Protocol of the Session on October 7, 2010

Auch deren Perspektive gilt es anzuerkennen. Sie hatten nicht alle das Glück, jetzt da zu sitzen, wo Sie sitzen.

(Zurufe von Frau Weiß, CDU, und von Herrn Kur- ze, CDU)

- Ja, auch ich bin ausdrücklich Gewinner dieses Prozesses, genau wie Sie, Frau Weiß. Aber ich weiß eben, dass es viele andere nicht sind und dass sie deshalb

möglicherweise eine völlig andere Bewertung dieses Vereinigungsprozesses haben.

Ich will einmal auf diesen Zusammenhang gerade in der Stadt Magdeburg hinweisen. Wir haben hier im Oktober die Demonstrationen gehabt. Es gibt eine Menge Untersuchungen, wer die soziale Trägerschicht nicht nur in Magdeburg, sondern in der gesamten DDR gewesen ist, die diesen massenhaften Schub im Oktober herbeigeführt hat. Das waren tatsächlich zuallererst diejenigen, die hier in der Industrie beschäftigt waren. Das waren Arbeiter. Das war die technische Intelligenz, die sozusagen mit dem größten gesellschaftlichen Erwartungsdruck, dass sich hier etwas tun muss, auf die Straße gegangen ist.

Das ist auch logisch. Die hatten nämlich jeden Tag mit dem wirtschaftlichen Niedergang dieses Landes unmittelbar zu tun. Das waren diejenigen, die es am eigenen Leibe am ehesten gespürt haben, dass es so nicht weitergeht. Das waren die Leute von Sket. Das waren die Leute vom SKL. Das waren die Leute vom MAW. Das waren natürlich auch Leute aus der Kultur- und Künstlerszene, aus der Intelligenz, ja selbst aus dem Staatsapparat. Aber die soziale Trägerschicht das waren in erster Linie die Leute aus der Industrie.

Jetzt müssen wir uns einmal ansehen, was mit denen dann geschehen ist,

(Zuruf von Frau Weiß, CDU)

mit denjenigen, die damals 30, 35, 40, 45 Jahre alt waren. Je älter sie übrigens waren, umso schneller wollten sie das gesellschaftliche System der Bundesrepublik herüberholen, weil sie natürlich auch für sich in Anspruch genommen haben, nicht mehr ewig warten zu wollen und zu können.

Objektiv war es so, dass gerade diejenigen oftmals nachher im Osten die größten Lasten zu tragen hatten, und zwar in allererster Linie durch den Verlust ihres Arbeitsplatzes - in der Chemieindustrie - darauf hat Herr Böhmer hingewiesen -, aber auch im Schwermaschinenbereich in dieser Stadt.

Das waren diejenigen, die am härtesten mit der Konsequenz dieser neuen Transformation zu tun hatten. Das war zum großen Teil nicht die Intelligenz. Das waren nicht die Lehrer. Das waren zum großen Teil nicht die Leute, die im Staatsapparat gearbeitet haben. Nein, das waren die Industriearbeiter, die soziale Trägerschicht, die, zumindest sozusagen in der Masse diesen politischen Umschwung, diese Wende, diese Revolution herbeigeführt haben.

Da gibt es dann natürlich unterschiedliche Entwicklungen. Es gibt Leute, die haben dann an völlig anderer Stelle wieder Fuß gefasst. Viele von ihnen sind auch abgewandert. Viele haben es aber auch nicht geschafft. Deren Entwicklung in den letzten 20 Jahren war geprägt durch Arbeitslosigkeit, durch ABM, durch Umschulung, durch Niedriglohnjobs, durch Teilzeitjobs, durch EinEuro-Jobs, durch Hartz IV, durch Frühverrentung. Denen sozusagen eine Perspektive abzuverlangen, zu sagen, das ist jetzt mal nicht so wichtig, dein Blick auf diese 20 Jahre muss der Blick eines Erfolges sein, ist einfach widersinnig.

Ich sage auch mit aller Deutlichkeit, weil wir das in der letzten Landtagssitzung gehört haben: Ihnen zu erzählen, sie sollen mal nicht so jammern; denn wenn die

DDR weiter existiert hätte, ginge es ihnen noch viel schlechter, und mit dem Einkommen, das sie jetzt hätten, würden sie weiter im Osten ein glückliches Leben führen können, ist zynisch und kann, wenn sie das auch noch von Leuten wie uns hören, die das Vielfache an Einkommen haben, als Argumentation nicht ernsthaft verwendet werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Lebhafter Beifall bei der LINKEN)

Wenn die dann sagen: Nein, das ist nicht das, was ich mir vorgestellt habe, Sozialstaatlichkeit habe ich anders verstanden, dann ist das eben nicht Ausdruck einer Sozialisation in der Diktatur eines fürsorglichen Staates.

Dann ist das sehr wohl eine berechtigte Forderung, die aus einem Staatsverständnis resultiert, das aus der Aufklärung, aus dem Humanismus kommt, und nicht das Relikt einer sozialstaatlichen Fürsorgeverwaltung einer Diktatur, die die Menschen in Unfreiheit gehalten hat. Es ist dann eine berechtigte Forderung, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Zuruf von Frau Weiß, CDU)

Dann kommen wir zu der Frage: War alles alternativlos? Oder - wie der Ministerpräsident es heute gesagt hat -: Man hätte vieles anders machen können, aber kaum etwas besser. - Nun gut.

(Zustimmung von Frau Weiß, CDU)

Ich weiß nicht, wer von Ihnen die Septembersendung von „Frontal 21“ gesehen hat. Diejenigen, die das getan haben, werden es wahrscheinlich mit steigendem Blutdruck getan haben.

Das Problem ist recht einfach zu beschreiben. Die Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland hat die DDR gebraucht, aber nicht als Produzent, nicht als Konkurrent, sondern als Markt, und zwar ausschließlich. Sie war so produktiv, dass sie 1990 faktisch die DDR mitversorgen konnte, ohne dass sie auch nur in etwa darauf angewiesen war, dass hier etwas hergestellt worden wäre.

(Frau Weiß, CDU: Das ist aber nicht neu! - Herr Miesterfeldt, SPD: Sagen Sie doch, woran das lag!)

- Ja, das war die Situation.

(Zuruf von Herrn Miesterfeldt, SPD)

Vor diesem Hintergrund glauben wir sehr wohl, dass es eine strategische Entscheidung gewesen ist, das gesamte Treuhandvermögen so schnell wie möglich an diese potenziellen Konkurrenten verkaufen zu wollen.

Ich glaube, es war absehbar, was dann passierte. Es war absehbar, dass im Prinzip der gesamte industrielle Bereich der DDR zusammenbrach,

(Zuruf von Frau Weiß, CDU - Zuruf von der CDU: Das ist richtig!)

und zwar in erster Linie deswegen, weil er technologisch nicht in der Lage gewesen ist, dem Wettbewerb standzuhalten,

(Herr Franke, FDP: Ja! - Frau Weiß, CDU: Au, au! - Frau Take, CDU: Weil sie unproduktiv war!)

weil die Wirtschaft der DDR tatsächlich zum großen Teil marode und unproduktiv war, aber eben auch, weil sich mit dieser Privatisierungsstrategie die Konkurrenten, die diese industrielle Basis auch gar nicht brauchten, darum

kümmern sollten, sie zu entwickeln. Das musste schiefgehen.

Die Konsequenz dieser Politik haben übrigens in erster Linie tatsächlich die Westdeutschen selbst zu tragen gehabt, nämlich über die Steuerbelastungen, die sie wiederum für die Transferzahlungen in den Osten leisten mussten, aber natürlich auch die Ostdeutschen, die auf einmal nicht mehr in der Lage gewesen sind, in irgendeiner Art und Weise aus der Situation, in der sie sich vorher befunden haben, heraus einigermaßen konkurrenzfähig zu produzieren, und sich mit Arbeitslosigkeit und allen anderen Umbrüchen, die damit zusammenhingen, auseinandersetzen mussten.

Etwa 80 % aller Menschen in der ehemaligen DDR bzw. in der DDR im Übergang mussten ihren Arbeitsplatz wechseln. Viele haben es eben nicht geschafft, eine neue Perspektive zu finden. Da, glaube ich, hätte man sehr wohl im positiven Sinne einiges anders machen können.

Noch radikaler war dieser Prozess bei der Übernahme von Banken aus der DDR durch westliche Institute. Ein bis heute geheim gehaltener Bericht des Bundesrechnungshofes - auch interessant übrigens - berichtete zum Beispiel davon, dass die westdeutsche DG-Bank die Genossenschaftsbank der DDR für 106 Millionen DM kaufte und dabei sage und schreibe 15,5 Milliarden DM Altforderungen erwarb.

Die ostdeutsche Berliner Stadtbank AG wurde für 49 Millionen DM gekauft und beinhaltete 11,5 Milliarden DM Altforderungen. 11,5 Milliarden DM, die durch die Bundesrepublik über Bürgschaften garantiert waren. Das heißt, diese Bank ist für 49 Millionen DM verkauft worden. Diese Bank hatte 11,5 Milliarden DM Altschulden, die die Bundesrepublik garantiert hatte.

Der Kollege Waigel ist gefragt worden, warum er das damals gemacht hat. Er hat gesagt: Wir brauchten halt die Banken.

Wer hat denn das bezahlt? - Das hat natürlich in erster Linie der westdeutsche Steuerzahler bezahlt. Diesen Superprofit von mehreren 10 000 % hat der westdeutsche Steuerzahler bezahlt. Und die Ostdeutschen, so wie das IWH sagt, in größerem Maße allein durch den Personaltransfer, durch die Abwanderung.

Es ist ja so, wie der Kollege Blum sagt, dass in etwa ein Viertel des Wirtschaftswachstums im Westen inzwischen durch die Leute hergestellt wird, die aus dem Osten abgewandert sind, die hier also produziert haben bzw. die hier ausgebildet worden sind. Das ist der Zusammenhang und auch den muss man ehrlicherweise aufnehmen.

Lassen Sie mich aus der Sicht der Westdeutschen noch ein Problem benennen. Vor dem Hintergrund der rasant wachsenden Arbeitslosigkeit im Osten entstand vor allem im bürgerlichen Lager recht schnell die Idee, soziale Errungenschaften im Arbeitsmarkt der Bundesrepublik zurückzuschrauben mit der Begründung, damit würden wir die Hürden zum Eintritt in den Arbeitsmarkt senken.

Wir haben heute mit den Auswirkungen dieser Politik zu tun: Niedriglohnsektor, Auflösung existenzsichernder sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse in zum Teil nicht mehr sozialversicherungspflichtige Teilzeitjobs, Abbau von Kündigungsschutz, Ausdehnung der Zeitarbeit, Auflösung der Flächentarifverträge und vieles andere mehr.

Diese substanzielle Verunsicherung aufseiten der Arbeitnehmer schwappte natürlich in den letzten 20 Jahren ein Stück weit vom Osten in den Westen. Wenn im Westen dann Betriebsräte gesagt haben: Nein, diese Geschichte machen wir nicht mit, dann haben sie auf einmal mit der Situation zu tun gehabt, dass ihnen gesagt wird: Leute, wenn ihr das nicht mitmacht, im Osten finden wir allemal dafür Leute, die unter diesen Bedingungen arbeiten; dann verlegen wir unseren Sitz eben in den Osten.

Nun kann man ja diese Prozesse unterschiedlich bewerten. Aber glaubt denn jemand von uns ehrlich, dass vor dem Hintergrund dieser Situation bei westdeutschen Arbeitnehmern eine Vereinigungseuphorie entstanden ist? - Doch wohl nicht. Dazu muss ich ganz deutlich sagen, dafür habe ich ausdrücklich Verständnis, liebe Kolleginnen und Kollegen.

All das sind Entwicklungen, die eben nicht alternativlos waren. Deswegen bedeutet 20 Jahre deutsche Einheit eben auch zu schauen: Welche Alternativen hätte es gegeben? Welche Fehler wurden gemacht? Welche substanziellen Fehler wurden natürlich auch in der DDR gemacht? Was war daran falsch? Was lief im Vereinigungsprozess falsch und was lief in den letzten 20 Jahren falsch?

Das ist eine legitime Frage. Diese Frage dient nicht dazu, Recht zu haben oder irgendjemanden abzuurteilen. Sie dient dazu, Fehler nicht zu wiederholen. Das ist das Entscheidende.

(Beifall bei der LINKEN)

Lassen sie mich jedoch aus aktuellem Anlass noch auf ein anderes Problem zu sprechen kommen.

Interessanterweise war die Rede des Bundespräsidenten anlässlich des 3. Oktober - oder vielmehr die öffentliche Reaktion darauf - weniger von seinen Aussagen zum Ost-West-Verhältnis als zum Thema Migration geprägt. Offensichtlich steht selbst am Jahrestag der deutschen Einheit das Ost-West-Verhältnis nicht mehr unbedingt im Mittelpunkt der Debatte. Sie können überlegen, ob das unbedingt schlecht ist oder vielleicht auch ein Zeichen von Normalität.

Was mich an dieser Debatte jedoch überrascht hat, war die Aufregung, die die Rede von Christian Wulff ausgelöst hat. Was hat er denn so Schlimmes gesagt? Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.

Mich überrascht diese Aufregung vor allem deshalb, weil er mit dieser Aussage lediglich eine Situation beschrieben hat. Er hat ja noch nicht mal ein Ziel artikuliert. Und was ist bitte daran falsch, dass wir eine Situation haben, in der der Islam inzwischen auch zu Deutschland gehört? Abgesehen übrigens davon, dass ideengeschichtlich auch der Islam vor dem Hintergrund einer christlichjüdischen Tradition entstanden ist, müssen wir einfach anerkennen, dass es in dieser Bundesrepublik Deutschland viele Millionen Menschen mit islamischem Glaubensbekenntnis gibt. Das ist doch eine Tatsache.

Was wollen wir denen denn sagen? Nein, ihr gehört nicht zu Deutschland? Ihr gehört nicht dazu? Warum gehört ihr nicht dazu? Weil ihr euch nicht in einer christlich-jüdischen Glaubenstradition bewegt?