Meine Damen und Herren! Hiermit eröffne ich die siebente Sitzung des Landtages von Sachsen-Anhalt der fünften Wahlperiode.
Ich begrüße alle Anwesenden. Ich hoffe, Sie sind alle wieder fit nach dem parlamentarischen Abend und haben alle Ihre Preise gut nach Hause gebracht. An dieser Stelle noch einmal herzlichen Dank für den parlamentarischen Abend. Ich glaube, das war eine gute Begegnung.
Bevor wir in die Tagesordnung einsteigen, habe ich die angenehme Aufgabe, einem Mitglied des Landtages zum Geburtstag zu gratulieren. Herr Jürgen Scharf hat heute seinen Geburtstag. Herr Scharf, von dieser Stelle aus vom Hohen Hause alles Gute, Gottes Segen, bleiben Sie so, wie Sie sind.
Wir setzen nunmehr die vierte Sitzungsperiode fort und beginnen die heutige Beratung vereinbarungsgemäß mit dem Tagesordnungspunkt 15 - Aktuelle Debatte. Danach folgt der Tagesordnungspunkt 16.
Es ist im Ältestenrat eine Redezeit von zehn Minuten je Fraktion vereinbart worden, für die Landesregierung ebenfalls zehn Minuten.
Die Reihenfolge hat sich etwas geändert: Nach der Einbringung durch die Linkspartei.PDS haben die CDU und die SPD die Rednerreihenfolge getauscht. Das bitte ich zu beachten.
Guten Morgen, meine Damen und Herren! Herr Präsident! Die Mindestlohndebatte ist eine Debatte um Gerechtigkeit, um gerechte und existenzsichernde Löhne. Deutschland hat sich zunehmend von einer Aufstiegsgesellschaft zu einer Paternoster-Gesellschaft entwickelt. Das heißt, die einen fahren nach oben und für die anderen geht es nach unten.
In Deutschland arbeiten gegenwärtig nach dem IAT - Institut für Arbeit und Technik in Gelsenkirchen - 6,9 Millionen Menschen im Niedriglohnsektor. Darunter sind drei Millionen Vollzeitbeschäftigte, 1,4 Millionen Beschäftigte mit sozialversicherungspflichtiger Teilzeitarbeit und 2,5 Millionen geringfügig Beschäftigte. Rund 2,7 Millionen
Vollzeitbeschäftigte arbeiten zu „Armutslöhnen“. Hiervon sind insbesondere solche Berufsgruppen wie das Wach- und Sicherheitsgewerbe, Frisörinnen, Verkäuferinnen, das Reinigungspersonal - im Grunde weite Bereiche des Dienstleistungssektors - betroffen, auch Akademiker und Mittelständler und im Prinzip alle anderen Wirtschaftsbereiche auch.
Den Menschen wird eingeredet, wenn die Arbeitskosten reduziert werden, dann entstehen mehr Arbeitsplätze. Das ist aus meiner Sicht falsch. Richtig ist, dass in Ländern mit hohen Lohnzuwächsen auch die Beschäftigung hoch ist. In der „Volksstimme“ vom 8. September 2006 war zu lesen, dass die Arbeitskosten in Deutschland moderat gestiegen sind. Im ersten Quartal lag der EUDurchschnitt bei 2,4 %, in Deutschland nur bei 0,5 %.
Über Jahre hinweg haben die Gewerkschaften moderate Tarifergebnisse zur Beschäftigungssicherung akzeptiert. Das hat dazu geführt, dass die Verteilungsspielräume nicht ausgenutzt wurden und die Inflationsrate nicht ausgeglichen wurde, und das, meine Damen und Herren, hat nachweislich zur Reduzierung der Realeinkommen geführt. Über 130 Tarifverträge bestimmen in den unteren Gruppen einen Stundenlohn von weniger als 6 €. Ich sage an dieser Stelle: Diese Tarifverträge wollen wir nicht.
Die Allgemeinverbindlichkeit ist mit unter 1 % der Tarifverträge gering ausgeprägt, weil die rechtlichen Hürden für deren Einführung hoch gesteckt sind und sie durch Arbeitgeberverbände weitestgehend abgelehnt wurde. Auch unsere Landesregierung hat sich immer wieder vehement gegen die Allgemeinverbindlichkeit ausgesprochen.
Noch einige Fakten. In Sachsen-Anhalt hat sich die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse seit dem Jahr 1990 dramatisch reduziert. Das weiß sicher jeder hier im Raum. Aber im Zeitraum von 2001 bis 2005 ist ein erneuter Verlust von 82 000 sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen zu verzeichnen.
Die Zahl der geringfügig Beschäftigten hat sich im Bereich der Regionaldirektion Sachsen-Anhalt/Thüringen vom Juni 2003 mit 204 946 auf 236 490 im Dezember 2005 entwickelt. Das sind 31 544 mehr.
Die Erwerbslosigkeit hält sich auf einem hohen Niveau. In Sachsen-Anhalt leben gegenwärtig mehr als 756 800 Menschen unter der Armutsgrenze.
Deshalb findet - organisiert von den Gewerkschaften ver.di, NGG und DGB, der Linkspartei.PDS und weiteren Organisationen und Privatpersonen - seit Wochen eine bundesweite Kampagne statt mit dem Ziel, die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes zu erreichen. Gegenwärtig befürworten mehr als 60 % der Bürger und Bürgerinnen eine solche Regelung, eben nicht vordergründig aus dem Wunsch heraus, der Staat möge alles regulieren, sondern aus der Erkenntnis heraus, dass der Markt hierbei versagt hat.
Auch in Sachsen-Anhalt hat sich ein breites Bündnis entwickelt. Gewerkschaften und Parteien, Verbände und Einzellpersonen haben bekundet, sich gegen Lohndumping als Mittel im wirtschaftlichen Wettbewerb auszusprechen, und ihre große Sorge zum Ausdruck gebracht, dass eine wachsende Zahl von Arbeitnehmern trotz Arbeit in Armut oder eine armutsähnliche Situation gedrängt wird.
Eine Frage steht im Raum: Warum soll es in Deutschland nicht auch möglich sein, was in vielen anderen Ländern Europas akzeptiert, sinnvoll und erfolgreich ist?
Vergleichbare Staaten wie Frankreich, Irland, Luxemburg, die Niederlande, Belgien und Großbritannien haben gute Erfahrungen gesammelt. Großbritannien hat im Jahr 1999 den gesetzlichen Mindestlohn eingeführt. Das war zu einer Zeit, als die wirtschaftspolitische und arbeitsmarktpolitische Lage ähnlich wie jetzt in Deutschland war.
Der Wettbewerb um die billigsten Arbeitskräfte war genauso entbrannt wie bei uns. In der Debatte darum, ob der gesetzliche Mindestlohn die Arbeitslosigkeit weiter verschärfe, wurde von den Gegnern der Mindestlohnkampagne der Verlust von Arbeitsplätzen auf zwei Millionen beziffert. Die Befürworter des Mindestlohnes haben sich durchgesetzt; der gesetzliche Mindestlohn gilt und er wird jährlich erhöht.
Meine Damen und Herren! Das macht das Parlament erst nach den Vorschlägen einer unabhängigen Kommission. Diese breit akzeptierte Kommission setzt sich aus Wissenschaftlern, Wirtschaftsvertretern und Gewerkschaftern zusammen. Ich finde, das könnte auch das Modell für Deutschland sein.
Was ist das Ergebnis? - Von der Einführung waren 1,1 Millionen Arbeitnehmer betroffen. Das Bruttoinlandsprodukt ist systematisch gestiegen und die Arbeitslosigkeit ist gesunken. Wissen Sie, beeindruckend finde ich, dass damit auch für 800 000 Kinder die Kinderarmut der Vergangenheit angehört. Meinen Sie nicht, dass es sich lohnt, etwas näher hinzuschauen, als ständig so zu tun, als würde das nicht stattfinden?
Auch das viel zitierte Land der unbegrenzten Möglichkeiten hat unlängst den gesetzlichen Mindestlohn erhöht. In den Vereinigten Staaten von Amerika gibt es bereits seit dem Jahr 1933 einen gesetzlichen Mindestlohn.
Wissen Sie eigentlich, wie Roosevelt seine Leute motiviert hat? - Hören Sie erst einmal zu. - Ich zitiere:
„Unternehmen, deren Existenz lediglich davon abhängt, ihren Beschäftigten weniger als einen zum Leben ausreichenden Lohn zu zahlen, sollen in diesem Lande kein Recht mehr haben, weiter ihre Geschäfte zu betreiben.“
„Mit einem zum Leben ausreichenden Lohn meine ich mehr als das bloße Existenzminimum - ich meine Löhne, die ein anständiges Leben ermöglichen.“
Ich sage es noch einmal: Das Zitat stammt aus dem Jahr 1933. Die normativ-moralische Dimension steht für den Anspruch auf einen fairen Lohn, der ein bestimmtes soziokulturelles Existenzminimum absichern soll
- ja, zum Ende - und als soziales Grundrecht in zahlreichen internationalen Vereinbarungen festgeschrieben wurde, wie zum Beispiel in der Europäischen Sozialcharta aus dem Jahr 1960 oder der Europäischen Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer aus dem Jahr 1989. Leider ist es durch Deutschland bis heute nicht umgesetzt worden.
Unsere Forderungen liegen klar auf dem Tisch. Wir wollen einen gesetzlichen Mindestlohn. Es geht nämlich nicht schlechthin um Mindestlohn, es geht um existenzsichernde Einkommen, die heute und künftig Menschen vor der Armutsfalle bewahren.
Kleine Firmen entgehen auf der Grundlage eines gesetzlichen Mindestlohns einem ruinösen Konkurrenzkampf durch Lohndumping. Unser Vorschlag: Bei der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in kleinen und mittleren Unternehmen können wir uns zur Unterstützung vorstellen, die Einführung zeitlich befristet durch staatliche Zuschüsse zu erleichtern - ich betone: zeitlich befristet.
Wer sich aber nur über Kombilohnmodelle Gedanken macht, muss sich darüber im Klaren sein, dass damit Löhne über Steuern bzw. Umverteilung staatlicher Mittel mitfinanziert werden. Zudem wird der Ausstieg aus der paritätischen Finanzierung der Sozialabgaben vorangetrieben. Unsere bisherigen Erfahrungen aus der Umsetzung von Kombilohnmodellen besagen, dass damit vor allem der Niedriglohnsektor weiter verfestigt wird, und genau das wollen wir nicht.
Die Behauptung der Arbeitgeberverbände, ihre Belastung werde zu hoch, verdeckt nach einer IAT-Studie die schlichte Tatsache, dass die Unternehmen einen Teil ihrer sozialen Verantwortung auf den viel gescholtenen Staat abwälzen; denn wer als Arbeitgeber lediglich einen Stundenlohn in Höhe von 4,50 € oder 5,80 € zahlt, nimmt ungerührt in Kauf, dass der Arbeitnehmer um staatliche Unterstützung bitten muss. Ohne einen Mindestlohn besteht die Gefahr, dass Unternehmen die Ausfallbürgschaft des Staates zunehmend nutzen, um Löhne weiter abzusenken.
Umso unverständlicher ist es ebenfalls, dass Großunternehmen wie die Deutsche Bank große Gewinne machen, aber ihre Dienstleister im Sicherheits- und Reinigungsgewerbe mit Dumpingpreise abspeisen.