Protocol of the Session on September 14, 2006

Dem stelle ich eine andere aktuelle Studie gegenüber, die sich mit dem Denken und Fühlen der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland auseinander setzt und die für Sachsen-Anhalt leider ein ganz anderes Bild ergibt. Die R+V Versicherung hat in ihrer Studie „Die Ängste der Deutschen“ für Sachsen-Anhalt ebenfalls einen Spitzenplatz nachgewiesen: Sachsen-Anhalt hat den höchsten Anteil an Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, die mit Zukunftsangst leben, nämlich 61 %. Auch in dem so genannten Dynamik-Ranking sind diese Zahlen beeindruckend. Das ist nämlich eine Steigerung um sage und schreibe 5 Prozentpunkte innerhalb eines Jahres.

(Frau Feußner, CDU: Diese Zukunftsangst schürt die PDS sehr gut!)

Das heißt, dass der Anteil der Menschen, die seit dem Jahr 2005 noch stärker in diese Zukunftsangst hineingewachsen sind, 5 % beträgt, also von 56 % auf 61 % gestiegen ist. Daran kann man sehen, welchen Platz wir beim Dynamik-Ranking dort einnehmen - und das trotz der vielen regierungsoffiziellen und medialen Erfolgsgeschichten über das nun endlich aufstrebende Land Sachsen-Anhalt in diesem einen Jahr.

Die Sorge um die eigene Arbeitslosigkeit löst bei 84 % der Bürger in Sachsen-Anhalt Ängste aus. Entgegen den Erfolgsmeldungen haben 80 % der Menschen Angst vor der Entwicklung der Wirtschaftslage in Sachsen-Anhalt. Im Hinblick auf die fehlende Bürgernähe von Politikern übertrifft uns übrigens nur noch ein Land ganz knapp. Das ist Brandenburg.

Offensichtlich haben wir in Sachsen-Anhalt nicht nur das Problem, dass die gute Stimmung der Koalition bei den Menschen nicht ankommt; die Entwicklung scheint eher umgekehrt zu sein. Wenn wir diese Situation nicht zur

Kenntnis nehmen, dann brauchen wir uns beim besten Willen nicht mehr über die nächste Wahlbeteiligung zu wundern.

(Herr Gürth, CDU: Das ist eine Studie, die Sie nicht anfechten!)

In Sachsen-Anhalt kumulieren soziale und ökonomische Probleme, die ein „Weiter so!“ und ein Durchwursteln nicht zulassen. Politik in diesem Land darf sich zum Beispiel nicht um die Entwicklung von Kinderarmut herummogeln.

Wenn man den Berichten der Bundesagentur für Arbeit Glauben schenkt, leben inzwischen mehr als 77 000 Kinder - es gibt andere Berechnungen, die sogar mehr als 90 000 Kinder angeben - unter 15 Jahren in SachsenAnhalt von Sozialhilfe. Das sind laut deren Berechnungen mehr als 29 % aller Kinder in Sachsen-Anhalt. Das entspricht gegenüber den Zahlen aus dem Jahr 2005 einer Zunahme um 3 Prozentpunkte innerhalb eines Jahres.

Wenn diese Daten schon in der Studie der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft enthalten gewesen wären, dann hätten wir möglicherweise ein ganz anderes Bild erhalten. Aber solche Zahlen interessieren natürlich eine solche Institution nicht.

Viel enttäuschender ist jedoch, dass auch in diesem Haushalt faktisch keine Reaktion auf diesen Umstand zu erkennen ist. Vor dem Hintergrund dieser Zahlen verbietet es sich, Ausgaben der öffentlichen Hand, die dazu dienen, diesen Kindern ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, am bundesdeutschen Durchschnitt oder - noch besser - an den durchschnittlichen Ausgaben in den Geberländern zu orientieren. Der Hinweis darauf, dass diese im Bereich der Kinderbetreuung möglicherweise weniger ausgeben als wir, hilft an dieser Stelle nicht weiter.

Die Länder Baden-Württemberg und Bayern haben eine Kinderarmutsquote, die weit unter 10 % liegt. Das ist mit Sachsen-Anhalt nicht vergleichbar. Man scheitert, wenn man seine Politik an Benchmarking-Studien und Durchschnittsvergleichen orientiert. Darin unterscheiden wir uns ganz deutlich.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Ein Buchhalter kann sich an diesen Durchschnitten orientieren. Ein Politiker muss die Entwicklungsbedingungen und Zukunftschancen der Bürger seines Landes als zentrales Kriterium heranziehen.

(Herr Gürth, CDU: Genau dasselbe haben Sie auch gemacht, nämlich Benchmarking, Bench- marking!)

Wir wissen auch, dass wir mit landespolitischen Maßnahmen das Problem der Kinderarmut nicht lösen können. Aber wir haben die Pflicht und Schuldigkeit, alles zu tun, um allen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft den Weg hin zu Bildungs- und Zukunftschancen zu ebnen.

Deshalb bleiben wir bei unserer Forderung, für die Bildungseinrichtung Kindertagesstätte eine Ganztagsbetreuung zu gewährleisten. Die Kosten dafür würden zumindest bei gleich bleibenden Finanzierungssystemen auf Landesseite 25 Millionen € betragen. Das ist übrigens deutlich weniger als das Geld, das man brauchen

würde, wenn man die Gebühren in diesem Bereich abschaffen wollte.

Neben den Fragen der sozialen Polarisation spielen nach wie vor die Herausforderungen der demografischen Entwicklung eine große Rolle in der politischen Debatte in Sachsen-Anhalt. Im Jahr 2007 werden wir mit dem doppelten Abiturjahrgang ein besonderes Problem haben; ein Problem jedoch nur, wenn man die mittelfristige Entwicklung vergisst, die uns zeitversetzt, also ab dem Jahr 2008, deutlich sinkende Schulabgängerzahlen in Sachsen-Anhalt bescheren wird.

Unter demografischen Gesichtspunkten ist diese Altersgruppe vor allem deshalb so interessant, weil sie diejenige ist, bei der die Bereitschaft zur Abwanderung aufgrund ihrer Altersstruktur am größten ist. Wir haben also jetzt die letzten geburtenstarken Jahrgänge, die sich entscheiden, ob sie zumindest vorerst in Sachsen-Anhalt bleiben und versuchen, hier eine Perspektive zu finden, oder ob sie dieses Land gleich verlassen.

Wenn wir eine Perspektive für diese im Land haben wollen, müssen wir uns vor dem Hintergrund der viel zu geringen Zuzüge junger Menschen aus anderen Bundesländern darauf konzentrieren, für sie jetzt Haltefaktoren zu schaffen.

Dies stellt besonders hohe Anforderungen an unsere landeseigenen Hochschulen, deren Aufgabe es sein muss, entsprechend attraktive Angebote zu unterbreiten. Etwa zwei Drittel aller Studenten, die an unseren Hochschulen studieren, sind Landeskinder. Es ist maßgeblich auch die Aufgabe unserer eigenen Hochschulen, mit diesen Problemen fertig zu werden. Allein, das wird nicht stattfinden.

(Frau Feußner, CDU: Warum polemisieren Sie denn jetzt herum? Sie waren es doch! Sie haben doch das 13. Schuljahr eingeführt!)

- Sehen Sie, Frau Feußner, weil wir das 13. Schuljahr eingeführt haben, ist Ihnen egal, was jetzt mit dem doppelten Abiturjahrgang passiert.

(Frau Feußner, CDU: Nein, das ist uns gar nicht egal!)

- Ja, eben. Darüber rede ich doch aber.

(Frau Feußner, CDU: Sie reden sich heraus! Sie haben den Stuss gemacht!)

- Frau Feußner, wir übernehmen Verantwortung. Wir werden bei der Haushaltsplanberatung Anträge stellen, und dann wird sich herausstellen, was die CDU zu diesen Anträgen sagt, wie wir mit diesem Problem umgehen. Darauf bin ich einmal gespannt, Frau Feußner.

(Frau Feußner, CDU: Das ist ein Problem!)

Im Haushaltsplanentwurf finden sich dazu übrigens ganze 250 000 €, ein Betrag, der so lächerlich ist, dass man ihn lieber gar nicht hätte einstellen sollen.

(Zustimmung bei der Linkspartei.PDS)

Bei ungefähr 8 000 zusätzlichen Abiturienten - diese brauchen wir ja an den Hochschulen - bedeutet dies, dass wir unseren Hochschulen pro potenziellen zusätzlichen Studienbewerber sage und schreibe 30 € in die Hand geben. Dazu sage ich: Das hätte man lieber gar nicht tun sollen. Das ist so lächerlich, dass an den Hochschulen das große Schulterzucken einsetzen wird.

Dann wird man sagen: Leute, tut uns leid, schickt sie irgendwo anders hin. Sollen sie doch abwandern. Hier haben wir keine Chance für sie.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS - Frau Feußner, CDU: So ein Blödsinn! So ein Stuss! Milchmäd- chenrechnung!)

Aber auch hier spürt man deutlich, dass die politische Brisanz dieses Problems ignoriert wird. Insofern bezieht sich unser zentraler Vorwurf an diesen Haushalt nicht auf die Dinge, die Sie machen, sondern auf die Dinge, die Sie nicht machen und damit Chancen unwiderruflich verstreichen lassen. Auch hier fordern wir das Primat der Politik vor der Buchhaltung. Wir brauchen die Erhöhung der Hochschulbudgets insgesamt um etwa 10 %, und zwar ohne die Einführung von Studiengebühren, um die Aufgaben in diesem Bereich zu bewältigen.

Die in dieser Woche vorgelegte vergleichende Bildungsstudie der OECD bescheinigt Deutschland genau in diesem Bereich faktisch Stillstand und einen immer größer werdenden Rückstand gegenüber den Entwicklungen in anderen Industrieländern.

Wir haben es in den letzten fünf Jahren in Deutschland geschafft, etwa 1 % mehr eines Jahrgangs zum Studienabschluss zu bringen. Im OECD-Durchschnitt sind es 7 bis 8 % mehr geworden.

Zu große Abhängigkeit der Bildungschancen von der sozialen Herkunft, zu starres Schulsystem, zu wenig Studienplätze. Wie reagiert die Landesregierung? - Mit 30 € pro potenziellen Bewerber.

Aber auch hier hilft in der Not natürlich eine Statistik: Die durchschnittlichen Bildungsausgaben pro Schüler und Student sind in Sachsen-Anhalt schließlich höher als in der OECD. Einen Grund zur Beunruhigung gibt es natürlich nicht, da ein Großteil dieses Effektes durch den radikalen Geburtenrückgang verursacht wird. Es ist einfach unmöglich, bei einer Halbierung der Schülerzahlen gleich eine Halbierung der gesamten Bildungsinfrastruktur zu realisieren. Dadurch werden die Ausgaben pro Schüler höher, ohne dass man wirklich zusätzlich Qualität erreicht.

Ähnlich sieht es übrigens mit dem Anteil der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt in Sachsen-Anhalt aus. Er ist etwa um ein Drittel höher als im Bundesdurchschnitt. Das Problem besteht nur darin, dass unser Bruttoinlandsprodukt in etwa ein Drittel niedriger als im Bundesdurchschnitt ist.

Strategische politische Aufgabenstellungen lassen sich nun einmal nicht mit den Statistiken beantworten. Deshalb bleibt unser Vorwurf bestehen, dass dieser Haushalt die zentralen Herausforderungen der Wissensgesellschaft nicht beantwortet.

Ein weiterer schwerwiegender Mangel des vorgelegten Entwurfs ist die fehlende Reaktion auf die wachsende Akzeptanz von Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rechtsradikalismus in der Mitte der Gesellschaft. Ich unterstelle der Landesregierung nicht, dass sie das Problem nicht erkannt hat. Aber ich unterstelle ihr sehr wohl Konzeptionslosigkeit. Mit gut gemeinten Buchlesungen ist es nicht getan, und eine öffentlich gewordene Differenz zwischen dem MP und dem Finanzminister, ob man dafür überhaupt Geld ausgeben sollte, denn schließlich käme das ja nur bei den Funktionären an, offenbart das Dilemma.

Der vorgelegte Landeshaushalt reagiert auf dieses Problem mit einer Fehlstelle. Unsere Aufgabe als Opposition wird es sein, das konzeptionelle und finanzielle Defizit der Koalition mit eigenen Vorschlägen zu beantworten und dazu entsprechende Anträge in den Haushaltsberatungen zu stellen.

Natürlich stellen auch wir uns die Frage nach der Haushaltskonsolidierung. Das ist der große Unterschied, mit dem ich auf Herrn Gürth reagiere: Natürlich ist die Haushaltskonsolidierung auch eine Frage der Haushaltsplanaufstellung. Wir unterscheiden uns bei der Haushaltsplanaufstellung nur darin, dass diese Frage für uns nicht die einzige ist. Wir sagen: Es gibt genug gesellschaftliche Probleme, die man sehr wohl in diesen Haushalt auch mit einfließen lassen muss. Deshalb ist die alleinige Konzentration auf die Haushaltskonsolidierung eine politisch-strategische Fehlentscheidung.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Obwohl ich hier noch einmal betone, dass die isolierte Betrachtung der Entwicklung des Haushaltsdefizits als faktisch einzige politische Bemessungsgrundlage gerade im Hinblick auf die Zukunft dieses Landes verantwortungslos ist, wollen wir uns der Frage der Haushaltskonsolidierung stellen.

Natürlich haben wir einige Reserven, die wir erschließen könnten. Einige Reserven werden allerdings gerade wieder negiert. Wir wissen genau, dass wir mit der im Jahr 2007 vorgesehenen Kreisstrukturreform langfristig ein System zementieren, das eben nicht das effektivste aller Systeme ist, und dass wir eine Menge Geld verlieren werden, und zwar wahrscheinlich zehn bis 15 Jahre lang. Das ist natürlich eine der Baustellen, mit denen man sich auseinander setzen muss. Aber das will diese Landesregierung ausdrücklich nicht.

Darüber hinaus werden wir uns in den Haushaltsberatungen mit der Forderung von Interessenverbänden auseinander setzen, die sich genau auf diesen Haushalt beziehen. So werden wir die Diskussion um die Reduzierung der Programme im Bereich des Denkmalschutzes und der Stadtsanierung fachlich differenziert führen, bevor wir hier zu einer abschließenden Bewertung kommen. Sollte es notwendig sein, in diesem Bereich Änderungen vorzunehmen, werden wir anstreben, solche Dinge aus den Fachhaushalten zu refinanzieren, um eine Erhöhung der Nettoneuverschuldung zu umgehen.

Herr Gallert, es gibt eine Nachfrage von Herrn Gürth.

In acht Minuten, wenn er sie dann noch weiß.

(Heiterkeit)