Guten Morgen, meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hiermit eröffne ich die 31. Sitzung des Landtages von Sachsen-Anhalt der sechsten Wahlperiode und begrüße alle Anwesenden auf das Herzlichste.
Wir haben eine Premiere: Für Frau Kollegin Hohmann ist es die erste Sitzung hier oben im Tagungspräsidium. Wir wünschen ihr gutes Gelingen bei der Handhabung ihrer Aufgabe.
Wir haben einen zweiten, sehr erfreulichen Grund, auf etwas hinzuweisen: Herr Minister Dr. Hermann Onko Aeikens hat heute Geburtstag. Ich gratuliere Ihnen im Namen des Hohen Hauses, wünsche Ihnen Gottes Segen und alles Gute.
Wir haben bereits Gäste im Haus, und zwar Soldatinnen und Soldaten des 2. und 5. Logistikbataillons 171 der Clausewitz-Kaserne in Burg als Gäste der Landeszentrale für politische Bildung. Herzlich willkommen!
Wir setzen nunmehr die 17. Sitzungsperiode fort. Ich erinnere daran, dass am heutigen Tag Herr Ministerpräsident Dr. Haseloff, Herr Staatsminister Robra, Frau Ministerin Professor Dr. Kolb und Herr Minister Webel ganztägig abwesend sind.
Für die Aktuelle Debatte liegen zwei Beratungsgegenstände vor, zum einen ein Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Thema „Aufbewahrung von Verfassungsschutzakten mit möglichem Bezug zu Mitgliedern sowie Unterstützern der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund“ und zum anderen ein Antrag der Fraktion DIE LINKE zum Thema „Drohende Altersarmut in Sachsen-Anhalt“. Die Redezeit im Rahmen der Aktuellen Debatte beträgt zehn Minuten je Fraktion. Die Landesregierung hat ebenfalls eine Redezeit von zehn Minuten.
Im Ältestenrat wurde folgende Reihenfolge für die Beiträge der Fraktionen vorgeschlagen: GRÜNE, SPD, DIE LINKE, CDU. Für die Antragstellerin DIE GRÜNEN hat der Abgeordnete Herr Striegel das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die juristische Aufarbeitung der Terrortaten des Nationalsozialistischen Untergrundes und ihre politische Aufklärung kommen quälend langsam voran. Insbesondere die Arbeit in den vier Untersuchungsausschüssen stockt. Politisch gewollte Verzögerungen in Sachsen, gelöschte Dateien und geschredderte Papiere allerorten, vor allem aber immer wieder auftauchende Akten, die von den Sicherheitsbehörden bislang nicht geliefert, vergessen oder zurückgehalten worden waren.
Mancher überraschende Fund lässt sich durch schlampiges Arbeiten erklären, einiges auch durch die schiere Masse an aufzuarbeitendem Material. Bei vielen Aktenfunden in den vergangenen Monaten, die es zwischen Köln und Berlin, zwischen München, Erfurt und Dresden gab, liegen die Gründe aber anders. In diesen Fällen konkurrieren Geheimdienste und Polizei. Hier bestimmen kollegiale Nickeligkeiten, scharfe politische Differenzen und Versuche der politisch Verantwortlichen das Bild, sich reinzuwaschen, wann und wo welche Akten durchgestochen werden.
Das Ergebnis ist immer gleich: Parlamentarier in den Untersuchungsausschüssen, im Innenausschuss und in den Kontrollgremien erfahren aus der Zeitung von neuen Akten, die im Umlauf sind, und müssen sich ihr Bild zusammenpuzzeln. Die politisch Verantwortlichen informieren dann nachlaufend. Sie geben zu, was ohnehin nicht mehr zu leugnen ist, weil es bereits in der Öffentlichkeit ist.
Auch wenn die Landesregierung immer wieder betont hat, ihr lägen keine Informationen über Bezüge des NSU oder seiner Unterstützer nach Sachsen-Anhalt und erst recht keine Akten dazu vor, konnte der Fund eines MAD-Dossiers zu Uwe Mundlos und fünf anderen Personen in der vergangenen Woche kaum überraschen. Der Tipp dazu kam aus Berlin. Erstaunlich ist nur, dass das zunächst verschwunden geglaubte Dokument erst nach einer Intervention von PKK-Mitgliedern plötzlich aufzutreiben war.
Heute wissen wir, woran es lag: Die Aktenführung beim Verfassungsschutz ist dürftig, die Aktenhaltung - so der zuständige Minister Stahlknecht - „bisweilen wertlos“. Die organisatorische Verant
wortung für die Art und Weise der Aktenhaltung trug der ehemalige Leiter der Abteilung Verfassungsschutz. Die politische Verantwortung dafür, dass seit November 2011 entgegen öffentlichen Aussagen doch nicht alle Akten des Verfassungsschutzes nach Bezügen zum NSU-Trio und seinen Unterstützern untersucht wurden, sondern dass lediglich naheliegende Bestände nach Stichworten durchsucht wurden, tragen jedoch Sie, Herr Minister.
Sachsen-Anhalt hat dem Bundestagsausschuss bislang nur wenig Material und den Länderausschüssen bis auf Ankündigungsschreiben gar nichts übersandt. Angesichts der Vernetzung der in den 90er-Jahren gewachsenen Neonaziszene im Länderdreieck zwischen Halle, Leipzig und Jena wäre es absurd, wenn nicht auch in hiesigen Beständen Bezüge zu dem Trio und dessen Unterstützernetzwerk herzustellen wären. SachsenAnhalt muss endlich reinen Tisch machen und alles, was relevant sein könnte, nach Berlin und an die anderen Ausschüsse übersenden.
(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der LINKEN, von Herrn Borgwardt, CDU, und von Herrn Kurze, CDU)
Neben der Aktenhaltung beim hiesigen Verfassungsschutz liegt der eigentliche Skandal jedoch in der Verstrickung der Sicherheitsbehörden in das Umfeld des NSU. So sollen nach abgleichenden Schätzungen der Untersuchungsausschüsse des Bundes und der Länder zwischen 35 und 45 Spitzel im Thüringer Heimatschutz aktiv gewesen sein, was jedem vierten Mitglied entspräche. Ein späterer V-Mann des Berliner Landeskriminalamtes organisierte den Mitgliedern des NSU vor deren Untertauchen Sprengstoff. Später lieferte er Hinweise auf den Aufenthaltsort des Trios; diese wurden aber aus unerfindlichen Gründen nicht weitergeleitet.
Wenn Medienberichte zutreffend sind, nach denen auch auf dem Gebiet des Landes Sachsen-Anhalt mindestens ein V-Mann - offenbar des Bundesamtes; jedenfalls wurde dies von dort nicht dementiert - mit Kontakten zum NSU operierte, dann hat Bundesinnenminister Friedrich gegenüber dem Untersuchungsausschuss in Berlin und dem dortigen Kontrollgremium hochnotpeinliche Fragen zu beantworten
Friedrich muss erklären, warum er einen solchen Vorgang bis jetzt verschwiegen und offenbar auch keine Akten an die parlamentarischen Gremien übergeben hat. Das Bundesinnenministerium hat den Vorgang gestern nicht dementiert und lediglich angegeben, keinen Zugang zum NSU gehabt zu haben.
ren, seit wann er von einem solchen Vorgang, wie er in den Medien berichtet wurde, Kenntnis hatte. Und er muss zu dem in den Medien kolportierten Gerücht Stellung nehmen, nach dem der Abteilungsleiter des Verfassungsschutzes nicht wegen des verspäteten Auffindens der MAD-Akte geschasst worden sei, sondern wegen dieses Vorgangs zurückgetreten sei.
- Es geht um Aufklärung in den zuständigen Gremien. - Ohne dieser notwendigen und umfassenden Aufklärung vorzugreifen, lässt sich sagen: Im Bereich der staatlich alimentierten Kriminellen, im V-Mann-System liegt der Kern des Problems. Das V-Mann-System hat ausgedient.
Was die Verbindung des NSU nach Sachsen-Anhalt anbelangt, so haben wir aufgrund der Versäumnisse des Verfassungsschutzes Zeit verloren. Unser Bundesland steht somit offenbar noch am Anfang der Aufklärung.
Schlüssel zur Erkenntnis könnten hier die in den 90er-Jahren gewachsenen Verbindungen der Neonaziszene zwischen Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen sein. Wer diese versteht, wer die Aktivitäten, insbesondere des Blood-and-Honour-Netzwerkes, aus dieser Zeit analysieren kann, der wird vielleicht auch erklären können, warum Beate Zschäpe sich für den Gang zum Zahnarzt ausgerechnet eine Hallesche Praxis aussuchte und ob sie nicht längere Zeit in Halle zubrachte.
Hierzu erwarte ich von der Landesregierung mehr Aktivität. Es geht nicht nur um ein notwendiges nochmaliges Wenden von Papier. Das, was wir brauchen, ist ein analytischer Blick auf die Beziehungen mitteldeutscher Neonazis und auf ihre Organisationsstrukturen sowie ein Ausleuchten staatlicher Aktivitäten in diesem Bereich.
Dafür, meine Damen und Herren, sind insbesondere dem Untersuchungsausschuss des Bundestages weitere Akten zur Verfügung zu stellen, und zwar vollständig. PKK und Innenausschuss müssen in Sachsen-Anhalt fortlaufend und selbständig informiert werden. Das sind Sie, Herr Minister, nicht nur dem Parlament und der Öffentlichkeit, sondern vor allem den Opfern der Anschläge und deren Angehörigen schuldig.
In den letzten Monaten sind von den Sicherheitsbehörden und den Innenministern dieser Republik eine ganze Reihe von Nebelkerzen gezündet worden. Die Verbunddatei Rechtsextremismus gehört
dazu. Wir alle wissen: Der Austausch von Daten zwischen den Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern ist im Bereich der rechten Gewalt mangelhaft und stümperhaft gewesen. Das zeigen die bisherigen Ermittlungsergebnisse zum NSU.
Die neue Datei - das ist ihr Problem - versucht nun, dies ausschließlich technisch zu verbessern. Dabei bleibt sie einerseits juristisch schwammig - denn wie lassen sich „Kontaktpersonen zum gewaltbereiten Rechtsextremismus“ trennscharf fassen? -, andererseits verweigert sie den Behörden die wichtigste Auskunft überhaupt, nämlich ob ein Neonazi nicht vielleicht Spitzel des Verfassungsschutzes oder einer anderen Behörde und damit staatsbezahlter Krimineller ist.
Hier ist nichts unmöglich, wenn man betrachtet, dass - wie in dieser Woche offenbar wurde - eine Verfassungsschutzbehörde dem rechtsextremen und straffällig gewordenen V-Mann eines Landeskriminalamtes ohne Wissen um dessen V-MannTätigkeit eine bestandene Sicherheitsüberprüfung für sensible Akten testiert - so geschehen beim Berliner Landeskriminalamt.
Im Fall des NSU-Trios und seiner Unterstützer hätte die Verbunddatei zudem rein gar nichts bewirkt. Die Ermittler schlossen über Jahre hinweg ein rassistisches Motiv für die Mordserie aus, kontaktierten stattdessen einen Hellseher, bauten falsche Imbissbuden auf und ermittelten schwerpunktmäßig im Umfeld der Opfer wegen vermuteter Kontakte ins Drogenmilieu, zur Wettmafia und Ähnlichem. Für die Behörden war es schlichtweg nicht vorstellbar, dass in der Bundesrepublik Menschen aufgrund ihrer Herkunft Opfer einer organisierten und jahrelang laufenden Mordkampagne eines neonazistischen Killerkommandos geworden sein könnten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Geschehnisse im Bund und in den Ländern zeigen deutlich: Wir haben es im Fall des NSU nicht bloß mit einer Aneinanderreihung von Behördenversagen, sondern mit einem Systemversagen zu tun. Das System Verfassungsschutz hat sich überlebt und kann weder durch einen neuen Chef noch durch neue Aufgabenfelder und schon gar nicht durch die Übernahme politischer Bildungsangebote wiederbelebt werden
(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN - Herr Leimbach, CDU: Das nennt man: Das Kind mit dem Bade ausschütten!)
Eine Institution, die Parteien wie DIE LINKE, Atomkraftgegner oder Mitglieder der Grünen Jugend bespitzelt, aber neonazistischen Terror über Jahre hinweg nicht erkennt, braucht kein Mensch.
Herr Minister, Sie betreiben an dieser Stelle - das muss ich leider sagen - lebensrettende Sofortmaß