Protocol of the Session on September 20, 2012

Dann, liebe Kolleginnen und Kollegen, lohnt sich einmal ein Blick, seit wann und warum dieses System offensichtlich nicht mehr funktioniert. Dazu sage ich: Die Tarifautonomie bzw. das Funktionieren dieses Systems ist durch politische Entscheidungen massiv untergraben worden. Das System ist in eine Situation geführt worden, in der es in weiten Teilen der Gesellschaft nicht mehr funktioniert.

(Herr Leimbach, CDU: Das ist doch Quatsch!)

Die Schlagworte dazu waren Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und Agenda 2010.

(Zuruf von Herrn Leimbach, CDU)

- Herr Leimbach, dass Sie das so nicht sehen, ist mir schon klar. Die Masse der Bevölkerung sieht es inzwischen so.

(Zustimmung bei der LINKEN - Zuruf von Herrn Leimbach, CDU)

Ich sage Ihnen einmal, was in dieser Tarifautonomie das Gleichgewicht von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die - und jetzt nehme ich den militanten Begriff, damit es deutlich wird, sonst mache ich das nicht - Waffengleichheit zerstört hat, was sozusagen die Fähigkeit der Arbeitnehmer, sich in Tarifauseinandersetzungen wirklich durchzusetzen, massiv untergraben hat:

Der Druck auf Arbeitslose oder Leute, die von Arbeitslosigkeit bedroht sind, fast jede Arbeit fast zu jedem Lohn anzunehmen, hat die Möglichkeiten

der Arbeitnehmer in den Betrieben sich zu wehren, ausdrücklich untergraben.

Die Kombilohnmodelle nach dem Motto: „Die Arbeitgeber bezahlen einen Teil, den Rest bekommst du vom Staat“ - heute das Phänomen der Aufstocker, weit verbreitet -, haben zu Niedriglöhnen in Bereichen geführt, wo wir das sonst nicht hatten, denn der Staat finanziert ja den Rest.

Die Ausbreitung von Mini- und Midi-Jobs, die natürlich zum Verlust von Vollzeitarbeitsplätzen geführt hat, die Ausweitung von Teilzeit und Befristung - - Ja, reden Sie einmal mit jemandem, der mit einem Sechsmonatsvertrag in einem Betrieb ist, dass der sich an einem Streik für eine Lohnerhöhung beteiligen soll. Der wird das nicht machen, weil er sagt: Wenn ich in sechs Monaten nicht mehr hier bin, habe ich für euch gestreikt, aber ich habe davon nichts.

Das ist doch die Situation in vielen Branchen, und die hat dazu geführt, dass die Leute in den Betrieben sich nicht mehr richtig wehren können und für Tarife kämpfen können, die sie wirklich verdienen.

(Beifall bei der LINKEN)

Dann kommt das nächste Phänomen hinzu. Wenn wir noch vor 20 Jahren die Situation hatten, dass „ein Betrieb“ zugleich „eine Belegschaft“ hieß, stimmt das eben heute nicht mehr. In dem Betrieb haben wir vielleicht 30, 40, 50, 60 % Stammbelegschaft. Dann haben wir Leiharbeiter. Dann haben wir Werkverträge.

Und die Auseinandersetzung läuft ganz klar: Was, liebe Stammbelegschaft, du willst streiken? Gerne! Ich nehme im nächsten Monat 20 % mehr Leiharbeiter. Dann können wir das über Entlassungen regeln.

Das ist die Situation der Tarifauseinandersetzungen. Das hat die Gewerkschaften geschwächt und das hat dieses Tarifsystem praktisch zerstört, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN)

Es geht weiter: Die Förderung von Scheinselbständigkeiten, die natürlich Mindeststandards unterlaufen haben. Die Auflösung von Flächentarifverträgen hin zu Haustarifen: Was, du willst hier nicht? Nebenan kriege ich einen Haustarif. Da mache ich es 20 % billiger. Also, lieber Betriebsrat, halte lieber deine Klappe! Vergiss es mit dem Streik! Vergiss es mit der Tariferhöhung!

Das ist die Situation, und diese hat dazu geführt, dass dieses System nicht mehr funktioniert, liebe Kolleginnen und Kollegen, und zwar als Ergebnis politischer Entscheidungen, die auch hier getroffen worden sind.

(Beifall bei der LINKEN - Zurufe von der CDU)

Deswegen ist es notwendig, diese politisch eingeleitete Fehlentwicklung hin zu Niedriglöhnen zu

durchbrechen. Deswegen ist es notwendig, politische Entscheidungen hin zu einem gesetzlichen Mindestlohn zu treffen.

Ich sage Ihnen ganz deutlich: Dieses Tarifsystem wird erst dann wieder funktionieren, wenn die Leute über gesicherte Arbeitsverhältnisse, über unbefristete Arbeitsverhältnisse, über Vollzeitarbeitsverhältnisse verfügen, wenn sie sich in ihrer Position als Arbeitnehmer sicher sein können und wenn sie wissen, dass es wieder einen Flächentarifvertrag gibt, der verhindert, dass das Unternehmen, wenn sie streiken, die Produktion ruckzuck in einen Billigladen 20 Kilometer weiter auslagern kann. Dann funktioniert es wieder.

Bis wir diese Situation erreicht haben, brauchen wir zwingend den gesetzlichen Mindestlohn, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Thema hat darüber hinaus tatsächlich eine politische Dimension. Wir wissen durch viele, viele Umfragen, dass die Masse der Bevölkerung in der Bundesrepublik und noch mehr in Sachsen-Anhalt das längst so sieht.

Die Menschen fragen sich: Warum, Politiker, tut ihr nichts? Warum habt ihr nicht endlich den Mut, diesen Schritt, der in vielen europäischen Ländern längst gegangen worden ist, hier umzusetzen? Warum, liebe Politiker in Sachsen-Anhalt, habt ihr nicht einmal den Mut, in ein Vergabegesetz eine Lohnuntergrenze von 8,50 € aufzunehmen? - Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, erschüttert das Vertrauen in politische Institutionen mehr als jede Diätenerhöhung; glauben Sie mir das.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜ- NEN - Zurufe von der CDU)

Man muss ganz klar sagen, dass die Bilanz dessen, was bisher passiert ist, schlecht ist. Gut, die FDP, falls sich noch jemand daran erinnert, ist dagegen, aber ansonsten sind natürlich inzwischen alle dafür.

Das Problem ist Folgendes: Sehen die Leute etwas? - Nein, sie sehen nichts; denn es wird geredet, aber nicht gehandelt. Wenn es wirklich zum Handeln kommt, dann wird es allerdings ein bisschen eigenartig.

Natürlich ist auch die CDU für entsprechende Einkommen. Aber sie ist nur in dem bisherigen System dafür, nur im Bereich der Tarifautonomie, nur in dem System, das bisher dazu geführt hat, dass es eine massenhafte Ausbreitung von Niedriglohnrealität gibt.

(Herr Schröder, CDU: Oh, oh, oh! - Herr Borgwardt, CDU: Das stimmt nicht!)

Nachdem wir diesen Antrag gestellt haben, hat man sich offensichtlich in der Koalition gequält - ich kann es nicht anders formulieren - und hat

versucht, sich in irgendeiner Art und Weise in diese Richtung zu bekennen.

(Herr Borgwardt, CDU: Unbeabsichtigt!)

Nun haben wir einen Alternativantrag vorliegen. Wenn man ihn oberflächlich liest, dann könnte man fragen, was, liebe Kolleginnen und Kollegen, eigentlich die Alternative ist. Dies wird nicht ganz deutlich. Es sind einige nebulöse Formulierungen enthalten. Diese erschließen sich dann, wenn man die Pressemitteilungen des Kollegen Schröder und des Kollegen Thomas liest. Darin geht nämlich der Kampf um die Interpretationen los. Das ist hochinteressant.

Bei dem Kollegen Schröder heißt es zum Beispiel in seiner Presseerklärung zu diesem gemeinsamen Alternativantrag wie folgt:

„Eine Tarifkommission, die bundeseinheitlich für alle Branchen und Regionen eine Lohnfestlegung trifft und sogar in geltende Tarifverträge vor Ort eingreift, wäre problematisch.“

Herr Schröder, ich weiß nicht, ob Sie es wissen: Die Thüringer Mindestlohninitiative macht genau das; das ist ihr Kern.

(Herr Schröder, CDU: Und deswegen stim- men wir auch nicht zu! - Herr Borgwardt, CDU: Das ist die Alternative!)

Wenn Sie das nicht wollen, dann müssen Sie sie ablehnen. Das ist das Problem, das heute zur Debatte steht.

(Beifall bei der LINKEN - Zurufe von der CDU)

Nach dem Thüringer Mindestlohmodell soll eine Kommission von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gebildet werden, die einen branchenunabhängigen flächendeckenden Mindestlohn für die gesamte Bundesrepublik Deutschland festlegt. Wenn die beiden sich nicht einigen, dann beruft die Politik, nämlich das Bundessozialministerium, einen Schlichter. Wenn sie sich dann immer noch nicht auf den Schlichterspruch einigen, dann entscheidet letztlich der Schlichter mit seiner Stimme über die Höhe dieses Lohnes. Dieser einheitlich gesetzte Mindestlohn wird Tariflöhne von 3,58 € oder von 4,20 € aussetzen und sie rechtsunwürdig machen.

Wer das nicht will, muss sich heute hier hinstellen und sagen: Ich bin gegen die Thüringer Mindestlohninitiative. Haben Sie bitte den Mut und seien Sie so ehrlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU.

(Beifall bei der LINKEN)

Eines sage ich auch ganz deutlich: Angesichts der negativen Bilanz gerade in dem Bereich Mindestlohn - ich habe das Vergabegesetz angesprochen - wissen wir, dass allein die Diskussion um

den Mindestlohn und auch ein gesetzlicher Mindestlohn die soziale Polarisation in der Gesellschaft, die durch den Niedriglohnsektor befördert worden ist, nicht aufhalten werden. Ich habe vorhin eine Reihe der Aktionen der Agenda 2010 genannt, die zu einer hohen Prekarisierung in dem Bereich der Arbeitswelt geführt haben. Natürlich müssen wir auch diese Dinge angehen.

Wir sind der Meinung, wir brauchen wieder gesellschaftlichen Druck. Wir brauchen wieder organisierten gesellschaftlichen Druck, auch in SachsenAnhalt. Deswegen haben Frau Bull als Landesvorsitzende und ich als Fraktionsvorsitzender einen Brief vorbereitet, der in den nächsten Tagen an die Mitglieder des Bündnisses Mindestlohn gehen wird, das immer noch in Sachsen-Anhalt existiert. In diesem Brief sagen wir, wir brauchen wieder einen gesellschaftlichen Druck, der uns im Kampf um einen gesetzlichen Mindestlohn in SachsenAnhalt und in der Bundesrepublik endlich einen Schritt voranbringt. Wir sind gespannt auch auf Ihre Antworten, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN)

Es gibt Ideen. Es gibt zum Beispiel ein Bremer Mindestlohngesetz. Dieses regelt, dass überall dort, wo öffentliches Geld und öffentliches Eigentum eine Rolle spielen, ein Lohn von mindestens 8,50 € gezahlt werden muss. Das ist viel mehr als bei der Vergabegesetzdebatte, die wir hier führen. Was in Bremen funktioniert, ist in Sachsen-Anhalt möglich, und hier wahrscheinlich noch notwendiger als in Bremen. Das ist ein lohnendes politisches Ziel, übrigens auch für dieses Bündnis, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Ich kann am Ende Folgendes sagen: Die Debatte um gesetzliche Mindestlöhne ist eine Debatte um existenzsichernde Arbeit, um ein Leben in Würde für die Menschen in der Bundesrepublik und ganz besonders in Sachsen-Anhalt. Es ist ein hohes politisches Ziel und deswegen - das garantiere ich Ihnen - werden wir Sie damit nicht zufrieden lassen, bis wir unser Ziel erreicht haben. - Danke.