsrecht untergräbt die Würde der Menschen und verbreitet Existenzangst unter den von Hartz IV Betroffenen. Noch ein weiterer gesellschaftlicher Effekt wird erreicht, den wir immer wieder als beabsichtigt kritisiert haben und den die Erfinderinnen von Hartz IV als nicht voraussehbaren Nebeneffekt darstellen. Die Leistungsberechtigten werden nämlich wehrlos gemacht gegenüber den Zumutungen prekärer Arbeitsverhältnisse. Die Politik hat mit Hartz IV solche Arbeitsverhältnisse gefördert und maßgeblich zur Etablierung des Niedriglohnsektors beigetragen.
Die Zahlen in der Antwort auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion, die gestern auf der Tagesordnung stand, sprechen eine interessante Sprache. In Sachsen-Anhalt gibt es 137 000 Menschen, die Niedrig- oder Armutslöhne beziehen, 155 000 Leiharbeiterinnen bzw. Mini- und Midijoberinnen und 70 000 Aufstockerinnen.
Ich weiß, dass man diese Zahlen nicht einfach addieren kann. Ich habe es auch nicht getan. Aber Fakt ist eines: Von etwa einer Million Beschäftigungsverhältnissen in Sachsen-Anhalt sind nur ca. 760 000 sozialversicherungspflichtig. Rechnen Sie selbst!
Betroffenenverbände haben die Versuche, den Anstieg der Sanktionen zur Erzeugung von Ressentiments gegen die Betroffenen einzusetzen, erfolgreich abgewehrt. Aktuell wird - die Zahlen wurden am Mittwoch genannt - ein deutlicher Rückgang der Sanktionen vermeldet. Auch die Zahlen erfolgreicher Widersprüche und Klagen gegen Sanktionsauflagen sprechen für sich.
Selbst die Verbände, meine Damen und Herren, die anerkennen, dass es leistungsrechtliche Reaktionen der Jobcenter geben soll, wie der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge, beklagen, dass fördernde Pflichten der Leistungsträger in deutlich geringerem Maße im Grundsicherungsgesetz geregelt sind als die fordernden Aspekte.
Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge macht darauf aufmerksam, dass die Leistungskürzungen innerhalb eines existenzsichernden Leistungssystems stattfinden und entsprechend verantwortungsbewusst damit umgegangen werden muss. Er moniert weiter, dass kompliziert aufgebaute Tatbestände und eine umfangreiche von den Leistungserbringerinnen zu beachtende Rechtsprechung einen hohen Verwaltungsaufwand verursachen, weil sie fehleranfällig sind
Die Forderungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge sind übrigens hochinteressant und lassen spannende Schlussfolgerungen zu. Wenn zum Beispiel gefordert wird, nur die Pflichten in Eingliederungsvereinbarungen aufzunehmen, die individuell für den jeweiligen Betroffenen geeignet sind, frage ich, was jetzt wohl darin steht. Es wird weiter gefordert, dass Leistungen für die Unterkunft und die Heizung in keinem Fall zu verweigern sind, auch nicht bei wiederholtem Fehlverhalten.
Dazu passt übrigens, dass die Landesregierung nicht sagen kann - sie konnte es zumindest im vorigen Jahr nicht -, welche Auswirkungen solche Sanktionen für die Betroffenen haben. Wie aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage der GRÜNEN vom dem Mai des vergangenen Jahres hervorgeht, liegen der Landesregierung zu vielen Fragen keine belastbaren Erkenntnisse vor, nicht zu der Frage, ob Sanktionen zu Wohnungslosigkeit geführt haben, nicht zu der Frage, wie sich die Lebenslage von Betroffenen gestaltet, und auch nicht zu der Frage, ob sich Betroffene ganz aus dem System zurückziehen und welche Folgen das hat. All diese Fragen kann die Landesregierung nicht beantworten.
Die Vorschläge, das Sanktionssystem zu reformieren, lösen das Problem allerdings nicht wirklich. Das verfassungsrechtliche Problem wird nicht gelöst und auch die gesellschaftlichen Probleme, die ich skizziert habe, werden nicht gelöst.
Deshalb wollen wir die Landesregierung auffordern, sich dafür einzusetzen, dass Sanktionen nicht mehr zur Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzminimums führen, nicht mehr in prekäre Arbeitsverhältnisse zwingen, nicht mehr die berufliche Qualifikation ignorieren und nicht mehr in Niedriglöhne oder gar in Armutslöhne führen. - Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und bitte um Zustimmung zu unserem Antrag.
Vielen Dank, Frau Dirlich. - Für die Landesregierung hat jetzt Herr Minister Bischoff das Wort. Bitte schön, Herr Minister.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau der Dirlich, das ist keine leichte Kost am Ende des Tages und vor den Ferien. Aber Sie müssen jetzt das letzte Mal mit mir vorlieb nehmen; dann sind Ferien.
- Danach geht es wieder neu los, frisch und erholt. - Das Wort „Sanktionen“ höre ich auch nicht gern. Trotzdem leben wir damit in einer Gesellschaft, die Regeln hat. Ich weiß, die Sozialdemokraten werden Hartz IV - der SGB-II-Bezug ist bundesgesetzlich geregelt - noch in 20 oder 30 Jahren aufs Butterbrot geschmiert bekommen. Ich hoffe, dass es bei anderen nicht so lange nachwirkt.
Das Positive wird weniger gesehen. Das Negative springt mehr ins Auge. Wir müssen daran gehen, vieles zu verändern. Aber ich bleibe einmal bei den Sanktionen. Sie haben jetzt vieles größer gefasst. Darauf kann ich in der Kürze der Zeit nicht eingehen. Ich habe nur fünf Minuten Redezeit.
Wir kennen Sanktionen aus dem täglichen Leben, vom Falschparken, von Bußgeldbescheiden und Ähnlichem. Irgendwie lebt die Gesellschaft auch davon, dass sie, wenn sie Regeln aufstellt und wenn sie bestimmte Dinge regeln will, besonders wenn sie Leistungen auszahlt, diese an bestimmte Bedingungen und Nachweise bindet. Wer diese Nachweise nicht erbringt, wird mit Sanktionen - das ist ein böses Wort - belegt.
Das ist trotzdem eine zentrale Norm der Mitwirkungspflicht der Leistungsberechtigten. Stellen Sie sich einmal vor, es gäbe das nicht, wir sähen gar keine Sanktionen in diesem Bereich vor. Stellen Sie sich vor, es wäre völlig egal, ob jemand zu spät kommt, ob sich jemand gar nicht meldet oder ob jemand zum wiederholten Mal keine Leistungsnachweise bringt. Stellen Sie sich vor, es wäre völlig egal, ob der Betreffende etwas macht oder nicht.
Ich denke, Sie können sich selber ausmalen, was dann passieren würde. Es rückt in die Nähe - ich hätte noch Sympathie dafür, wenn wir darüber diskutieren könnten - eines bedingungslosen Grundeinkommens. Wenn man nichts mehr tun muss, keine Nachweise erbringen usw., dann würde das in die Nähe des bedingungslosen Grundeinkommens rücken.
Darüber gibt es viele Diskussionen, nicht nur bei den LINKEN, sondern auch bei den Liberalen und anderen. Aber das ist nicht das Thema, über das Sie debattieren wollen. Deshalb sage ich: Ich gehe nicht an diese Sanktionen heran, weil ich denke, sie sind ein Teil der gesetzlich geregelten Normen, die ich erst einmal akzeptieren muss.
Die Sanktionsquote bei Personen, die Leistungen beziehen, beträgt insgesamt rund 3,4 %. Rund 97 % der Leistungsbezieher sind von Sanktionen also nicht betroffen. Diese Quote ist zugegebenermaßen in den letzten Jahren um 1 % gestiegen. Man kann sich nun fragen, woran das liegt. Sind die Leistungsbezieher nachlässiger geworden? Oder gibt es mehr Angebote auf dem Arbeitsmarkt, die es zu vermitteln gilt und bei denen man die Mitwirkungspflicht der Betroffenen
Drittens: Menschenwürde. Ich gebe Ihnen darin Recht, dass die Sanktionen nicht dazu führen dürfen, dass Menschen in solche Armut geraten, dass sie womöglich hungern müssen. Ich habe mir das einmal genau aufschreiben lassen, weil das wichtig ist. Es gibt eine Stufung bei Sanktionen, die jeweils drei Monate umfasst. Wenn in den ersten drei Monaten nichts passiert, werden meist 10 % der Leistung einbehalten. Das kann bis zu 30 % ansteigen. 10 % entsprechen bei einer Alleinerziehenden beispielsweise 38 €. Das ist viel Geld, das sage ich trotzdem.
Wenn Kinder mit im System sind, sind sowohl Sach- als auch Geldleistungen vorgesehen, die direkt an den Vermieter und andere Institutionen gezahlt werden, denn die Kosten - Miete, Heizung, Mittagessen und Ähnliches - können frei übernommen werden. Nach meiner Überzeugung und nach dem, was mir meine Mitarbeiter aufgeschrieben haben, darf niemand in eine solche Existenznotlage kommen, dass er tatsächlich hungert; denn das wäre lebensbedrohlich.
Die meisten Sanktionen betreffen fehlende Rückmeldungen, weil also ein Leistungsbezieher beim Jobcenter nicht wieder vorstellig geworden ist und Ähnliches. Ich glaube, darauf sind fast 80 % der Sanktionen zurückzuführen. Ich habe mir sagen lassen, dass fast alle Bundesagenturen und Jobcenter den Betroffenen per SMS noch rechtzeitig - einen oder zwei Tage vorher - daran erinnern; denn man hat mitbekommen, dass 90 % der Betroffenen ein Mobiltelefon besitzen. Es ist also ein System aufgebaut worden, in dem man, weil man davon ausgeht, dass jemand einen Termin vergessen kann, den Betroffenen daran erinnert.
Bei den Sozialgerichten - das muss man auch einmal sagen - entfällt ein Anteil von 4 % der Widersprüche und Klagen auf Sanktionen. Das ist also der kleinere Teil. Daher glaube ich, dass das nicht das zentrale Problem ist.
Das, was ich allerdings als zentrales Problem sehe - darin gebe ich Ihnen und vielen, die das auch so sehen, Recht -, ist der Umgang. Mir geht es darum, wie man mit Menschen umgeht, die keine Arbeit finden, lange keine gefunden haben, oft vielleicht auch die Hoffnung aufgegeben haben. Wie kommen sie sich in einem Jobcenter, in einer Arbeitsagentur vor?
Das ist eine menschliche Komponente, die wir von der Regierungsseite aus kaum beeinflussen können. Das können wir nur immer wieder versuchen. Diesbezüglich bekomme ich auch viele Briefe - jede Menge bekommt auch Herr Mewes, also der Petitionsausschuss -, aus denen hervorgeht, dass sich Menschen ungerecht behandelt fühlen, dass man mit ihnen nicht menschlich umgeht und dass
sie sich nicht als Menschen ernstgenommen fühlen. Das ist, finde ich, ein wirkliches Problem. Dann kann man auch nicht richtig herüberbringen, wozu diese Institution eigentlich da ist.
Letztlich stellt sich auch die Frage der Rechtsvereinfachung. Die bürokratischen Hürden sind riesig; eigentlich blickt niemand mehr durch. Es gibt eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die sich mit diesen Detailfragen beschäftigt und die es sich zum Ziel gesetzt hat, im nächsten Jahr Vorschläge zur Rechtsvereinfachung zu unterbreiten. Daher erhoffe ich mir, dass in dem Bereich auch etwas auf diejenigen Rücksicht genommen wird, die auf die Leistungen der Bundesagentur für Arbeit und der Jobcenter angewiesen sind. - Schönen Dank.
Vielen Dank, Herr Minister. - Wir treten jetzt in die vereinbarte Fünfminutendebatte ein. Für die CDU spricht als Erster der Kollege Herr Rotter. Bitte schön, Herr Abgeordneter.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich wollte ich bei diesem Antrag auf einen Redebeitrag verzichten.
- ich sagte, ich wollte - das hätten Sie gehört, wenn Sie richtig zugehört hätten. - Ich wollte es, ich tue es nicht, weil ich nämlich nicht weiß - zumindest nach dem Lesen Ihrer Textfassung -, was ich davon halten soll bzw. wie ich diesen Antrag bewerten soll. Frau Dirlich, in Ihrem Redebeitrag haben Sie das ein wenig relativiert. Aber zumindest nach dem Lesen Ihres Antrags war ich nicht wirklich sicher, ob er denn ernst gemeint sein kann.
Darin wird die Landesregierung aufgefordert, sich im Bundesrat und auf der Bundesebene dafür einzusetzen, Sanktionen nach § 31 SGB II sowie nach §§ 26 und 29a SGB XII abzuschaffen. Ich kann die Landesregierung eigentlich nur bitten, das nicht zu tun. Herr Minister, wenn ich Sie richtig verstanden habe, hat die Landesregierung das auch nicht vor.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schaut man sich den Antrag der Fraktion DIE LINKE etwas genauer an, fallen einem neben Ungereimtheiten auch wissentlich falsche Darstellungen auf. Dazu zwei Beispiele: Es heißt im letzten Satz des Antrags, dass Sanktionen nicht dazu führen dürfen, dass Arbeitsuchende in prekäre Arbeitsverhältnisse gezwun
gen werden oder ihre berufliche Qualifikation ignoriert wird. Das ist in dem Antrag der einzige Sanktionstatbestand, der erwähnt wird. Im ersten Satz der Begründung steht jedoch zu lesen, dass die meisten Sanktionen aufgrund von Meldeversäumnissen ausgesprochen werden.
- Ja, das ist ja richtig. Aber erklären Sie mir doch einmal, warum Sie das in Ihrem Antrag nicht erwähnt haben. Das kann man vielleicht irgendwann im Nachgang klären.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, richtig bedenklich wird es aus meiner Sicht in Ihrer Begründung, wenn Sie auf die Zahl der anhängigen Klagen abheben. Sie beziehen sich hierbei ausdrücklich auf die Antwort auf eine Anfrage der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag in der Drs. 17/9335. Dann berichten Sie von mehr als 300 000 Klagen, die in den Jahren 2010 und 2011 in Bezug auf das SGB II bei den Sozialgerichten eingegangen sind. 300 000 ist eine gigantische Zahl.