Protocol of the Session on February 19, 2010

Frau Bull, bei allem Respekt davor, dass man in dieser Gesellschaft vieles diskutieren kann, würde ich Sie einmal bitten, sich die Verbrauchsstatistik und auch den Warenkorb, der der Hartz-IV-Regelung zugrunde liegt, anzusehen und dann einmal zu schauen, wie Sie 1989/ 1990 mit Ihrem damaligen Gehalt und Ihrer damaligen Bedarfsgemeinschaft in die Bundesrepublik Deutschland gestartet sind.

Ich habe das einmal für mich gemacht. Bei zwei akademischen Abschlüssen mit 43 ¾ Vollstunden und zwei Kindern kam ich auf 83 % der Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaftsgrundsicherung.

(Zustimmung bei der CDU und von der Regie- rungsbank)

Das sollten wir den Menschen, die in dieser Bundesrepublik leben, einmal nahebringen,

(Starke Unruhe bei und Zurufe von der LINKEN)

nämlich dass wir hier ein Grundgesetz haben,

(Zuruf von Herrn Dr. Thiel, DIE LINKE - Herr Tull- ner, CDU: Lassen Sie ihn doch mal ausreden, Herr Thiel!)

- Herr Thiel - das mit einer Präambel versehen ist, das eine Solidarität sichert, die Sie woanders und ich in meinem Leben davor nirgendwo erlebt habe - bei allen Härten, die diese Wettbewerbsgesellschaft auch mit sich bringt, bei der wir aber die Menschen nie allein lassen.

Das muss man fairerweise - weil nämlich harte Arbeit dahinter steckt, um dieses Grundsicherungssystem durchzufinanzieren - einmal allen Menschen sagen dürfen, die

sich jeden Tag strecken gegenüber denen, die letztlich aufgefangen werden müssen. Das wollen wir auch in Zukunft machen.

(Zustimmung bei der CDU und von der Regie- rungsbank)

Jetzt noch einmal zur Systematik von Hartz IV. Ich bin, glaube ich, mit allen, die hier im Landtag sitzen, einer Meinung: Wenn vier Parteien damals - Rot-Grün in der Bundesregierung und im Bundesrat auch die B-Länder mit Schwarz-Gelb - nach langen Auseinandersetzungen zu diesem System gefunden haben, dann gab es dafür gute Gründe.

Diese Gründe hat das Verfassungsgericht übrigens auch nicht in seinem letzten Urteil infrage gestellt. Dabei geht es nicht um die Höhen. Dabei geht es darum, dass man fachtechnische Dinge nachjustiert, dass man Transparenzen herstellt, dass man Rechenstrukturen, die man im Verordnungswege dem Gesetz nachgeschaltet hat, gegebenenfalls korrigiert, noch einmal nachrechnet und dass man versucht - auch im Sinne der Einzelfallgerechtigkeit, die in unserer Verfassung sehr hoch steht -, Einzelbedarfe verwaltungstechnisch und administrativ zu fassen.

Die Grundbotschaft, die nach wie vor im Raum steht, wird von niemandem infrage gestellt: Die Zusammenführung des alten Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilfesystems war richtig. Die Zusammenführung in eine Zuständigkeit war richtig.

Es wird sicherlich noch darum gerungen, inwieweit man das organisationstechnisch auf belastbare Füße stellen kann, um in den Verwaltungen nach dem Jahr 2011 auch verfassungsrechtlich konforme Lösungen vorzufinden. Das ist ein Themenkomplex für sich.

Die Zusammenführung der entsprechenden Personengruppen und die Möglichkeit, sie gemeinsam in entsprechenden Vermittlungszentren regional, überregional und auch in die Europäische Union vermitteln zu können, hat sich aber als richtig erwiesen.

Meine Damen und Herren! Die Reduzierung der Arbeitslosigkeit in Sachsen-Anhalt in den letzten drei Jahren ist nicht allein durch eine gute wirtschaftliche Entwicklung zu erklären, sondern auch durch die Kombination mit dem System des SGB II.

(Zustimmung von Herrn Scheurell, CDU)

Ein Drittel weniger Arbeitslose sind nicht von allein gekommen.

(Beifall bei der CDU)

Das hängt auch damit zusammen, dass wir jetzt Instrumente haben, die wir uns immer gewünscht haben, nämlich eine Einstiegsmöglichkeit für die weniger Qualifizierten über das Einstiegsgeld. Über diese Möglichkeit haben wir in den letzten Jahren mehr als 18 000 Personen in Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt gebracht.

Von diesen sind deutlich mehr als 50 % nach dem Auslaufen der Förderung nach Ablauf von zwei Jahren im Job geblieben, und zwar zu Stundenlöhnen, die nicht bei 5 € lagen und über das SGB-II-System aufgestockt wurden. Stattdessen gab es eine Lohnfindung, in deren Ergebnis die Löhne deutlich über dem Niveau der Grundsicherung liegen. Damit ist der Einstieg also auch wirklich gelungen.

Das ist ein Instrument, das es vorher nicht gab und das gerade den benachteiligten Langzeitarbeitslosen endlich den Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt ermöglicht hat.

Dass es trotzdem immer noch nicht wettbewerbsfähige, aber arbeitswillige Langzeitarbeitslose gibt, die wir mit entsprechenden Angeboten versehen wollen, das wissen wir. Es gibt einen Instrumentenkatalog. Dieser beginnt bei den Ein-Euro-Jobs, wobei man sich darüber streiten kann, in welchen Fällen sie opportun sind.

Es ist Gott sei Dank auch so, dass unser Modell Bürgerarbeit in den jetzigen Koalitionsvertrag Eingang gefunden hat, was derzeit über eine Arbeitsgruppe beim Bundesarbeitsministerium untersetzt und in den nächsten Monaten dann allen 16 Bundesländern angeboten werden soll im Sinne einer größeren und hoffentlich auch flächendeckenden Umsetzung und Anwendung in den nächsten Jahren.

Wir wissen, dass wir auch in den Bereichen, in denen der erste Arbeitsmarkt trotz Vermittlungsbemühungen nichts hergibt, etwas im Angebot haben müssen. Wir wissen aus den Erfahrungen unserer Modellprojekte, dass es nicht um die Lohnhöhe geht, sondern um Integration in unsere Gesellschaft und um Teilhabe und Partizipation an unserer Gesellschaft. Das ist auch nicht infrage gestellt worden, sondern wird Tag für Tag weiterentwickelt von all denjenigen, die daran ein Interesse haben.

(Zustimmung bei der CDU und bei der SPD)

Wenn wir über dieses Thema auch im Zusammenhang mit Mindestlöhnen diskutieren, dann muss man zum wiederholten Male feststellen: Wir haben Mindestlöhne in Deutschland, die über ein Tarifsystem zustande gekommen sind, indem sich die Tarifpartner darauf verständigt haben, Mindestlöhne einzuführen, und zwar in den Fällen, in denen das auch funktioniert und sinnvoll ist und beide Seiten festgestellt haben, dass ein Mindestlohn nicht kontraproduktiv ist und Arbeitsplätze gefährdet, sondern wirklich Beschäftigung generiert.

Wenn wir dann über einen staatlichen Mindestlohn reden, dann wissen wir inzwischen, wo die Diskussion enden müsste. Es hilft uns nicht, die Höhe des Mindestlohns durchgängig auf 7,50 € festzulegen. Damit würden wir vielleicht die Singles etwas besser stellen, die der Grundsicherung im Durchschnitt schon bei 6,50 € entkommen.

Wir bräuchten Mindestlöhne für alle denkbaren Fallgestaltungen bei Bedarfsgemeinschaften: für Paare ohne Kinder, für Paare mit Kindern. Dann wären wir schnell bei 11 €, 12 € und bei 16 €, 17 €, um sicherzustellen, dass Bedarfsgemeinschaften zum Beispiel mit drei Kindern aus der Grundsicherung herausfinden. Sie merken, dass wir damit nichts Positives bewirken würden. Vielmehr sind die Tarifpartner gefordert, gute und mit Augenmaß zustande gekommene Lösungen zu finden.

Stundenlöhne von weniger als 6,50 € werden in jedem Fall aufgestockt. Wir haben übrigens mehr als 40 000 Personen in Sachsen-Anhalt, die solche Leistungen beziehen. Diese Aufstocker bekommen diese Leistung aber nicht deswegen, weil sie Single sind, sondern weil die Bedarfsgemeinschaft eine entsprechende Größe hat und die Kinder abgesichert werden müssen. Deshalb wird der Lohn über das SGB II aufgestockt.

Wenn wir Ihren Vorschlag umsetzen und diese - wie haben Sie es genannt? - bedarfsorientierte Mindestsiche

rung einführen würden, dann müssten wir nicht Mindestlöhne in Höhe von 11 €, 12 €, sondern in Höhe von 19 € für bestimmte Bedarfsgemeinschaften haben. Dazu muss man sagen: Das schafft keine Volkswirtschaft auf dieser Welt, Jobs für entsprechende Qualifikationen mit solchen Löhnen darzustellen.

(Zustimmung bei der CDU)

Es kann nicht sein, dass einfache Tätigkeiten grundsätzlich nur noch in Asien erledigt werden. Auch wir brauchen einfache Tätigkeiten. Der Mensch ist, wie er ist. Der Nobelpreisträger ist genauso wichtig wie derjenige, der nur mit Mühe die Haupt- oder die Sekundarschule schafft.

Wir als Vertreter dieses Sozialstaats sollten deswegen darum ringen, dass wir über Integrationsmöglichkeiten sprechen, über Einstiegsmöglichkeiten im Sinne dessen, dass die Schwelle in den ersten Arbeitsmarkt überschritten wird. Das kann regional und branchenbezogen unterschiedlich sein. Dabei muss man viel Fantasie haben. Diese Fantasie sollten wir in den nächsten Monaten und Jahren weiter entwickeln. Das kann unsere gemeinsame Aufgabe seien. Dass Handlungsbedarf besteht, das sehen wir.

Solange wir Arbeitslose haben, sind wir gefordert. Dass wir aber nichts erreicht hätten und dass dieses System dem Grunde nach zu verdammen sei, das kann ich so nicht stehen lassen. Diejenigen, die dafür politisch in der Verantwortung waren, können sich eigentlich, zumindest für diese Zwischenetappe, auf die Schulter klopfen und sagen: Wir sind ein Stück weitergekommen. Wir sind noch nicht am Ende des Wegs, brauchen uns dafür aber nicht zu schämen und können stolz darauf sein, was wir in Deutschland, in dieser Solidargemeinschaft hinbekommen haben.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der SPD)

Herr Minister, möchten Sie eine Frage beantworten?

Nein.

Keine Frage. - Dann vielen Dank. Herr Minister möchte die Frage nicht beantworten.

(Frau Dirlich, DIE LINKE: Ich möchte eine Zwi- schenbemerkung machen!)

- Eine Zwischenbemerkung? - Bitte.

(Herr Tullner, CDU: Kein Sozialismus! - Herr Kur- ze, CDU: Nie wieder!)

Ich will vorausschicken, dass es mir bei Weitem fernliegt, die DDR zu verklären, und ich will vorausschicken, dass der Minister das auch weiß, weil wir uns darüber schon unterhalten haben. Wenn der Minister aber einen Vergleich bringt, wie er ihn am Anfang seiner Rede gebracht hat, dann möchte ich zumindest eines daneben stellen dürfen:

Meine Mutter hat allein - letztlich allein - fünf Kinder großgezogen. Ich habe studiert und einer meiner Brüder

hat studiert. Das war niemals eine Frage des Einkommens und es gab niemals die Frage, ob das möglich ist oder nicht. Ich bin im Jahr 1954 geboren und mein Bruder im Jahr 1964.

Ich möchte, dass Sie mir ein oder vielleicht auch zwei solcher Beispiele alleinerziehender Frauen aus der Bundesrepublik nennen.

(Herr Tullner, CDU: Kein Problem! - Frau Dr. Hüs- kens, FDP: Das ist kein Problem!)

Ich finde, dass man solche Dinge nebeneinander stehen lassen dürfen muss.

(Herr Tullner, CDU: Was soll das? Sollen wir uns unsere Biografien vorhalten?)