Protocol of the Session on June 20, 2013

Allein in der zweiten Hälfte des Jahres 1952 gaben im damaligen Bezirk Magdeburg 52 Fleischer ihr Gewerbe auf. Das Grenzregime an der Demarkationslinie wird verschärft. Trotzdem fliehen Tausende. Die Arbeitsnormen werden vollkommen unrealistisch, rein ideologisch angehoben, um damit die Ziele des Fünfjahrplanes zu erreichen. Die gleichzeitig stattfindenden Lohnsenkungen sollten den entstandenen Kaufkraftüberhang abbauen.

Ab dem 1. Juli 1952 wurde die Kasernierte Volkspolizei als Vorstufe der Volksarmee aufgebaut, unter anderem übrigens von dem ehemaligen NSDAP-Mitglied, ehrenamtlichen Richter des Volksgerichtshofes und Panzergeneral Arno von Lenski. Der Bau der Kasernen und Wohnkomplexe um sie herum band Mittel, die das zivile Bauwesen dringend benötigt hätte.

Staat und Partei suchen und finden Schuldige und Feinde: private Busbesitzer, weil zu viele Busse ausfielen, die Theaterschaffenden, weil diese zu viele alte Operetten, Schauspiele und Opern zur Aufführung brachten, die Kirche und insbesondere die Junge Gemeinde. Alois Pisnik, damaliger Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung, erklärte die Junge Gemeinde im Mai 1952 zur Terrororganisation für Kriegshetze, Sabotage und Spionage. - Einige Vertreter der Jungen Gemeinde sitzen jetzt vielleicht hier in diesem Raum. Der Justiz schrieb jener Pisnik damals in das Stammbuch: Sie solle doch gefälligst mehr im Sinne der Partei arbeiten.

Schuld waren immer auch die Westsender. Wenn sich gar keine konkreten Schuldigen an der Misere mehr fanden, dann hatten die Kommunisten und Bolschewisten in der SED immer noch den Sozialdemokratismus, der jeden Fortschritt behinderte.

Das alles und noch mehr trieb im Sommer 1953 die Menschen auf die Straße: eine Million in 700 Städten und Dörfern.

Ja, es war ein Aufstand gegen Normerhöhungen bei gleichzeitiger Lohnsenkung. Ja, es war ein Aufstand gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Ja, es war eine Rebellion gegen Mangel und Misswirtschaft. Aber es war auch mutiger Widerstand gegen die Parteidiktatur der SED und gegen den Staatsapparat.

Die DDR-Führung hatte sich verlaufen und verrannt im Machtvakuum nach Stalins Tod am 5. März 1953. Am 3. Juni 1953 wird sie in Moskau nach allen Regeln des bolschewistischen Umgangs unter Genossen gemaßregelt. Der Hochkommissar Semjonow wird ihr als Aufpasser zur Seite gestellt. Er soll den prophetischen Satz geprägt haben: „In 14 Tagen werden Sie vielleicht schon keinen Staat mehr haben.“ Das Regime scheint am Ende. Die Arbeiter legen die Arbeit nieder, gehen auf die Straße und stürmen Gefängnisse und Gebäude der staatlichen und der Parteiorganisation.

Aus einem Arbeiterkonflikt entwickelt sich ein flächendeckender Volksaufstand. Sie demonstrieren für freie Wahlen, Redefreiheit und Demokratie, für ein „Deutschland einig Vaterland“, wie wir es bis 1972 in der DDR-Hymne besingen durften.

„Wir wollen freie Menschen sein!“, rufen die Demonstranten den Mächtigen entgegen. Sie kom

men aus allen Generationen, aus allen Schichten des Volkes, ja sogar aus Funktionärskreisen.

Es gab auch Randalierer und Gewalt von Demonstranten sowie Opfer unter den staatlichen Organen, aber es war kein faschistischer Putsch.

(Beifall im ganzen Hause - Zustimmung von Minister Herrn Stahlknecht)

Der Volksaufstand zeigte auch, dass Antifaschismus kein Wert an sich ist, wenn er nicht für Freiheit und Demokratie eintritt und der Nationalsozialismus nur durch stalinistischen Bolschewismus ersetzt wird.

(Zustimmung von Herrn Weigelt, CDU)

Die sowjetischen Panzer rollen. In der sowjetischen Führung - so berichtet Molotow - soll Berija gefordert haben: unbedingt, erbarmungslos, unverzüglich. Es starben 50 bis 60 Menschen, hunderte wurden verletzt, über 10 000 festgenommen. Wir erinnern uns an sie in diesen Tagen und gedenken ihrer.

Nach dem 21. Juni 1953 kehrten die Panzer in ihre Kasernen zurück. Die Partei- und Staatsführung internierte sich fünf Jahre später selbst in der Waldsiedlung Wandlitz mit Intershop. Die Kampftruppen werden aufgebaut, die Stasi verstärkt, die Mauer gebaut, das Grenzregime ständig perfektioniert, und die Mehrheit des Volkes zog sich in das Private zurück. Beatmusik, Jeans, ein jugendlicher Bart galten schon als Widerstand.

Im Jahr 1968 rollen die Panzer der sowjetischen Soldateska erneut, diesmal in die ČSSR. Dem polnischen Volk bleibt das 1980 erspart.

Als viele von uns 1989, nach 36 Jahren, wieder auf die Straße gingen, erinnerten sich nur wenige an die gescheiterten Revolutionäre von 1953. Die sowjetischen Panzer blieben in den Kasernen. Die Kampftruppen rückten wohl aus, aber diesmal entschloss sich die Partei- und Staatsführung, nicht auf das eigene Volk zu schießen. Aus dem Tag der Deutschen Einheit in der Bundesrepublik wird für uns alle die deutsche Einheit.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU und bei den GRÜNEN - Zustimmung von Minister Herrn Stahlknecht)

Heute wissen wir, dass diese errungene Freiheit täglich verteidigt werden muss. Die Aufständischen von damals wussten sehr wohl, dass es Freiheit ohne Wahrheit, Freiheit ohne Solidarität und Freiheit ohne Opfer nicht geben wird. Es ist von uns mindestens gefordert, dass wir uns mit den Menschen in der Türkei oder in Brasilien solidarisch erklären.

(Zustimmung bei der SPD, bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)

Wir sollten auch dann an die Demonstranten von 1953 denken, wenn gegen in diesem Hohen Hause getroffene Entscheidungen demonstriert wird.

(Zustimmung bei der SPD und bei der LIN- KEN)

Wie hieß es doch in Artikel 3 der Verfassung der DDR aus dem Jahr 1949?

„Die Staatsgewalt muss dem Wohl des Volkes, der Freiheit, dem Frieden und dem demokratischen Fortschritt dienen.

Die im öffentlichen Dienst Tätigen sind Diener des Volkes und nicht einer Partei.“

- Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU und bei der LINKEN - Zustimmung von Minister Herrn Bischoff)

Vielen Dank, Herr Kollege Miesterfeldt. - Für die Landesregierung spricht nunmehr der Minister des Innern.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Aufstand vom 17. Juni 1953 hier in diesem Teil Deutschlands war und ist ein Meilenstein in der deutschen Geschichte und in der Demokratie. Es ist für das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland von nicht zu unterschätzender Bedeutung, dass wir uns heute in die Tradition dieser mutigen Frauen und Männer stellen können.

Die tragischen und traumatischen Ereignisse des 17. Juni 1953 verdeutlichen, dass für uns Deutsche die Demokratie nicht vom Himmel gefallen ist. Unsere freiheitliche, demokratische Grundordnung ist das Ergebnis eines langen, mitunter sehr schmerzlichen und mit unsäglichen Opfern verbundenen Prozesses innerhalb einer gemeinsamen Geschichte.

Im Westen Deutschlands trugen die USA, Großbritannien und Frankreich nach der Beseitigung des NS-Regimes wesentlich dazu bei, dass sich eine demokratische Gesellschaft herausbilden konnte.

Östlich der Demarkationslinie hingegen war die SED-Führung erst auf der Grundlage der sowjetischen Macht in der Lage, ihre Diktatur aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Waren die russischen Soldaten im April und Mai noch die Befreier, so waren sie am Ende mit ihrem Regime die Taktgeber und das Fundament für eine SED-Diktatur. Es bedurfte erst der Revolution des Herbstes 1989, damit auch hier eine demokratische Gesellschaft in einem einigen Vaterland entstehen konnte.

Meine Damen und Herren! Schon wenige Tage nach der Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 sprach die Propaganda der SED von einem faschistischen Putschversuch, der von westlichen Agenten angezettelt worden sei. Die historischen Untersuchungen belegen jedoch eindeutig, dass auch auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalts die protestierenden Frauen und Männer selbständig handelten und Forderungen erhoben, die von den Idealen der Freiheit und der Demokratie geprägt waren, und eben nicht von einer faschistischen Seite zu einem Putschversuch angestachelt worden waren.

Ich darf beispielhaft auf das vor wenigen Tagen erschienene Buch mit dem Titel „Tage zwischen Hoffnung und Angst“ verweisen. Der Autor Herr Professor Konrad Breitenborn gehörte übrigens in der Zeit von 1990 bis 1994 diesem Hohen Haus als Abgeordneter an. Er hat bei seinen Recherchen unter anderem eine Tonbandaufzeichnung der Belegschaftsversammlung des Wernigeröder Elektromotorenwerks vom 18. Juni 1953 ausgewertet.

Aus diesem seltenen Dokument gehen die Forderungen hervor, die die Belegschaft am Tag nach dem Einsatz der Panzer der Roten Armee öffentlich erhob. Sie lauteten: freie und geheime Wahlen in ganz Deutschland, Aufhebung der Zonengrenzen, Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland, Verbesserung der sozialen Lage der Menschen und Freilassung aller deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion.

Ich wiederhole mich gern: Diese Forderung wurde am Tag nach dem Einsatz der russischen Panzer erhoben. Darüber hinaus planten diese Arbeiter einen Marsch in das nahegelegene Bad Harzburg, jedoch umstellten Soldaten der Roten Armee während der Belegschaftsversammlung das Werk. Zudem war in der Zwischenzeit für Wernigerode der Ausnahmezustand ausgerufen worden. Trotzdem hielten die Menschen den Betrieb bis zum 20. Juni 1953 besetzt. Den Mut dieser Menschen kann man heute nicht hoch genug würdigen.

(Zustimmung bei der CDU, bei der SPD, bei den GRÜNEN und von der Regierungsbank)

Meine Damen und Herren! Das von mir geleitete Ministerium für Inneres und Sport ist in jenem Gebäude untergebracht, vor dem und in dem sich am 17. Juni 1953 dramatische Szenen ereigneten. Hier kulminierte das Aufbegehren jenes Tages in Magdeburg. Lassen Sie mich dieses Ereignis kurz skizzieren.

In den späten Vormittagsstunden erzwangen Tausende vor der damaligen Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Demonstrierende den Einlass einer Delegation, um mit dem damaligen Polizeipräsidenten Paulsen zu verhandeln.

Im Mittelpunkt ihrer Forderungen stand die Freilassung aller politischen Gefangenen aus dem Poli

zeigefängnis, das sich damals in diesem Gebäudekomplex befand und von dem aus während der NS-Zeit unschuldige Menschen nach Buchenwald und Auschwitz deportiert worden waren.

Als ihre Forderungen nach Freilassung unerfüllt blieben, begannen sie gegen Mittag, das Gefängnis zu stürmen. Erst das Eingreifen der Roten Armee konnte die empörten Menschen stoppen.

Nach der Niederschlagung des Aufstandes rechneten die vermeintlichen Sieger brutal ab. Hunderte Menschen wurden verhaftet. Ein sowjetisches Militärtribunal verurteilte am 18. Juni 1953 in einem Eilverfahren Herbert Stauch und Alfred Dartsch zum Tode. Die Urteile, meine Damen und Herren, die politische Urteile waren, wurden noch am selben Tag vollstreckt.

Der Volksaufstand - Herr Kollege Miesterfeldt, Sie haben es gesagt - vom 17. Juni 1953 beeinflusste die anderen Staaten des Ostblocks erheblich. Er hatte Vorbildfunktion - ob im Jahr 1956 in Ungarn und Polen, ob im Jahr 1968 während des Prager Frühlings -, auch für die Herausbildung der Gewerkschaft Solidarnosc in Polen in den Jahren 1980 und 1981.

Auf der anderen Seite darf man die innenpolitischen Folgen des niedergeschlagenen Volksaufstandes nicht außer Acht lassen; denn der Aufstand traf das SED-Regime ins Mark. Ulbricht, Honecker und die anderen Mitglieder der SED-Führung mussten zur Kenntnis nehmen, dass ihre Macht sehr begrenzt war und letztlich vom großen Bruder der Sowjetunion abhing.

Auf sich allein gestellt waren sie nicht in der Lage, ihre Macht, die sie eben nicht durch freie Wahlen errungen hatten, zu stabilisieren. Deshalb kann praktisch keine Entscheidung von Tragweite in den Jahren nach 1953 ohne diesen Volksaufstand verstanden werden. Repressionen allein reichten nicht aus, um das Volk zu besänftigen. Das hatte die SED-Führung begriffen.

Die sozialpolitischen Maßnahmen Honeckers in den 70er-Jahren sind eben auch aus diesem Blickwinkel heraus zu verstehen. Diese wurden selbst dann nicht mehr zurückgefahren, als sich deren volkswirtschaftliche Unvernunft längst erwiesen hatte und die DDR praktisch zahlungsunfähig war.

Honecker und seine Gefährten fürchteten ganz offenbar zu jeder Zeit den Unmut des eigenen Volkes. Diese Furcht war berechtigt. Doch der Unmut der Menschen war im Sommer und im Herbst 1989 nicht mehr aufzuhalten. Daran änderte auch der riesige Unterdrückungsapparat nichts, den die SED-Führung in den Jahren nach dem 17. Juni 1953 aufgebaut hatte.

Mit rasanter Geschwindigkeit verlor der SED-Staat seine Autorität. In wenigen Wochen beseitigten die

Menschen das SED-Regime. Dabei beriefen sie sich auch auf den 17. Juni. Diesmal standen der SED-Führung keine Panzer der Roten Armee bei. Honecker und Mielke - nach dem Volksaufstand des 17. Juni in höchste staatliche Ämter gelangt - mussten abtreten. Das Volk hatte das vollendet, woran es 36 Jahre vorher gescheitert war: Es hatte die SED-Herrschaft beseitigt.