Protocol of the Session on October 9, 2009

Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 65. Sitzung des Landtages von Sachsen-Anhalt der fünften Wahlperiode und begrüße Sie alle recht herzlich.

Ich stelle die Beschlussfähigkeit des Hohen Hauses fest.

Meine Damen und Herren! Wir setzen nunmehr die 34. Sitzungsperiode fort. Wie vereinbart werden wir mit dem Tagesordnungspunkt 2 beginnen und im Anschluss daran den Tagesordnungspunkt 20 behandeln.

Ich erinnere an die gestern bekanntgegebenen Entschuldigungen von Mitgliedern der Landesregierung. Es betrifft heute Ministerin Frau Wernicke, die aufgrund einer Erkrankung fehlt, und Herrn Minister Haseloff, der heute ganztägig nicht anwesend ist.

Meine Damen und Herren! Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:

Aktuelle Debatte

Es liegen zwei Beratungsgegenstände vor. In der Aktuellen Debatte beträgt die Redezeit je Fraktion sowie die der Landesregierung zehn Minuten. Beschlüsse in der Sache werden nicht gefasst.

Ich rufe nun das erste Thema auf:

20 Jahre Friedliche Revolution

Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 5/2208

Ich erteile zunächst dem Abgeordneten Herrn Dr. Fikentscher von der antragstellenden SPD-Fraktion das Wort. Bitte sehr.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jede Revolution hat ein geografisches Zentrum und ein zeitliches Fenster. Bei der friedlichen Revolution in der DDR waren dies Leipzig und der 9. Oktober 1989 - heute vor 20 Jahren. Von diesem Tag an war die Revolution nicht mehr aufzuhalten; sie hatte das ganze Land erfasst.

Wann und wo hätten denn die sowjetischen Panzer, das eigentliche Rückgrat des DDR-Systems, rollen sollen, wenn sie doch am 9. Oktober 1989 in den Kasernen geblieben waren?

Es ging und es geht um einen der höchsten Werte, die wir kennen, nämlich um die Freiheit, und darum, wie wir sie erlangen, verstehen, gestalten und bewahren können. Schon einmal hatten wir sie verloren, man kann auch sagen: selbst verspielt. An einem Tag wie heute sollten wir uns auch an diese beklagenswerte Tatsache erinnern.

Schließlich lag noch vor 20 Jahren eine sehr lange Zeit der Unfreiheit hinter uns. Sie begann am 30. Januar 1933, dem Tag der so genannten Machtergreifung des Führers. Von da an schritt in Deutschland die Unfreiheit, ebenso wie seit dem 9. Oktober 1989 die Freiheit, unaufhaltsam voran. In beiden Fällen war keineswegs allen Menschen sogleich bewusst, was da geschah und was die logische Folge sein würde.

Die Deutschen waren dem verhängnisvollsten Missverständnis, das die Geschichte der Demokratie kennt, aufgesessen. Die meisten von ihnen glaubten damals, es gehöre zur demokratischen Freiheit, auch einen Diktator wählen zu dürfen. Sie haben ihre politische Freiheit zur Einführung der politischen Unfreiheit benutzt. Sie gaben Hitler, der diktatorisch zu regieren versprochen hatte, in demokratischer Wahl so viele Stimmen, dass er mit Gewalt und taktischen Wahlbündnissen die absolute Mehrheit erreichte.

Das hatte nicht nur für die Deutschen schlimme Folgen. Unvorstellbares Leid wurde über Europa gebracht und Deutschland selbst war am Ende zerstört. Es musste von anderen befreit werden, weil die eigenen Kräfte dazu nicht reichten. Ein Teil der Befreier brachte Freiheit und Demokratie, ein anderer brachte der sowjetisch besetzten Zone, die später DDR genannt wurde, erneut die Unfreiheit.

An die im Jahr 1933 selbst aufgegebene Freiheit zu erinnern, erscheint mir deshalb so wichtig, weil wir in unseren Tagen erleben müssen, wie sich rechtsextremistisches Gedankengut erneut verbreitet, wie es erste politische Erfolge erzielt, und weil es zugleich viel zu viele Menschen gibt, die die Demokratie geringschätzen oder gar für verzichtbar halten. Dagegen gilt es anzukämpfen. In dieser Frage sind wir uns über die Parteigrenzen hinweg gewiss einig.

(Beifall im ganzen Hause)

An dieser Stelle eine Bemerkung zu dem Wort „Revolution“. Im Lateinischen heißt „revolutio“ so viel wie „Rückkehr, Umwälzung“. Die Politologen erklären und klassifizieren den Begriff auf vielfältige Weise. Mir ist ein Bild aus der Literatur am eindruckvollsten vor Augen, und zwar das Bild eines Sklaven, der unter der drohenden Peitsche seinem Herrn gebeugt voranschreiten muss, der sich eines Tages umdreht, sich aufrichtet und dem Herrn die Stirn bietet. Und wenn es die Umstände erlauben, so überwindet er ihn.

Uns haben es die Umstände erlaubt. Die Kräfteverhältnisse der Welt hatten sich zulasten des sowjetischen Machtbereiches entscheidend verändert. Plötzlich wurde das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern wahr. Sobald alle riefen „Wir sind das Volk!“, hatten diejenigen, die vorgaben, im Namen des Volkes zu handeln, dem nichts mehr entgegenzusetzen.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und von der Regierungsbank)

Sie verschwanden aus ihren Machtpositionen ohne nennenswerte Gegenwehr. Die Wahrheit war übermächtig und es blieb friedlich.

Meine Damen und Herren! Ein kaukasisches Sprichwort lautet: Wiederholung schadet keinem Gebet. Weil diese Einsicht zur Grundausstattung eines jeden Politikers gehört, werden Sie es mir nachsehen, wenn ich hier einige wenige Feststellungen wiederhole, die ich bei ähnlichem Anlass schon einmal vorgetragen habe, die in diesem Zusammenhang aber nicht fehlen dürfen.

Dazu gehört die Ablehnung des von Egon Krenz eingeführten Begriffs „Wende“. Er ist schon deshalb falsch, weil Krenz die Macht nicht aufgeben wollte und es in seinem Sinne nie zu Freiheit und Einheit gekommen wäre. Dazu war eine Revolution erforderlich.

Wir feiern zwar heute nicht den Tag der deutschen Einheit, aber im Ergebnis der Revolution wurden Freiheit

und Demokratie sowie Rechtsstaatlichkeit in der Einheit gesichert. Deswegen noch Folgendes: Über vier Jahrzehnte hinweg galt der Satz: Der Schlüssel zur deutschen Einheit liegt in Moskau.

Das stimmte bis zuletzt. Man fand ihn nicht auf dem Leipziger Ring. Die Folgen der dortigen und weiterer revolutionärer Ereignisse, die zur Öffnung der Mauer führten, erlaubten es der deutschen und der internationalen Diplomatie, ihn in Moskau zu holen. Er wurde nur noch aufbewahrt und nicht mehr ernsthaft verteidigt.

Viele Personen haben an diesem weltgeschichtlichen Ereignis mitgewirkt, halfen, dass die Revolution möglich wurde, haben sie vorbereitet, befördert, zugelassen, genutzt oder zumindest respektiert. Ihnen allen gilt unser Dank, und zwar auf Dauer.

(Beifall im ganzen Hause)

Jede Revolution wird von Menschen gemacht. Von wem auch sonst? Wer waren die Revolutionäre? Was wurde aus ihnen? Hat die Revolution ihre Kinder entlassen - wie es im Titel eines berühmten Buches von Wolfgang Leonhard heißt? Oder war es gar wie bei Robespierre, der auf dem Schafott endete und dennoch gesagt hat: Die Revolution hat Recht, auch wenn Sie über mich hinweggeht? - Keines von beidem ist geschehen.

Jeder bekam eine Chance, auch wenn er sie nicht zu nutzen beabsichtigte oder nicht zu nutzen wusste. Ohne die Vorleistungen von Bürgerrechtsgruppen, Menschenrechts- und Friedensgruppen, Ökogruppen, kirchlichen Kreisen und anderen, die seit Jahren für eine offene Gesellschaft eingetreten waren und dafür teilweise Schlimmes hatten erleiden müssen, wäre die Revolution zu dieser Zeit nicht in Gang gekommen. Wir verdanken ihnen viel. Es geht dabei nicht um Heldenverehrung, aber um Hochachtung und Anerkennung.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU und bei der FDP)

In der heutigen Demokratie brauchen wir niemanden mehr, der Bürgerrechte erkämpfen muss, sondern nur noch viele Menschen, die sie bewahren und ausgestalten möchten. Deswegen sprechen wir zu Recht von den „ehemaligen Bürgerrechtlern“.

Dagegen wirkt der offizielle Begriff „ehemalige DDR“ geradezu komisch, erinnert er mich doch an den Münchner Volkskünstler Karl Valentin, der von seinem „ehemaligen Vater“ sprach. Allerdings gibt es inzwischen vielleicht doch ein Gegenstück zur damaligen DDR, nämlich das jetzige Bild, das bei vielen im Kopf geblieben oder neu entstanden ist, ein Bild, das von der damaligen Wirklichkeit stark abweicht, sie verklärt und als jetzt erinnerte DDR der tatsächlichen, „ehemaligen“ DDR gegenübergestellt werden kann. Mit den meisten Reden und den jetzt zahlreich erscheinenden Büchern wird man dagegen nur schwer ankommen.

Mit welchem Programm sind wir eigentlich in diese Revolution gegangen? - Es war ganz einfach: So nicht weiter! Nicht mit euch! Über alles, was zu einer offenen freien Gesellschaft führen kann, müssen wir reden; dazu brauchen wir ein neues Forum.

Mehr wollten die meisten in der aufgewühlten Zeit des Anfangs nicht hören. Das reichte für die Revolution. Doch mit der Kraft von Bürgerbewegungen kann man zwar ein System stürzen, nicht aber etwas Neues aufbauen. Dazu braucht man in der Demokratie Parteien.

Erst sie brachten die Kraft auf und den Mut zum Weiterdenken, zum Formulieren von Zielen und Programmen.

Deswegen nun ein Wort zu Ihnen, obgleich ich mich dabei, auch wegen der knappen Zeit, auf dünnem Eis bewege. Der erste Aufruf zur Gründung einer Partei erfolgte am 26. August 1989, dem 200. Jubiläum der französischen Erklärung der Menschenrechte. Markus Meckel verlas in der Golgatha-Kirche in Berlin den Aufruf zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei der DDR. Erst am 9. September 1989 folgte der Gründungsaufruf des „Neuen Forums“, am 12. September 1989 der für „Demokratie jetzt!“.

Die Gründung der SDP - man wagte sich erst drei Monate später, sie SPD zu nennen - erfolgte am 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der DDR. Als echte Neugründung standen ihr keine Mittel, Erfahrungen und Strukturen zur Verfügung. Dieser Nachteil im demokratischen Wettbewerb wirkt in Teilbereichen bis heute nach.

Die mächtige SED schmolz im Laufe der Wochen dahin wie eine wächserne Säule in der Sonne. Alle an ihr hängenden Machtapparate fanden sich am Boden wieder. Sie benannte sich bereits im Dezember 1989 zum ersten Mal um. Daran fand sie so großen Gefallen, dass sie inzwischen mit fünf verschiedenen Namen in 20 Jahren aufwartete.

(Zustimmung bei der SPD und bei der CDU)

Dieser Notwendigkeit sah sich die Ost-CDU nicht ausgesetzt, hatte sie doch eine gleichnamige große Schwester. Einige ihrer Mitglieder gingen zum „Neuen Forum“, andere kamen vom „Demokratischen Aufbruch“, später von der Bauernpartei sowie aus der Parteilosigkeit hinzu. Aber es standen auch viele, wie ich aus ihren eigenen Reihen bestätigt hörte, während der Revolution hinter der Gardine und warteten ab, wie die Sache auf der Straße ausgeht.

(Zustimmung von Frau Budde, SPD)

Dann jedoch griffen sie beherzt und mit bemerkenswertem Erfolg nach der Macht. In der Demokratie ist das ein normaler Vorgang.

Die LDPD hatte es schwerer, jedoch gelang ihr mit der neuen Ost-FDP und der Forum-Partei der Zusammenschluss zur FDP. Mit Genschers Hilfe errang sie in Halle bei der ersten Bundestagswahl sogar das einzige Direktmandat Deutschlands. - Meine Damen und Herren! Für weitergehende Ausführungen zu diesem Thema ist hier nicht die Zeit, doch zum Revolutionsverlauf gehört es zumindest dazu.

Wie ging es weiter? - Die Meinungen, Bilder und Schriften darüber sind so vielfältig wie das Leben. Selbst bei gegenteiligen Meinungen muss man gelegentlich beiden Seiten Recht geben.

Was brachte die Revolution für die Menschen in unserem Land? Ist die Freiheit, so wie es sein sollte, ein anerkanntes hohes Gut für sie? Hatte jeder eine echte Chance? Wird manches Versagen zu Recht oder zu Unrecht dem Systemwechsel vorgeworfen?

Man hörte bald Sätze wie diese: Was nützt uns die Reisefreiheit, wenn wir uns keine Fahrkarte kaufen können? Was nützt die D-Mark, wenn wir sie nicht verdienen können? - Die freiheitliche demokratische Gesellschaft brachte zunächst unbekannte Herausforderungen. Mit dem einfachen Satz „Tausche Sicherheit gegen

Freiheit“ ist dieser Wechsel nicht hinreichend beschrieben.

Die Arbeitslosigkeit hinter den Werktoren war nun vor ihnen zu sehen. Rügenurlauber flogen nach Mallorca, Trabantfahrer bestiegen den Golf. Wie all das zusammenpasst, wurde bis heute manchem nicht klar. Dennoch: Wir haben allen Grund, glücklich darüber zu sein, dass es die friedliche Revolution gab, an der viele von uns aktiv mitgewirkt haben.