Protocol of the Session on November 10, 2011

Doch zurück zu den Strukturfonds. Wie es aussieht, dürfen wir davon ausgehen, dass die Region Halle nicht, wie ursprünglich zu befürchten war, in der kommenden Förderperiode mit 30 % der bisherigen Förderung auskommen muss, sondern dass sie in das Sicherheitsnetz fällt und damit wie das nördliche Sachsen-Anhalt einen Kofinanzierungssatz von 75 % erhält.

(Zustimmung bei der SPD)

Sachsen-Anhalt steht somit als einheitliches Fördergebiet da. Das war unser Ziel und das sieht nach längerem Hin und Her jetzt auch der Vorschlag der Kommission vor. Wir freuen uns darüber und hoffen auf die Zustimmung, die Rat und Parlament noch geben müssen.

Allerdings ist noch keine ungeteilte Freude angesagt. Die Europäische Kommission beansprucht umfangreichere Entscheidungs- und Durchgriffsbefugnisse als bisher. Diese würden die Gestaltungsspielräume der Regionen ganz erheblich begrenzen und einen spürbaren Aufwuchs an Bürokratie mit sich bringen. Außerdem entsprechen die Vorgaben nicht dem Grundprinzip der Subsidiarität.

Die Ziele der europäischen Kohäsionspolitik, so heißt es, sollen sich in der Förderperiode 2014 bis 2020 vorrangig an der sogenannten EU-2020-Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum orientieren. Das klingt harmlos und entspricht grundsätzlich auch unseren Zielen. Teils decken sich diese Ziele der Europäischen Union mit unseren, teils behindern sie aber unsere eigenen Zielstellungen an bestimmten Punkten. Die Materie ist, um es schön zu umschreiben, hochgradig komplex. Ich will das nicht näher erläutern, doch ich will einige Felder kurz streifen, damit die Problematik sichtbar wird.

Eines der wesentlichen Merkmale der Verordnungsentwürfe ist die sogenannte thematische Konzentration. Zum Beispiel sieht die Kommission vor, dass Sachsen-Anhalt beim EFRE künftig 60 % der Mittel für drei Themenbereiche reservieren muss, für Energieeffizient und erneuerbare Energien, für Forschung und Entwicklung/Innovation und für die Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen.

Einzelne Förderbereiche werden neu zugeschnitten. Das hieße für den Bereich Verkehr, dass eine Förderung wegen höchst strenger Vorgaben einer umweltfreundlicheren Gestaltung nur noch für einen kleinen Bereich möglich sein wird. So verständlich die Orientierung an Umweltzielen im Bereich Verkehr ist, den Aufholbedarf bei der Verkehrsinfrastrukturausstattung könnte man in dem Korsett, das die EU-Verordnungen derzeit vorgeben, jedoch nicht mehr systematisch mit EUMitteln kofinanzieren.

(Hört, hört! bei der CDU)

Nach unserer Analyse könnte ab 2014 weder eine Förderung des Landesstraßenbaus noch eine Förderung des kommunalen Straßenbaus erfolgen.

Auch Großunternehmen werden - bis auf die Innovationsförderung - nach den derzeitigen EU-Verordnungsentwürfen wohl nicht mehr förderfähig sein. Wir wissen aber: Sachsen-Anhalt ist ein Industrieland und muss ein wettbewerbsfähiges Industrieland bleiben. Sachsen-Anhalt hat nur eine Zukunft als Industrieland. Deshalb bleibt die Schließung der Lücke bei den Industriearbeitsplätzen ein vorrangiges Ziel.

Unabhängig davon wird aber durch die Vorgaben der EU deutlich, wohin die Reise geht. Innovationsfähigkeit wird immer mehr eine Grundvoraussetzung für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolg. Diesbezüglich wollen wir uns dem Wettbewerb stellen. Sachsen-Anhalt soll ein Land der Innovationen werden. Nur so können wir Märkte gewinnen. Deshalb verbinden wir Wirtschaft und Wissenschaft noch enger miteinander und werden auch das Instrument der Förderpolitik weiter schärfen.

Widersprüchlich sind die Signale der Europäischen Kommission zur Förderung der Stadtentwicklung. Einerseits sieht die EU zur Förderung der nachhaltigen Stadtentwicklung ein Stadtentwicklungsforum vor, um den Kapazitätsaufbau und die Vernetzung zwischen Städten sowie den Erfahrungsaustausch über Stadtpolitik auf der europäischen Ebene zu fördern. Hierfür soll im Rahmen der jeweiligen Partnerschaftsvereinbarung auf der Ebene der Mitgliedstaaten eine Liste von maximal 20 Städten pro Mitgliedstaat aufgestellt werden. Zugleich werden die für die Stadtentwicklung wichtigen Förderbereiche ausgedünnt.

Der Begriff der städtischen Dimension, der in der laufenden Förderperiode noch großgeschrieben wurde, wird durch „nachhaltige Stadtentwicklung“ ersetzt, und wir müssen sehen, was künftig mit EU-Mitteln in diesem Bereich noch möglich sein wird. Im Vergleich zur IBA Sachsen-Anhalt, in der wir bewusst kleine wie große Städte beteiligt und Maßnahmen in die Hände der Städte gelegt haben, scheint Brüssel nun ein mehr zentralistisches Konzept vorzuschweben.

Schließlich: Zwischen den eingeforderten, auf Landesebene zu erstellenden operationellen Programmen einerseits und auf der Grundlage eines gemeinsamen strategischen Rahmens - GSR - geplanten Partnerschaftsverträgen andererseits, die den bisherigen nationalen strategischen Rahmenplan ablösen sollen, gibt es Anforderungen, Fristsetzungen und zeitliche Verschränkungen zwischen Aufgaben, deren Erfüllung schlicht und einfach nicht einlösbar ist.

Meine Damen und Herren! Wir werden sowohl im Bundesrat als auch direkt in Brüssel nachdrücklich darauf aufmerksam machen, dass die Entwürfe noch wesentlich nachgebessert werden müssen. Wir müssen darauf achten, dass die nötige Flexibilität erhalten bleibt, die wir brauchen, um integrierte regionale Entwicklungsstrategien auf den Weg zu bringen. Es geht schließlich darum, den konkreten Bedingungen vor Ort gerecht zu werden, dort einen Beitrag zur Erhöhung des Wirtschaftswachstums und der Beschäftigung zu leisten und nicht nur zentrale Vorgaben zu erfüllen, und da kennen wir selbst die Bedingungen am besten.

Wir stehen hierzu mit der EU-Kommission bereits in Kontakt und streben Bundesratsanträge zu den Verordnungsentwürfen an. In diesen Anträgen werden wir eine Vielzahl von Änderungsforderungen aufnehmen. Sachsen-Anhalt ist gemeinsam mit Nordrhein-Westfalen Berichterstatter und kann sich so prägend in den Prozess einbringen. Des Weiteren ist Staatssekretär Dr. Schneider Berichterstatter im Ausschuss der Regionen zur EFREVerordnung.

Es ist deshalb wichtig, dass wir alle, Exekutive und Legislative, uns in diesem Prozess nicht in Diskussionen über unausgegorene Planungsstrategien verlieren. Gleichwohl wollen wir aber auch den Landtag nicht erst dann beteiligen, wenn alles schon mehr oder weniger festgezurrt ist. Die Regierung wird den Landtag über die zuständigen Ausschüsse regelmäßig über den Fortgang des sogenannten Programmierungsprozesses informieren und dabei einbeziehen.

Für Anfang 2012 planen wir die Ausschreibungen zur wissenschaftlichen Begleitung und Beratung des Programmierungsprozesses als Zwischenschritt zur gemeinsamen Strategieentwicklung und Findung des richtigen Förderschwerpunktes.

Natürlich stellt sich die Frage, warum sich der EUProzess derart kompliziert und manchmal unerquicklich gestaltet. Die EU hat oft Probleme vor Augen, die in vielen anderen Regionen herrschen, aber eben nicht in Sachsen-Anhalt. Um nur zwei Beispiele zu nennen:

Manche Regionen Europas haben den wirtschaftlichen Strukturwandel weg von großen Industrien der Vergangenheit noch vor sich, während wir in Sachsen-Anhalt in den letzten 20 Jahren unsere

Wirtschaft fast komplett neu erfunden und einen erfolgreichen Reindustrialisierungsprozess in Gang gesetzt haben.

In der für uns wichtigen Landwirtschaft hat die EUKommission immer mehr die Situation in den Beitrittsländern vor Augen, in denen landwirtschaftliche Kleinstbetriebe teilweise noch eine wichtige Rolle für die Ernährung der lokalen Bevölkerung spielen, während die Landwirtschaft in SachsenAnhalt eine völlig andere Entwicklung genommen hat und Qualitätslebensmittel für den internationalen Markt meist von recht großen Betrieben erzeugt werden.

Diese Beispiele unterstreichen: Sachsen-Anhalt ist in Europa inzwischen gut aufgestellt. In der kommenden Förderperiode bietet sich uns eine große Chance. Wir müssen die uns dann zur Verfügung stehende Förderung nutzen, um den entscheidenden Schritt hin zu innovativen, wettbewerbsfähigen und eigenständigen Strukturen zu tun. Nur so können wir auf Augenhöhe mit den wirtschaftlich starken Regionen der Europäischen Union gelangen. Eine fein abgestimmte und auf das Profil der unterschiedlichen europäischen Regionen abgestimmte EU-Förderung kann dabei helfen.

Verordnungen müssen sich durch allgemeine Verbindlichkeit in Europa auszeichnen. Sie sollen zwar, können aber nicht für alle Bedingungen in Europa gleichermaßen passen. Deshalb müssen sie ausreichend flexibel bleiben.

Auch hierzu soll ein Beispiel genügen: Bei der demografischen Entwicklung sind die zukünftigen Probleme Europas in Sachsen-Anhalt und in den anderen neuen Ländern stärker spürbar als anderswo. Sachsen-Anhalt ist im europäischen Vergleich eine der am stärksten von Bevölkerungsverlust und Alterungsprozessen und damit Verlust an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit betroffenen Regionen. Das müssen wir bei der Programmierung berücksichtigen können.

Oder: In südeuropäischen Ländern liegt die Jugendarbeitslosenquote weit über der hierzulande. - Aber zur Berücksichtigung dieser demografischen Besonderheiten Sachsen-Anhalts geben die Verordnungsentwürfe derzeit leider nichts her. Es ist also noch viel tun und die Zeit drängt. Denn die Entwicklung der nächsten Monate berührt den Kern unserer politischen Zielstellungen.

In meiner Regierungserklärung im Mai 2011 habe ich gesagt:

„Es geht um die Herausbildung einer innovativen Wirtschaftsstruktur. Nur eine starke Wirtschaft schafft Arbeitsplätze, Wohlstand und soziale Sicherheit. Wir wollen, dass Sachsen-Anhalt ein modernes, von innovativer Wirtschaft geprägtes Land wird. Daran wird sich auch die zukünftige Förderpolitik ausrichten.“

Ich sage heute: Wir müssen weg - nicht von der Vielfalt, wohl aber von der einseitigen Kleinteiligkeit. Wir benötigen einen höheren Anteil an Großunternehmen, um die durch kleine und mittlere Unternehmen dominierte Wirtschafsstruktur zu ergänzen und insbesondere mehr Forschung und Entwicklung im Land stattfinden zu lassen.

Ich betone es wieder und wieder: Wir orientieren uns bei allen Überlegungen an den Leitbranchen, an echter Clusterbildung und an der Förderung von Wachstumskernen. Das hohe Gewicht, das die EU auf Innovation legt, unterstützen wir deshalb ausdrücklich.

Um zu verdeutlichen, was ich meine: Wir haben viele vorzügliche mittelständische Betriebe bei den Automobilzulieferern. Die Märkte globalisieren sich weiter und wachsen. Sie verlangen nach Stückzahlen, die ein mittelständisches Unternehmen nicht liefern kann, unabhängig von seiner Tüchtigkeit.

Unsere Betriebe müssen vor allem in den Leitbranchen mitwachsen können, und zwar aus eigener Kraft. Das heißt, sie müssen genug erwirtschaften können, um diesen Prozess zu bestehen und zu gestalten. Dazu gehört, dass wir innovative und ertragreiche sowie gut bezahlte Arbeitsplätze schaffen. Denn nur dann werden wir auch die qualifizierten Kräfte halten bzw. zurückholen. Nur dann werden wir den demografischen Wandel bewältigen. Nur dann werden wir auch die dazugehörige Ausbildungs- und Forschungslandschaft weiter entwickeln können.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Kreis schließt sich. Der Faden knüpft an meine Eingangsbemerkungen an. Wir setzen unsere Linie fort, wie wir sie im Koalitionsvertrag festgelegt haben.

Die nächsten Jahre sind entscheidend für viele Jahrzehnte, denn die Zeit der Hilfe durch Fördergelder geht unweigerlich zu Ende. Jetzt müssen wir das Richtige tun. Das Richtige, das ist die konsequente und beharrliche Fortsetzung zur Vollendung unserer Schwerpunktsetzung. Mit den Mitteln der nächsten Jahre müssen wir Lücken schließen, ergänzen, was wir begonnen haben, und Ecksteine setzen. Danach wird vieles nicht mehr möglich sein.

Wir - damit meine ich diese Koalition - wollen das schaffen. Ich will, dass sich Vision und politisches Handeln decken, und ich bitte Sie, verehrte Abgeordnete, um Ihre Unterstützung im Interesse des Landes Sachsen-Anhalt. Wenn es uns gelingt, hat Sachsen-Anhalt eine gute, wenn nicht gar sehr gute Zukunft, und zwar in und durch Europa. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU und bei der SPD)

Vielen Dank, Herr Ministerpräsident.

Wir treten nunmehr in den Tagesordnungspunkt 1 b ein:

Aussprache zur Regierungserklärung

Für die Aussprache ist die folgende Reihenfolge vereinbart worden: DIE LINKE, SPD, GRÜNE und CDU. Als Erster nimmt der Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE Herr Abgeordneter Gallert das Wort.

Werter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute eine Regierungserklärung auf der Tagesordnung, die in Ihrer Überschrift mit den bedeutungsschweren Worten beginnt: „Europa gemeinsam gestalten“.

Ich glaube, es gibt kaum einen Zeitpunkt, an dem eine solche Regierungserklärung richtiger auf der Tagesordnung gestanden hätte als heute.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Von jedem Taxifahrer, mit dem man sich unterhält, hört man eine eigene wirtschaftspolitische Theorie über Europa und Griechenland, über die Perspektiven von öffentlicher Verschuldung, über das Wirtschaftswachstum und die sozialen Standards. Es gab in den letzten 20 Jahren kaum eine Zeit, in der hier im Land Sachsen-Anhalt in der Bevölkerung so intensiv über diese Fragen diskutiert wurde wie heute.

Insofern fand ich es durchaus einen gelungenen Schachzug von Ihnen, Herr Ministerpräsident, eine solche Regierungserklärung mit dem Titel „Europa gemeinsam gestalten“ auf die Tagesordnung zu setzen. Seitdem ich gestern Ihre Regierungserklärung gelesen habe, die Sie heute genau so verlesen haben, grübele ich allerdings über die Frage, was eigentlich gemeint war.

Das, was Sie uns gegeben haben, Herr Ministerpräsident, ist aktueller Zwischenstand zur Vorstrukturierung der nächsten Förderperiode der Europäischen Union aus der Sicht des Landes Sachsen-Anhalt - ein aktueller Zwischenstand, nicht mehr und nicht weniger.

Lieber Herr Haseloff, diese Diskussion hätten wir gerne im Kontext einer Selbstbefassung im Europaausschuss ermöglicht. Eine Regierungserklärung wäre dafür nicht nötig gewesen.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜ- NEN)

Es gab in diesem Hohen Hause oftmals sprachliche Vergleiche mit der Schifffahrt. Die waren in der Vergangenheit nicht immer gelungen - ich kann mich an ein oder zwei Dinge erinnern -, aber an dieser Stelle drängt es sich auf.

Wir haben das Gefühl und sehen das große Schiff EU mit Volldampf auf einen Eisberg zufahren und

reden heute über die Größe der Kabinen und wer sie bekommen soll. Das ist nicht das Thema. Das Thema sind folgende Fragen: Welche politischen, sozialen Grundlagen hat die Europäische Union in den nächsten Jahren und wie sind wir in der Lage, sie aus der Krise herauszuführen? - Das muss heute in diesem Landtag Thema sein.