Protocol of the Session on October 6, 2011

(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)

Ja, die Justiz ist nicht nur für das Bestrafen und für den Strafvollzug zuständig, sondern eben auch für die Resozialisierung. Frau Dalbert, darüber reden wir nicht nur. Das machen wir tagtäglich. Unsere Mitarbeiter des Sozialen Dienstes, aber eben auch viele Ehrenamtliche in Vereinen der freiwilligen Straffälligenhilfe sind vor Ort aktiv und unterstützen bei kleinen Dingen des alltäglichen Lebens, um eine Resozialisierung ganz praktisch zu ermöglichen.

Darüber reden wir nicht viel, vor allem nicht in der Presse. Das sind viele Dinge, die auch etwas mit Diskretion zu tun haben.

(Zustimmung bei der SPD)

Es sind Angelegenheiten, bei denen man ganz sensibel vorgehen muss und bei denen in vielen

Fällen die Betroffenen auch geschützt werden müssen.

(Zustimmung von Frau Niestädt, SPD)

Wir machen zunehmend die Erfahrung - das sage ich an dieser Stelle auch -, dass es nicht nur bei Sicherungsverwahrten schwierig ist, ein Umfeld zu finden, in dem sie Aufnahme finden.

Ich stelle in ganz vielen verschiedenen Bereichen - auch außerhalb des Strafvollzugs - fest, dass die Toleranz der Gesellschaft abnimmt und man bemüht ist, im Umfeld angebliche Probleme zu vermeiden, anstatt gemeinsam nach einer Lösung zu suchen, um gemeinsam bestehende Ängste abzubauen und ein Klima des Vertrauens und der Integration zu schaffen.

(Zustimmung bei der SPD)

Ich möchte noch einmal aufgreifen, was Herr Dr. Brachmann gesagt hat: Natürlich hat die Politik in der Vergangenheit auch Fehler gemacht. Wenn man sich allein die Zahl der Sicherungsverwahrten anschaut - 1990 waren es 180, 2010 waren es schon über 520. In zehn Jahren haben wir sechs Mal die rechtlichen Grundlagen der Sicherungsverwahrung verändert. Es ist ein Flickenteppich entstanden, der noch nicht einmal von Experten zu durchschauen war. Wir haben mit diesem Handeln natürlich auch den Eindruck erweckt, eine Lösung des Problems könnte das Einsperren sein.

Es ist schon fatal, dass uns dann der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sagen musste, dass das keine Lösung ist, sondern jeder ein Recht auf Resozialisierung hat, und dass das auch dann gilt, wenn Straftäter schwere und schwerste Gewaltverbrechen begangen haben. Ich bin froh, dass es jetzt hier ein Umdenken gibt und wir die notwendigen Dinge auch ganz praktisch in Angriff nehmen.

Herr Borgwardt, ich möchte Ihnen an einer Stelle widersprechen: Wir lassen die Strafgefangenen eben nicht einfach auf die Gesellschaft los. Wir haben in den letzten Monaten ein umfassendes rechtliches Instrumentarium geschaffen - auch ausgehend von der differenzierten Einschätzung, ob denn von den Betreffenden tatsächlich noch Gefahren ausgehen -; denn es gibt mittlerweile eine Vielzahl von Gutachten und Experten, die einschätzen, dass eben nicht alle Sicherungsverwahrten wirklich gefährlich sind und neuerlich Straftaten verüben, sondern in Sicherungsverwahrung eben auch Menschen untergebracht sind, die eigentlich nicht dorthin gehören.

Wir haben mit dem Therapieunterbringungsgesetz, wozu dieses Hohe Haus vor wenigen Monaten ein Ausführungsgesetz beschlossen hat, ein umfassendes rechtliches Instrumentarium geschaffen, um diesen Konflikt zwischen dem Sicherheitsinteresse der Bürgerinnen und Bürger auf der ei

nen Seite und der Gewährleistung der Menschenwürde auf der anderen Seite, den wir natürlich lösen müssen, möglichst gut austarieren zu können.

Für diejenigen, die nach wie vor gefährlich sind, die eine psychische Störung haben, gibt es jetzt die Möglichkeit der Sicherungsunterbringung, und es gibt ein engmaschiges Netz der Betreuung, aber auch der Kontrolle im Rahmen der Führungsaufsicht. Aber auch hierzu muss man immer wieder sagen: Führungsaufsicht darf nur dort ansetzen, wo bestimmte Sicherheitsmaßnahmen notwendig sind. Sie kann nicht die Menschenwürde einschränken. Auch diejenigen, die einer Führungsaufsicht unterliegen, sind freie Menschen. Diese Menschenwürde muss ihnen im alltäglichen Leben zugestanden werden, und dazu gehört eben auch, dass sie selbst entscheiden können, wo sie leben möchten.

(Zustimmung bei der SPD und bei der LIN- KEN)

Das heißt, Resozialisierung kann eben nicht nur durch staatliche Behörden verordnet und vorgegeben werden, sondern wir brauchen ein gesellschaftliches Umfeld, das auch ehemals Sicherungsverwahrten die Chance der Integration bietet. Die große Frage, vor der wir alle stehen, ist, wie wir das konkret realisieren können. Wir nehmen natürlich die Ängste der Bürgerinnen und Bürger ernst, und wir müssen in Zukunft vielleicht auch noch intensiver mit den Bürgerinnen und Bürgern reden. Wir werden oft nicht wahrgenommen.

Wir haben immer gesagt: Die beiden aus der Sicherungsverwahrung Entlassenen in Insel sind nicht mehr gefährlich. Sie sind seit mehr als einem Jahr in Freiheit. Sie haben sich an alle Auflagen gehalten. Sie sind kooperativ. - Das war der Grund dafür, dass sie eben nicht mehr einer Gefährdungsstufe unterliegen.

Angesichts der Emotionen dringen wir mit diesen sachlichen Informationen aber nur ganz schwer durch. Ich kann Ihnen versichern: Alle staatlichen Behörden - das gilt für die Polizei genauso wie für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Sozialen Dienstes - nehmen diese Sorgen und Ängste ernst. Wir tun wirklich alles, um die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten.

An dieser Stelle möchte ich mich ausdrücklich bei all denen bedanken, die uns bei dieser nicht immer ganz leichten Arbeit unterstützen, was im Einzelfall durchaus sehr mühsam ist.

(Zustimmung bei der SPD, bei der CDU, bei der LINKEN und von der Regierungsbank)

Dem Justizministerium ist immer wieder vorgeworfen worden, dass wir nicht rechtzeitig informiert haben, dass in Insel zwei aus der Sicherungsverwahrung Entlassene ihren Wohnsitz nehmen

möchten. Ich glaube, dieser Vorwurf geht von einer falschen Prämisse aus,

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

von der Prämisse, man hätte dadurch eine andere Situation erreichen können. Wir haben vor Ort unsere Arbeit gemacht. Wir standen - alle beteiligten Behörden, dabei schließe ich also ausdrücklich die Kollegen von der Polizei ein - immer im engen Kontakt mit allen Beteiligten. Es ist gelungen, vor Ort tatsächlich auch so etwas wie eine Vertrauenssituation mit den beiden Betroffenen zu erreichen. Es zeigen auch Beispiele in anderen Ländern, in denen es genau diese Information gegeben hat, dass es nicht zu einer anderen Situation geführt hat. Da gab es von Anfang an Proteste. Schaut man sich an, was die Konsequenzen in anderen Bundesländern waren, stellt man fest: Ein Wegzug war meist damit verbunden, dass die Betroffenen wieder den Schutz der Justiz gesucht haben.

Sie haben wahrscheinlich im aktuellen „Spiegel“ den Artikel gelesen. Die Person, von der dort die Rede ist, war nicht einmal in Sicherungsverwahrung untergebracht, sondern ist aus der Strafhaft entlassen worden. Er ist freiwillig in die Sozialtherapie zurückgegangen und sagt selbst: Das ist besser als die Freiheit. - Ich glaube, es kann keine Lösung sein, dass aus der Haft Entlassene den Schutz der Justiz suchen, um sich sicher zu fühlen.

(Zustimmung bei der SPD und bei der LIN- KEN)

Wir haben unsere Aufgaben vor Ort wahrgenommen. Es gibt also keinen Grund, denjenigen, die aktiv vor Ort für eine Resozialisierung gearbeitet haben, einen Vorwurf zu machen. Die Eskalation ist in dem Moment entstanden, in dem öffentlich wurde, dass es zwei aus der Sicherungsverwahrung Entlassene in Insel gibt. Der Ortsteilbürgermeister hat sofort versprochen, dafür zu sorgen, dass die beiden das Dorf wieder verlassen müssen. Er hat dabei einen mehr als fragwürdigen Sprachgebrauch verwendet, und es gab von Anfang an nur eine Forderung und damit nur die eine Lösung: Die beiden müssen weg. - Angeblich sei ein Dorf nicht geeignet für die Resozialisierung. Warum eigentlich nicht?

Das, was in den Medien weniger zum Ausdruck kommt, ist die andere Seite. Es gab durchaus auch Unterstützung von Nachbarn, Nachbarn, die die beiden zum Fernsehen eingeladen und mit ihnen gemeinsam gegrillt haben, mit ihnen einkaufen gegangen sind und ihnen einfach zugehört haben. Jedoch haben sie sich inzwischen gar nicht mehr getraut zu zeigen, dass sie das tun, weil sie nämlich Angst haben, dass sie in Konfrontation mit denjenigen geraten, die dreimal die Woche vor dem Haus mit der alleinigen Forderung demonstriert hatten.

Deshalb war das auch eine Ausgangssituation, in der eine Moderation gar nicht möglich war. Eine Moderation, eine Mediation setzt ja immer voraus, dass man irgendwo bereit ist, von seiner Position abzugehen und tatsächlich eine Lösung zu suchen, die vielleicht irgendwo in der Mitte liegt. Dort, wo es nur eine Forderung gibt, sehe ich jedenfalls keine Ansatzpunkte, durch eine Moderation zu einer Lösung zu kommen.

(Zustimmung bei der SPD und bei der CDU - Zuruf von der Regierungsbank: Genau so ist es!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Resozialisierung erfordert ein Miteinander von Staat und Gesellschaft. Die beiden Männer in Insel hatten ursprünglich das Glück, sich auf die Unterstützung eines Mannes verlassen zu dürfen, der aus seiner christlich-humanistischen Grundhaltung heraus helfen wollte. Dies hat er mit großem Engagement, mit einem Aufwand an Zeit, nicht zuletzt auch an Geld getan. Es schien eine aussichtsreiche Perspektive für einen Neuanfang zu geben. Diese Tür ist jetzt zugeschlagen.

Wir nehmen die Vorbehalte und Ängste der Bürgerinnen und Bürger ernst, aber wir müssen auch immer wieder betonen, dass die Gesellschaft insgesamt eine Verpflichtung hat, die rechtsstaatlichen Möglichkeiten nicht nur zu akzeptieren, sondern auch umzusetzen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es muss auch immer wieder betont werden, dass es keine rechtsstaatliche Möglichkeit gibt und auch nicht geben darf, den Willen einer Anzahl aufgebrachter Bürger über das Recht zu stellen.

(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN - Zustimmung bei den GRÜNEN)

Erst recht dürfen wir niemals Rechtsradikalen den Steigbügel halten und ihnen eine passende Gelegenheit verschaffen, die Situation für eigene, äußerst zweifelhafte Zwecke zu instrumentalisieren. Schon gar nicht darf es derjenige tun, der kraft seines Amtes öffentlich in der Verantwortung steht. Ich glaube, darüber sind wir uns alle einig.

(Zustimmung bei der SPD, bei der LINKEN, bei den GRÜNEN und von der Regierungs- bank)

Die Landesregierung wird also auch in Zukunft alles tun, um sich für Resozialisierung und auch für die Gestaltung eines Umfelds, das eine Resozialisierung möglich macht, einzusetzen. Wir werden dabei immer für eine sachliche Auseinandersetzung streiten. Wir werden mit den Bürgerinnen und Bürger reden, ihnen erklären, was wir tun und warum wir das tun und dass wir dafür eine ganz wichtige Grundlage in der Verfassung haben. Ich glaube, auch das müssen wir immer wieder betonen: dass wir uns hierbei auf dem Boden des Rechts

staates bewegen, den wir tagtäglich aufs Neue verteidigen müssen.

Es ist unser gemeinsames Anliegen, Ausgrenzungs- und Abschirmungsfantasien eine klare Absage zu erteilen. Deshalb dürfen wir es nicht zulassen - das habe ich heute hier auch als Ergebnis dieser Debatte mitgenommen -, dass Menschen aufgrund von Straftaten, die sie vor mehr als 30 Jahren begangen haben und für die sie ebenso lange die Folgen getragen haben, gesellschaftlich für immer disqualifiziert werden.

Deshalb bin ich froh über die gemeinsame Erklärung, die Haltung, die die Abgeordneten damit zum Ausdruck bringen. Sie geben damit auch ein ganz klares Signal nach draußen, an die Gesellschaft, dass wir unseren Rechtsstaat verteidigen, dass wir für ihn eintreten und dass wir auch ganz praktisch dafür eintreten, dass Resozialisierung möglich ist, auch in Orten wie Insel. - Vielen Dank.

(Zustimmung bei der SPD, bei der LINKEN und von der Regierungsbank)

Vielen Dank. Frau Ministerin, es gibt eine Anfrage. Möchten Sie sie beantworten?

Ja.

Ja. - Das Wort hat Frau Kollegin Dr. Paschke.

Frau Ministerin, in der „Volksstimme“ stand dieser Tage, dass man den Eindruck hatte, dass die beiden Ministerien - Justizministerium und Innenministerium - in dieser Frage wenig abgestimmt gearbeitet haben. Könnten Sie bitte an einigen Eckpunkten zeigen, wie die Art der Zusammenarbeit seitens der Landesregierung, insbesondere zwischen diesen beiden Ministerien, stattgefunden hat?

Wir sind in einem ganz intensiven Prozess der Zusammenarbeit vor Ort. Es gab schon, bevor die beiden nach Insel gezogen sind, eine sogenannte Fallkonferenz, wo alles vorbereitet worden ist, und es wird eigentlich tagtäglich zwischen Bewährungshilfe und Polizei abgestimmt, ausgehend von der Einschätzung der aktuellen Situation, wie konkret vor Ort gehandelt wird.

Unser Bewährungshelfer telefoniert täglich mit den beiden. Er ist vor Ort. Er ist ansprechbar, und die beiden haben auch sehr deutlich zum Aus

druck gebracht, dass sie sich hier zum ersten Mal aufgehoben fühlen, weil sich sowohl Polizei als auch Bewährungshilfe sehr intensiv um sie kümmern.

Es ist möglicherweise über die Medien ein Streit entstanden, inwieweit es rechtliche Instrumente gibt, die Auflagen im Rahmen der Führungsaufsicht zu verändern. Insoweit war es sicherlich eine unterschiedliche Rechtsauffassung, die Herr Stahlknecht und ich hatten.