Protocol of the Session on September 20, 2012

unsäglichen Das-Boot-ist-voll-Rhetorik wurden Ressentiments gegen Zuwanderer gesät und verstärkt.

„Flüchtlinge gehen, die Probleme bleiben“, so war eines der Plakate beschrieben, mit denen einige wenige Quedlinburger Bürgerinnen und Bürger sich in den Septembertagen 1992 schützend vor ihre Nachbarinnen und Nachbarn aus der zentralen Unterkunft in der Oeringer Straße stellten. Ihrem Engagement, das sich aus christlicher Nächstenliebe ebenso speiste wie aus dem unbedingten Eintreten für zivilisatorische Mindeststandards und gegen Gewalt, Rassismus und Neonazis ist es zu verdanken, dass die Unterkunft nicht gestürmt wurde.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Mahnwache waren und blieben trotz heftiger Angriffe und erlittener eigener Verletzungen vor Ort. Sie mussten sich vom damaligen Innenminister und dem örtlichen Polizeieinsatzleiter für ihre Zivilcourage als Teil des Problems beschimpfen lassen. Diese Menschen, meine Damen und Herren, haben als Bürgerrechtler in der Mahnwache und Antifas in zwei antirassistischen Demonstrationen Gesicht gezeigt und sich der Menschenjagd vor Ort widersetzt.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN - Herr Leimbach, CDU: Das ist aber historisch nicht korrekt, was Sie da sagen!)

Der rassistische Pogrom von Quedlinburg zeigt ein Versagen von Gesellschaft und Staat auf. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit aller hier im Land lebenden Menschen wurde nicht gewahrt.

In Quedlinburg gelang es der Polizei erst ab dem dritten Abend der Ausschreitungen, überhaupt in relevanter Anzahl anzurücken und die Unterkunft der Flüchtlinge gegen Angriffe zu verteidigen. Ein damals eingesetzter und noch heute im Polizeidienst des Landes arbeitender Beamter hat dazu in der letzten Woche auf einer Veranstaltung in Quedlinburg gesagt, ihn erfülle dieser Umstand mit Scham. Mir hat diese Aussage Respekt abgenötigt. Sie zeigt, dass in der sachsen-anhaltischen Polizei das Bewusstsein für eigene Fehler in den vergangenen Jahren gewachsen ist.

Seit 1992 hat es hier deutliche Verbesserungen im Umgang mit rechter Gewalt gegeben. Opferinitiativen und von rechter Gewalt Betroffene beklagen aber auch heute noch Fälle polizeilichen Versagens. Ihre strukturellen Ursachen müssen abgestellt werden. Dafür muss sich der Landtag heute in tätiger Erinnerung einsetzen.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Uns alle muss das damalige Versagen der Sicherheitsbehörden beschämen; denn die Behörden

zeigten sich zu Beginn der 90er-Jahre unfähig und in ihrer Gesamtheit unwillig, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit für alle Menschen in diesem Land, egal welcher Hautfarbe und Herkunft, zu garantieren.

(Herr Leimbach, CDU: Woher wissen Sie das denn?)

Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Sie reichen von fehlender Erfahrung im Umgang mit massenhafter Gewalt über mangelnde technische Ausstattung bis hin zu einem virulenten institutionellen Rassismus,

(Zuruf von der CDU: Was? - Unruhe bei der CDU)

der viel Verständnis für die gewalttätigen Reaktionen frustrierter und perspektivloser weißer Jugendlicher und Erwachsener aufbrachte, aber den notwendigen Schutz von Migrantinnen und Migranten vor einem ausländerfeindlichen Mob hinten herunterfallen ließ.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN - Zuruf von der CDU)

Die Evakuierung der Flüchtlinge aus Quedlinburg und ihre Verbringung nach Magdeburg und von dort in weitere Lager war eine - so ein Zitat von Reinhard Höppner - „Kapitulation des Rechtsstaates“. Die Verbringung dürfte den damaligen Gewalttätern Genugtuung verschafft haben. Schließlich hatten sie ihr Ziel erreicht, die Ausländer aus Quedlinburg zu vertreiben.

Das Vertreiben von Schwächeren, von Menschen, die mit Gewalt bedroht werden, darf es - das lehrt die Erfahrung aus Rostock, Quedlinburg und anderswo - in diesem Land nie wieder geben.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Genau deshalb muss der Rechtsstaat auch heute, überall, auch im sachsen-anhaltischen Insel den Anfängen solcher Vertreibungen wehren, auch wenn es um Straftäter und ehemalige Sicherungsverwahrte geht.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Die fehlende oder unzureichende staatliche Sanktionierung von Gewalt gegen Migrantinnen und Migranten, wie sie die wiedervereinigte Bundesrepublik zu Beginn der 90er-Jahre in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Quedlinburg, in Mölln, Solingen und anderswo erlebt hat, verbunden mit einer politischen Debatte, die in der faktischen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl im Jahr 1993 ihren Höhepunkt fand, war ein zentrales Sozialisationsmoment für junge ostdeutsche Neonazis,

(Zurufe von der CDU)

unter ihnen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe sowie ihr auch nach SachsenAnhalt reichendes Umfeld.

(Zustimmung bei den GRÜNEN - Unruhe bei der CDU)

Gewalttaten ihrer Generation gegen Migrantinnen und Migranten wurden nicht geächtet, sondern häufig beklatscht. Die Polizei und die Institutionen der Rechtspflege zeigten sich oft ahnungslos und grundsätzlich milde.

(Unruhe)

Die organisierten Neonazis und unorganisierten Rassisten durften annehmen, dass sie mit ihren Taten umsetzten, was sich andere nur zu sagen trauten: dass in diesem Land zu viele Ausländer wohnen würden, dass Überfremdung drohe, dass das Boot schon lange voll sei und nun endlich etwas getan werden müsse.

Das von der Bundesregierung im Jahr 1992 als Reaktion auf den Weg gebrachte Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt - Agag - entwickelte sich häufig zur „Glatzenpflege auf Staatskosten“ und entpolitisierte Rechte sowie rassistische Gewalt.

(Zuruf von der CDU - Unruhe)

Der Gesellschaft der beginnenden 90er-Jahre gelang es nicht, eine überzeugende Antwort auf sich flächendeckend zeigenden Rassismus zu formulieren. Mit den Folgen dieser gesellschaftlichen und staatlichen Unterlassung haben wir noch heute zu kämpfen. Sie auch in Sachsen-Anhalt in aller Konsequenz und nicht nur in den Akten aufzuarbeiten bleibt unser aller Aufgabe.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Dass sich in unserem Bundesland inzwischen viele Menschen in Vereinen, Initiativen, Bündnissen gegen Neonazis und für Demokratie engagieren, ist eine wichtige Entwicklung; denn Neonazis, rechte Gewalt und menschenfeindliche Einstellungen bedrohen weiterhin Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in unserem Land.

Breite Bevölkerungsschichten geben sich auch nach den von der Landesregierung beauftragten Untersuchungen als rassistisch zu erkennen, indem sie Aussagen wie dieser zustimmen: Unser Land sei - Zitat - „in einem gefährlichen Maße überfremdet“.

Minister Holger Stahlknecht hat deshalb in diesem Sommer zu Recht eine hohe Ablehnung gegenüber Ausländern in unserem Land beklagt und eine neue Willkommenskultur gefordert.

Rechte Gewalt, die sich gegen Migrantinnen und Migranten, nichtrechte Jugendliche, Homosexuelle oder politische Gegner von Neonazis richtet, ist all

täglich. Rund 160 Angriffe sind in diesem Land pro Jahr im Durchschnitt zu verzeichnen.

Seit 1990 starben mindestens 13 Menschen in Sachsen-Anhalt durch organisierte Neonazis oder wurden aufgrund rechter Motive umgebracht. Sieben von ihnen werden nach zäher und jahrelanger Auseinandersetzung und dank des Engagements von Opferinitiativen inzwischen in der offiziellen Statistik geführt.

(Minister Herr Stahlknecht: Das haben wir gemacht, Herr Striegel!)

- Ja. Darin besteht, wie gesagt, kein Dissens, sondern im Gegenteil: Ich finde es gut, dass Sie sich den Mühen dieser Untersuchungen noch einmal unterzogen haben. Ich habe bei dem Ergebnis eine andere Einschätzung, aber ich finde es gut, dass Ihre Regierung da an den Start gegangen ist.

Die Quedlinburger Ereignisse waren nur möglich, meine Damen und Herren, weil Migrantinnen und Migranten seit der Verabschiedung des Aufnahmegesetzes von 1991 fast ausschließlich zentral untergebracht wurden. Diese Unterbringung entsprach mangels schnell verfügbarer Flächen einer gewissen Notwendigkeit einerseits, andererseits entsprang sie dem Gedanken, den Aufenthalt von Flüchtlingen nicht über die Maßen angenehm zu gestalten, um keinen Anreiz für ein langes Verweilen im Asylverfahren zu setzen.

Das Gesetz ist heute verschwunden, die zentrale Unterbringung aber ist bis heute trotz ausreichenden Wohnraums für alle Realität. Die damit verbundenen Probleme für die hier lebenden Flüchtlinge, wie Unterbringung fernab städtischer Regionen in Möhlau oder Harpke, grausige hygienische Zustände wie in Bernburg

(Zuruf von Herrn Kolze, CDU)

und der Umstand, dass zentrale Unterkünfte offenbar auch mit Gewinnerzielungsabsicht und damit zulasten der dort lebenden Menschen betrieben werden, stellt ein großes Problem in diesem Land dar.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und der LIN- KEN - Zuruf von der CDU: Da sind wir der- selben Ansicht!)

Die Kasernierung, Herr Leimbach, von mehr als 2 000 Menschen in zentralen und häufig ungeeigneten Unterkünften

(Zuruf von Herrn Leimbach, CDU)

muss ebenso ein Ende haben wie die rassistische Praxis der Residenzpflicht, die bundesweit aufgehoben wird.

(Zustimmung bei den GRÜNEN - Herr Kol- ze, CDU: Das ist eine Unverschämtheit, Herr Striegel, was Sie hier sagen! - Herr Leim- bach, CDU: Rassistische Praxis, ja! - Herr Geisthardt, CDU: Das ist Rassismus pur, was Sie hier betreiben!)

Hierin wissen wir uns übrigens mit der Integrationsbeauftragten des Landes Sachsen-Anhalt einig.

Sachsen-Anhalts Weg in eine Gesellschaft ohne Rassismus ist noch weit. Ja, eine Gesellschaft ohne Rassismus erscheint bisweilen utopisch.