Es gibt auch noch andere Formen der Teilung und der Wiedervereinigungspolitik, aus denen Handlungsbedarf resultiert. Fast all diese Probleme werden sich umso schneller und umso besser lösen lassen, je schneller die eigene Wirtschaftskraft und dadurch das eigene Steueraufkommen wachsen werden. Deshalb müssen wir uns auf diese Aufgabe schwerpunktmäßig konzentrieren.
Die wichtigsten Aufgaben bei der Umwandlung einer sozialistischen Planwirtschaft zu einer privatrechtlich organisierten, weltoffenen Marktwirtschaft sind erledigt. Unsere wirtschaftliche Grundlage ist noch zu klein, aber sie ist wettbewerbsfähig. Auch die Zahl anspruchsvoller und besser bezahlter Arbeitsplätze wird zunehmen. Niemand will einen Niedriglohnsektor um seiner selbst willen, aber es ist immer noch besser, eine weniger gut bezahlte Arbeit zu haben als gar keine.
Inzwischen werden auch bei uns Facharbeiter gesucht. Das ist nicht nur eine Chance für junge Menschen, die nach guter Ausbildung erstmals in das Arbeitsleben eintreten, sondern auch für ältere, die einen besser bezahl
ten Arbeitsplatz ausfüllen können. In diesem Bereich wird es - das ist vorhersehbar - in der nächsten Zeit eine Entwicklung geben.
Die Umwandlung der Staats- und Rechtsstrukturen einer zentralistischen Diktatur in eine föderale und freie parlamentarische Demokratie ist abgeschlossen. Die notwendigen Strukturreformen zur Anpassung an die demografische Entwicklung sind auf allen Verwaltungsebenen und in allen Verwaltungsbereichen auf den Weg gebracht und schon größtenteils erfolgt. Trotzdem bleibt noch Wichtiges zu tun.
Die Anpassung der Haushaltsausgaben an die eigenen Einnahmen wird noch einige Jahre dauern. Ich hoffe sehr, dass die Konsolidierungshilfen dabei nicht verspielt werden. Die Anpassung der Personalbestände an die demografische Entwicklung ist eine schwierige, aber notwendige Maßnahme; sie ist noch nicht erledigt. Der Abbau der jährlichen Zinslasten durch Rückzahlung der Kreditschulden wird noch lange dauern; das wird nur möglich sein, wenn Mehrausgaben nicht gleich verausgabt werden und die eigene Wirtschaftskraft weiter wächst.
Meine Damen und Herren! Es wird die Zeit kommen, in der sich neue Abgeordnete über die hohen Schulden aus den Anfangsjahren unseres Landes laut wundern werden, wahrscheinlich auch in diesem Haus. Ihnen muss man dann von den Problemen der Übergangs- und Aufbaujahre berichten.
Und es wird die Zeit kommen, da werden nachgeborene Generationen danach fragen, wie das war, als Deutschland geteilt war und warum und worin der Unterschied im Leben in den beiden Teilen Deutschlands bestand. Dann sollte ihnen nicht nur von den unterschiedlichen Wirtschafts-, Rechts- und Machtstrukturen berichtet werden, nicht nur vom unterschiedlichen Gebrauch staatlicher Gewalt und vormundschaftlicher Betreuung, sondern auch von den unterschiedlichen gesellschaftlichen Zielen und Hoffnungen.
Auch die Verantwortlichen der ehemaligen DDR waren nämlich nicht daran interessiert, sich bei ihren Bürgern unbeliebt zu machen. Sie waren jedoch überzeugt von ihrer Ideologie mit dem Ziel einer neuen sozialen Gerechtigkeit, die mit selbst erfundenen, angeblich objektiven Gesetzen der menschlichen Zivilisationsgeschichte begründet wurde. Damit wurden alle Zwangs- und Strafmaßnahmen und die Begrenzung individueller Freiheiten begründet. Parallelen dazu - das wissen Sie - gibt es in der Geschichte einiger Religionen vor der Zeit der Aufklärung.
Wenn wir unsere DDR-Erfahrungen auswerten, muss dies zu einer Aufklärung über die Begleiterscheinungen sozialutopischer Ideologien und Hoffungen führen. Diese Aufgabe haben wir bisher nur unvollständig geleistet. In jeder Gesellschaftsordnung, die Leistung braucht und die auf die Leistung der Bürger setzt, wird es auch immer wieder Unterschiede und Spannungen geben. Die Illusion von einem konfliktfreien Zusammenleben gibt es in der Geschichte zwar schon immer und es wird sie auch immer weiter geben, doch je mehr die Menschen dabei reglementiert werden, umso stärker wird der Drang nach Freiheit.
Wir haben beides erlebt. Die Menschen in Ostdeutschland und in Osteuropa haben dies mit ihrem Freiheitswillen bezeugt. Auch zukünftige Generationen werden nach neuen Wegen suchen, für sich Gerechtigkeit zu or
ganisieren. Es gibt sicherlich kein Ende der Geschichte. Und genauso wichtig wie der individuelle Wunsch nach Wohlstand ist der individuelle Wunsch nach Selbstbestimmung in Freiheit. Das erst bedeutet die Achtung der Würde jedes Einzelnen.
Unsere Erfahrungen können dafür Ermutigung sein und unsere Erinnerungen sollen zukünftigen Generationen dabei helfen. - Ich danke Ihnen.
Herzlichen Dank für die Regierungserklärung, Herr Ministerpräsident. - Meine Damen und Herren! Bevor wir zur Aussprache über die Regierungserklärung kommen, darf ich auf der Südtribüne Gäste begrüßen, zum einen Gäste der Landeszentrale für politische Bildung und zum anderen Schülerinnen und Schüler der Heine-Sekundarschule in Bernburg. Herzlich willkommen! Schön dass Sie da sind, insbesondere junge Leute zu einem so wichtigen Thema.
Ich rufe jetzt den Redebeitrag der Partei DIE LINKE auf. Herr Gallert hat das Wort. Wir hatten uns auf eine Debattendauer von 130 Minuten verständigt.
- Nein, Sie dürfen 24 Minuten sprechen, die SPD 23 Minuten, die FDP zehn Minuten und die CDU 37 Minuten. Jetzt haben Sie für 24 Minuten das Wort. Bitte schön, Herr Gallert.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Die Regierungserklärung des Ministerpräsidenten zum Thema „20 Jahre deutsche Einheit“ setzt die Betrachtung dieses Zeitraumes in unserem Parlament fort. Wir haben morgen noch eine Debatte, bei der es dann um 20 Jahre Bildungswesen gehen wird.
Jeder von uns hat inzwischen einen Eindruck davon bekommen, wie breit dieses Thema der 20. Jahrestage angelegt ist. Zumindest an der Fülle der Einladungen, die jeder von uns Abgeordneten bekommen hat, haben wir es gemerkt. Insofern dürfte es auch nicht überraschen, dass von den Rednerinnen und Rednern heute unter dieser sehr großen Überschrift durchaus auch andere Themen angesprochen werden und andere Schwerpunkte gelegt werden.
Ausgangspunkt meiner Überlegung hier und heute ist, dass dieser Zeitabschnitt der letzten 20 Jahre in den beiden Teilen der Bundesrepublik eben nicht einheitliche, sondern sehr unterschiedliche Prozesse ausgelöst hat. Der dominante Prozess im Osten der Bundesrepublik war die Anpassung an die Verhältnisse im Westen unseres Landes. Dieser Teil, der Westen, hat sich jedoch in diesen 20 Jahren ebenfalls in einem Transformations
prozess befunden, einem Transformationsprozess, der relativ wenig mit der deutschen Einheit zu tun hat. Den musste der Osten gleichzeitig mit bewältigen.
Deswegen halte ich es für richtig und vernünftig, bezüglich dieser 20 Jahre im Osten von einem doppelten Transformationsprozess zu reden, mit dem wir es hier zu tun haben.
Der Grundtenor vieler Reden anlässlich dieses Jahrestages besteht in der Kernaussage, dass bei diesem Transformationsprozess im Osten vieles hervorragend gelaufen ist, einiges vielleicht auch nicht so gut, aber alles auf jeden Fall alternativlos.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das wird Sie vielleicht überraschen: Ich glaube, zum Teil ist das sehr wohl richtig.
Die möglichst schnelle Übernahme des gesamten gesellschaftlichen Systems des Westens war vor 20 Jahren erklärter Wille der übergroßen Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung. Sicherlich spielte damals auch die eine oder andere Unwissenheit über Probleme, die noch kommen werden, eine Rolle.
Aber - das gehört auch zur Wahrheit - es gab ja Menschen, die darauf hingewiesen haben, dass es solche Probleme geben könnte. Die befanden sich dann relativ schnell in einer Minderheitenposition, weil sich die übergroße Masse der Ostdeutschen mit dieser Frage zu diesem Zeitpunkt ausdrücklich nicht auseinandersetzen wollte.
Es betraf meine Partei, natürlich, es betraf aber auch die Bürgerbewegung, die mit einem sehr, sehr hohen moralischen Kapital ausgestattet gewesen ist, aber auf einmal schlagartig nicht mehr interessierte. Es betraf auch die Sozialdemokratie, deren Kanzlerkandidat damals sehr wohl auf die ökonomischen Folgen aufmerksam gemacht hat, die die Umstellung innerhalb einer Währungsunion für die ostdeutsche Wirtschaft zur Folge haben würde. Sie alle befanden sich relativ schnell in einer gesellschaftlichen Minderheitenposition.
Nüchtern betrachtet, muss man heute feststellen, dass diese Mehrheitsbildung in allererster Linie Resultat der politischen und ökonomischen Bilanz der DDR selbst war. Vor dem Hintergrund der ökonomischen Stagnation, ja des Niedergangs, der politisch-moralischen Delegitimierung der DDR bei ihren eigenen Bürgern bewerteten die Menschen im Osten die kritiklose Übernahme des westlichen Gesellschaftssystems zweifellos als den einzigen möglichen und attraktiven Weg. Das tat die Masse der Menschen aus vollem Herzen, wie wir es ja heute noch aus den Bildern des Jahres 1990 ersehen können.
Ich sage: Trotz aller möglichen anderslautenden demoskopischen Befunde ist das auch heute noch so. Die Menschen erleben diesen 3. Oktober als Feiertag. Sie erleben ihn in der überwiegenden Masse sehr wohl als positiv besetzten Tag, und zwar unabhängig davon, welche Erklärungsmuster wir Politiker ihnen geben. Ich glaube, das kann man hier durchaus würdigen.
Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hat sich auch im Osten bewährt. Wir sind aufgerufen, es zu verteidigen, was aber - das sage ich mit aller Deutlichkeit - nichts damit zu tun hat, den politischen Status quo für sakrosankt zu erklären. Nein, es ist gerade das Grundgesetz, das uns ausdrücklich auffordert, mit diesem politischen Status
quo sehr kritisch umzugehen und ihn an entscheidenden Stellen auch zu verändern. Das scheint unsere Aufgabe zu sein.
Neben dieser sehr grundsätzlichen Betrachtung gilt es jedoch an einem solchen Tag, uns der Vielzahl der individuellen Bewertungen der Menschen in diesem Land in den letzten 20 Jahren zuzuwenden. Dabei fällt auf, dass es eine außerordentlich große Bandbreite von Bewertungen gibt.
Ich sage ausdrücklich: Die Masse dieser individuellen Bewertungen existiert, und zwar unabhängig davon, ob wir Politiker es wollen oder nicht. Egal, welche Erklärungsmuster wir ihnen geben, egal, ob wir jemandem sagen, du darfst so denken oder du darfst das nicht so bewerten, die Menschen werden ihre eigenen Bewertungen für sich aufbewahren. Sie werden sich nicht nach unseren Wünschen richten.
Auch das halte ich für eine Errungenschaft. Denn einheitliche Geschichtsbilder sind Kennzeichen von Diktaturen. Auch wir sollten ausdrücklich Abstand davon nehmen, irgendeine Interpretation dieser letzten 20 Jahre als die dominant-verbindliche hinzustellen und zu sagen, dass jeder, der sie nicht teilt, aus dieser Gesellschaft ausgeschlossen gehört. Auch an der Stelle müssen wir mit Heterogenität leben.
Ich muss sagen: Die Sicht der Menschen in diesem Land auf diese letzten 20 Jahre ist außerordentlich pragmatisch. Die Landesregierung hat zwei SachsenAnhalt-Monitore in Auftrag gegeben. Sie hat die Menschen einmal befragt, wie sie die Situation sehen, auch im Vergleich zur DDR. Dabei gab es eine ganz klare Determinante: Je besser es den Leuten ging, umso positiver war ihr Fazit. Ganz klar.
Man muss das nur bedenken - heute hier in diesem Raum. Alle diejenigen, die sich heute hier befinden, zumindest hier unten, gehören eindeutig zu den Gewinnern dieses Prozesses.
- Ob das für jeden einzelnen von uns so zutrifft, darüber kann man möglicherweise reden. Aber wenn Sie das für sich selbst in Anspruch nehmen, ist das gern gestattet.
Aber es gibt eben Menschen in diesem Land, und zwar nicht wenige, die trotz harter Arbeit nicht auf der Gewinnerstraße dieses Vereinigungsprozesses gelandet sind.
Auch deren Perspektive gilt es anzuerkennen. Sie hatten nicht alle das Glück, jetzt da zu sitzen, wo Sie sitzen.