Herzlichen Dank, Herr Staatsminister, für Ihren Beitrag. - Jetzt erteile ich dem Abgeordneten Herrn Miesterfeldt das Wort. Sie haben das Wort, Herr Miesterfeldt. Bitte schön.
Der Kollege Tilman Tögel und ich waren im Spätherbst 1989 an der Räumung der Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit in Stendal beteiligt.
Nie vorher und nie wieder nachher habe ich so stark empfunden wie an diesem Abend: Wir da unten haben es denen da oben gezeigt.
Im Laufe des nächsten Jahres gehörten wir mittels und dank demokratischer Wahlen selbst zu „denen da oben.“ Jetzt hörten wir die Fragen: Kann man denen da oben trauen? Wissen die, wie wir hier unten leben? Interessieren die sich für uns?
Was ist Vertrauen? - Vom sprachlichen Ursprung her hat es viel mit Glauben und Treue zu tun. Das heißt, ich setze auf etwas, an das ich glaube und an das ich mich binde. Zu einfach, zu wenig politisch? - Ich glaube, nicht.
Was mindert, hindert oder zerstört Vertrauen - zu wenig Polizisten, zu wenig Lehrer, zu wenig Staat, zu wenig Grenzen? - Dann hätte das Vertrauen in den real existierenden Sozialismus der DDR grenzenlos sein müssen; denn davon gab es wahrlich genug.
Trotzdem war mein Vertrauen in dieses System spätestens seit den Morgenstunden des 21. August 1968 erloschen.
Die Antworten damals auf diese Frage waren eher: Die haben das nicht im Griff. Die bauen auf Sand. Das hat keine Zukunft. Die sehen der Wirklichkeit nicht ins Auge, sondern leben von Illusionen. Ich soll manipuliert werden.
Wie sieht die Wirklichkeit hier und heute aus? - Wir leben in einer mit hoher Geschwindigkeit immer komplexer werdenden Welt. Ganz am Ende seiner Lebenszeit hat Helmut Schmidt einmal ausgeführt bzw. die Befürchtung geäußert, dass die neuen Kommunikationsmöglichkeiten eine Krise der Demokratie auslösen könnten. Wieso? - Sie zeigen uns in einer großen Welt unser kleines Leben. Dabei scheint diese große Welt aber immer kleiner zu werden. Sie stellen uns in neue Freiheiten, vor denen einem aber auch angst und bange werden kann. In einer deutschen Tageszeitung ist heute zu lesen: Die Vernetzung entwickelt sich zur Verhetzung.
Und dann noch die Flüchtlinge. Wir waren doch mit einem sonntagabendlichen „Weltspiegel“ vollauf zufrieden. Das eingenähte Schild meines Anoraks „Made in was weiß ich wo“ muss sich Mann bzw. Frau sicherlich nicht unbedingt anschauen.
Als ich 1989 an einem kalten Wintertag das erste Mal über den Ku’damm ging und im Schaufenster eine Uhr für 10 000 D-Mark liegen sah, war plötzlich wie aus heiterem Himmel die Frage in mir: Wann werden die Armen der Welt kommen und sich das holen?
Gregor Gysi hat es kürzlich so formuliert: „Wir leben auf Kosten der Dritten Welt und wundern uns, wenn das Elend anklopft.“ Wer lebt auf wessen Kosten? - Diese Frage muss neu gestellt und neu beantwortet werden, und das nicht nur international und weltpolitisch, sondern auch in unserem eigenen Land.
Bei meiner letzten Bürgersprechstunde besuchte mich ein Pegida-bewegter Versicherungsmakler. Zumindest sagte er, dass das sein Beruf sei. Fazit des Gesprächs: Ich solle dafür sorgen, dass sein Leben sicherer wird oder wenigstens sicher bleibt. Ich wurde an meine Zeit als Pastor erinnert.
Bei Carsten aus Hannover liest sich das im Netz so: „Wir sind das Volk und wir haben ein Recht auf Selbstverteidigung und Selbstbestimmung.“ Auch in einem demokratischen Rechtsstaat leben angstbewegte Menschen. Sie sehnen sich nach Sicherheit, vielleicht sogar nach Geborgenheit. Diese Grunderkenntnis sollte Politikern, Berufspolitikern nicht verloren gehen.
Unfassbares, Neues, Fremdes erzeugt Angst. Die Ideologien und Ideologen dieser Welt spielen mit diesen Ängsten. Die Demokratinnen und Demokraten sollten Wege zur Überwindung der Ängste aufzeigen.
Dabei sollte dem einzelnen Demokraten bewusst sein, dass es eine letzte Sicherheit und damit die Überwindung aller Ängste nicht geben wird. Er sollte auch nicht so tun. Täte es mein Arzt, nähme ich es ihm übel.
Natürlich lebt die Demokratie von den wirtschaftlichen und insbesondere sozialen Zuständen der Gesellschaft. Vor vielen Jahren sah ich in einem Fernsehinterview Helmut Schmidt auf die Frage antworten, welcher Nation er am ehesten zutraue, bei einem schwierigen wirtschaftlichen Zustand demokratisch zu bleiben. Er zögerte und sagt dann sehr leise: Wohl am ehesten den Briten.
Aber nicht nur diese Herausforderungen bewegen Sachsen-Anhalt, Deutschland und Europa. Es sind auch Fragen der Weltanschauung. In einem Land mit - bei freundlichster Betrachtung - 20 % religiös gebundenen oder geprägten Menschen wird die weltanschauliche Frage nach dem Islam zur Gretchenfrage.
Gewählte Lebensformen und die Zahl zu zeugender Kinder werden heiß debattiert. Gutmensch wird zum Schimpfwort. Sie müssten möglichst entlarvt werden.
Im linken Lager - das meine ich jetzt nicht auf dieses Haus bezogen, sondern auf das gesellschaftspolitische linke Lager - werden das Neue, der Fortschritt beinahe vergötzt. Im rechten Lager berauscht man sich an der Norm des Eigenen. Wo bleibt die Mitte? Was bleibt in der Mitte? Wo treibt die Mitte hin?
Demokratische Politik ist eine Politik der Verständigung. Dazu müssen alle Fakten auf den Tisch. Das lernen wir gerade gegenwärtig sehr intensiv. Miriam Meckel, die Chefredakteurin der „Wirtschaftswoche“ schrieb zu Recht: „Verschweigen geht nicht.“
Demokratie ist und bleibt eine Denkaufgabe. Demokratie geht davon aus, dass Menschen bereit sind, sich aufklären zu lassen. Demokratie ist nichts für Denkfaule und Träge.
Zum Denken gehören aber auch der Irrtum und das Eingeständnis von Unzulänglichkeiten. Der Satz „Politiker sind auch nur Menschen“ ist eben nicht nur eine Floskel, sondern eine Beschreibung der Realität.
Lust an der Pluralität. In der Demokratie ist es weder eine Schande noch Verrat, manche Fragen nicht beantworten zu können.
Ich greife eine einzige provokative Frage auf, die mir in dieser Woche ein Arzt gestellt hat: Warum kommen aus einigen Krisengebieten junge Menschen zu uns, statt in ihrer Heimat um ihre Freiheit zu kämpfen, und wir schicken unsere Menschen als Soldaten dorthin?
- Richtig. - Die Aufbruchstimmung der friedlichen Revolution ließ sich, wie zu allen anderen Zeiten, natürlich nicht konservieren. Um es mit Mark Aurel zu sagen: Es ist jetzt die Zeit der inneren Gelassenheit und Pflichterfüllung.
Im Aufeinandertreffen der unterschiedlichen Interessen in unserer Gesellschaft hat der Staat die Aufgabe eines Mediators, nämlich auszugleichen und zu vermitteln. Die politische Elite muss den Dreiklang des Bewahrens, des Gestaltens und des Reformierens hinbekommen.
Max Weber zeichnete das Bild vom leidenschaftlichen, verantwortungsbewussten und mit Augenmaß handelnden Politiker. Für das Machbare den Kompromiss finden, ohne die sittlichen Gesetze zu verletzen - so kann man es bei Helmut Schmidt lesen. Richtig ist auch der Satz: Der Staat muss funktionieren.
Ich erlaube mir am Ende meines letzten Redebeitrags in diesem Hohen Hause, ein hochaktuelles Wort aus dem 3. Buch Mose, Kapitel 19 zu zitieren. Dieses Buch heißt Leviticus. Daher kommt die Redensart, dass man sich die Leviten liest. Das will ich jetzt aber nicht tun.
„Der Fremdling soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland.“
Seit meinem zwölften Lebensjahr - das war 1966 - verfolgte ich mittels eines sogenannten Volksempfängers im Deutschlandfunk die Debatten des Deutschen Bundestages. Der Junge damals träumte auch davon, vielleicht in einem frei gewählten Parlament reden und debattieren zu dürfen.
Ich höre als Parlamentarier auf. Ich bleibe in der Politik. Ich danke Ihnen, dass Sie mir in den vergangenen zehn Jahren und heute zugehört haben. - Vielen Dank.
Lieber Gerhard Miesterfeldt, herzlichen Dank für Ihren Beitrag und vor allen Dingen auch für die letzten Worte. Ich finde es wunderbar, dass gerade junge Menschen, nämlich Stipendiatinnen und Stipendiaten der Konrad-Adenauer-Stiftung aus Halle, die auf der Tribüne sitzen, genau das gehört haben. Nehmen Sie sich ein Beispiel daran. Herzlichen Dank, lieber Gerd.