Protocol of the Session on July 7, 2006

(Herr Scheurell, CDU: Das stimmt!)

Ich sage Ihnen: Das brummt wie noch nie. Sie können gern auch die FDP-Kollegen bei uns im Hause fragen. Wir können so richtig gut nach vorn gehen. Was den ersten Arbeitsmarkt anbelangt, können Sie sich auf uns verlassen. Sie haben uns nicht umsonst gewählt, Herr Paqué.

(Heiterkeit und starker Beifall bei der CDU und bei der SPD)

Dritte Vorbemerkung. Es ist auf jeden Fall richtig, dass man über diesen Weg sehr dezidiert nachdenken muss. Wenn ich aber so arbeiten würde, wie Sie es machen, kommen wir nicht voran. Es reicht nicht aus, über Jahre hinweg - auf der Bundesebene eigentlich schon über Jahrzehnte hinweg - getrieben von ordnungspolitischen Notwendigkeiten ständig nur darüber zu diskutieren, was man alles machen könnte und müsste, um Probleme zu lösen, die immer größer werden, ohne dass es jemand praktisch anpackt. Jeder fragt nur, ob die Rechtsgrundlage vorhanden ist, ob das Haushaltsrecht beachtet worden ist usw.

Stattdessen wollen wir einfach im Rahmen eines Pilotprojektes einmal ein Modell erproben, das für die Volkswirtschaft finanziell tragbar ist, das den derzeit geltenden Gesetzlichkeiten entspricht und das eine Perspektive für Langzeitarbeitslose darstellt, deren Einkommen seit 15 Jahren bei 25 % des Durchschnittseinkommens liegt.

Ständig wird auch in der „FAZ“ akademisch darüber sinniert und diskutiert, was man gegen die Arbeitslosigkeit

unternehmen könnte, aber niemandem fällt etwas ein, um diesen Menschen eine Perspektive zu geben. Ich sage Ihnen: Wir fangen einfach damit an.

(Starker Beifall bei der CDU und bei der SPD)

In Sachen Marktwirtschaft muss man mich nicht belehren. Ich weiß, wie sie idealtypisch aussehen könnte. Ich bin ein zutiefst überzeugter Anhänger davon, dass es das richtige Prinzip ist, weil ich im Gegensatz zu Ihnen, Herr Paqué, das alternative Prinzip erlebt habe. Ich habe einen Konkurs mitgemacht. Ich habe die Nase voll davon. Aber ich weiß auch, dass das Leben etwas bunter ist, als es in volkswirtschaftlichen Lehrbüchern beschrieben wird. Es ist einfach bunter.

(Starker Beifall bei der CDU und bei der SPD)

Deswegen meine letzte Vorbemerkung. Es geht einfach darum, dass Sie uns die Chance geben, in einem Land, das mit die höchste Arbeitslosigkeit in Deutschland hat, etwas zu versuchen, und dass wir zumindest partiell dazu bereit sind, neue Wege zu gehen. Übrigens wird das Modell durchaus auch mit Respekt und mit Interesse von allen möglichen, auch von bundespolitischen Ebenen beobachtet. Man wartet regelrecht darauf, auch wenn die „FAZ“ ihren Beitrag etwas süffisant geschrieben hat.

Ich habe mit dem Redakteur gesprochen. Er sagte mir, es sei nicht das Problem, dass man Angst hätte, die Bundesrepublik Deutschland würde in einen tiefen Schlund gezogen, weil wir hier ein Modellprojekt mit 20 oder vielleicht mit einigen Hundert Menschen in den nächsten Monaten beginnen; man habe vielmehr Angst davor, dass sich eventuell ideologische Gräben auftun könnten mit all den Systemfragen, die bei solchen Arbeitsmarktansätzen aufgerufen werden könnten. Da möchte ich aber überhaupt nicht hin.

Wir sollten ganz pragmatisch versuchen - das ist auch das große Verdienst der Akteure, die sich darüber Gedanken gemacht haben; ich bin das ja nicht allein gewesen -, die Menschen davon zu überzeugen, dass es sich lohnt, prozesshaft an diesem Weg festzuhalten, auch auf die Gefahr hin, dass wir - da bin ich Wissenschaftler genug, um das zu sagen -, wenn es dann evaluiert wurde und sich herausstellt, dass es nicht funktioniert, sagen müssen: Lasst uns das Projekt ehrlichen Herzens begraben.

Dann haben wir es aber versucht und brauchen uns nicht ständig vorwerfen zu lassen, dass diese Republik ständig zig Milliarden Euro für Nichtarbeit ausgibt, die gesellschaftlichen Aufgaben immer weiter wachsen und keinem etwas einfällt, wie man letztendlich den Transfer in den ersten Arbeitsmarkt regulär organisiert.

(Beifall bei der CDU und bei der SPD)

Der Magdeburger Arbeitskreis hat lange überlegt, wie wir es anstellen könnten, die Spitze der Bundesagentur für Arbeit mit ins Boot zu bekommen. Denn es läuft erst einmal nur als Pilotprojekt, weil der Rechtsrahmen nicht unproblematisch ist. Aber in einem Pilotprojekt kann man experimentieren.

Wenn Herr Weise nach einer Prüfung bestätigt hat, dass wir es versuchen sollen, dann entsprechen wir dem, was der BA-Chef - er liegt, verglichen mit früheren Amtsinhabern, übrigens ordnungspolitisch durchaus richtig - sagt: Wir müssen an einer bestimmten Stelle einfach einmal ehrlich werden und feststellen, dass es wirklich Menschen gibt, die arbeitsfähig und arbeitswillig sind, die

aber keine Chance auf einen Arbeitsplatz haben, weil sie nicht wettbewerbsfähig sind.

Das beste Beispiel findet sich im Landkreis Wernigerode. Dort haben wir wirklich noch einmal Top-Investitionen akquirieren können. Ein Gewerbegebiet muss erweitert werden. Wir haben dort inzwischen schon eine Arbeitslosenquote von 12 % erreicht. Wir können die Jobs, welche die dort gerade beginnenden Unternehmen anbieten, nicht mehr aus dem Bestand der Arbeitslosen besetzen; wir müssen die Leute von sehr weit heranholen.

Es ist nicht so, dass sie nicht arbeiten wollen oder dass sie sich letztlich arbeitsentwöhnt fühlen. Vielmehr sind die Qualifikationsmerkmale bei diesen gegebenenfalls auch älteren Menschen einfach nicht mehr erzeugbar; das müssen wir einfach wissen. Sie haben trotzdem ein Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und darauf, dass sie nicht sehenden Auges in der Altersarmut landen.

Wir haben das Arbeitsleben über Sozialversicherungssysteme organisiert. Es wird die Kommunen in den Abgrund treiben, weil sie diesen Menschen schlicht und einfach über das Grundsicherungssystem Sozialhilfe bzw. die Aufstockungsbeträge bezahlen müssen. Das können wir uns auf Dauer nicht leisten.

Deswegen stellen wir an dieser Stelle bewusst auf die Sozialversicherungspflicht ab. Wir wollen es für die Volkswirtschaft, für den Staat möglichst kostenneutral gestalten. Das heißt, wir wollen nicht irgendwo neue Töpfe aufmachen, sondern wir wollen versuchen, passive Leistungen möglichst zu aktivieren, und all die Leistungen einbeziehen, die gezahlt werden, um jemanden auf dem ersten Arbeitsmarkt zu integrieren.

Das heißt also ganz konkret: Arbeitslosengeld I und Arbeitslosengeld II als Grundsockel, wobei das, Frau Dirlich, eine Definitionsfrage ist. Wenn Sie manchmal „Arbeitslosengeld II“ sagen, dann gehört noch etwas dazu. Wenn wir ganz klar nach Definition herangehen, dann heißt das: Der Betrag von 345 € ist der Regelsatz der Grundsicherung, nicht das Arbeitslosengeld II. Zu dem Arbeitslosengeld II werden nach dem Bescheid auch die Kosten für die Unterkunft hineingerechnet.

Diese Beträge sollen also mit in diesen Topf plus die individualisierte Integrationsleistung, die für jeden in Arbeit gebrachten Arbeitslosen im Haushalt Berücksichtigung findet, plus die Beratungsleistungen, die die Kommunen gegebenenfalls vorhalten müssen, plus die Leistungen, die wir letztendlich über unsere Programme ebenfalls für diese Personengruppen, heruntergerechnet auf den entsprechenden Leistungsempfänger, einsetzen wollen. Das heißt also per Saldo - -

Herr Minister, es gibt eine Zwischenfrage von Herrn Professor Paqué.

Etwas später. - Es ist vorgesehen, alle momentan in Einzelhaushalten vorgesehenen Leistungen zusammenzufassen und als Vergütung für eine Beschäftigung zu zahlen, die ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis begründet. Ausgenommen ist der Arbeitslosenversicherungsbeitrag, damit keine neuen Ansprüche erwor

ben werden; denn letztlich ist der Sockelbetrag bei dem ALG I ohnehin schon beitragsfinanziert bzw. über den Regelkreis des SGB II wird das Arbeitsmarktgrundfinanzierungselement mit hineingenommen. Da wollen wir keine Drehtüreffekte haben.

Es gibt ein Konzept, dessen Endfassung gestern noch einmal überarbeitet worden ist. Ich denke, das kann man in den nächsten Tagen durchaus an alle Ausschussmitglieder verschicken. In diesem Konzept werden Sie einen Prozess vorfinden. Darin sind viele Dinge enthalten, die bezogen auf die Inhalte schlicht und einfach noch mit dem Vermerk „zu prüfen“, „weiterzuentwickeln“ und Ähnlichem geführt werden. Die Kalkulation ist dargestellt.

Über die Inhalte müssen wir uns letztlich neu verständigen. Wir werden das Projekt beobachten, darüber berichten und versuchen, es auch wissenschaftlich evaluieren zu lassen. Ich werde versuchen, zwei, drei Institute, die schon Interesse angemeldet haben, mit hineinzunehmen. Schließlich wollen wir auch prüfen, ob die Diffusionsprozesse in alle möglichen Bereiche, auch in den ersten Arbeitsmarkt hinein - das System muss ja durchlässig sein - nach wie vor funktionieren und welche Anreiz- oder Fehlanreizmechanismen in Gang gesetzt werden, damit wir immer nachjustieren können.

Aber entscheidend ist: Wir haben passive Leistungen aktiviert. Das ist nach geltendem Haushaltsrecht flächendeckend in der Bundesrepublik noch nicht möglich, aber es wurde für dieses Pilotprojekt zeitlich befristet genehmigt. Das Ziel besteht aber darin, für bestimmte Personengruppen durchaus eine dauerhafte sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu schaffen. Das muss aber nicht sein. Es kann genauso genutzt werden, um überhaupt Angebote zu unterbreiten, mit denen man im Sinne des Grundsatzes des SGB II „Fördern und Fordern“ die Erwerbsfähigkeit, die Mitwirkungsbereitschaft und die Verfügbarkeit prüft.

Damit bin ich bei einer ganz klaren Aussage, was das zu erarbeitende Entgelt anbelangt. Es darf nicht sein, dass letztlich in diesen Jobs deutlich mehr verdient wird als in vielen anderen Jobs. Wir wissen, dass bis zu 25 % der Personen in einem normalen Arbeitsverhältnis in der Wirtschaft jenes Einkommen erzielen, das der Leistung für eine Bedarfsgemeinschaft entspricht. Wir können diese Menschen nicht dazu aufrufen, alles hinzuschmeißen, zu wechseln oder zu Hause zu bleiben. Diese Menschen gehen arbeiten und lassen sich ihr Einkommen aufstocken, weil sie die Arbeit der Nichtarbeit vorziehen.

Insofern muss es, so denke ich, ein gewisses Abstandsgebot geben. Dabei kann es sich nur um einen kleinen Betrag handeln. Etwas anderes kommt auch gar nicht dabei heraus, wenn wir die vorhin genannten Einzelkomponenten zur Finanzierung heranziehen. Demzufolge entspricht das avisierte System auf jeden Fall, so denke ich, der Intention des SGB II, das an dieser Stelle einen Paradigmenwechsel eingeführt hat.

Das müssen wir uns in der Bundesrepublik jetzt einmal abschließend klar machen: In dieser Bundesrepublik gibt es nach dem SGB-II-Prinzip keine Leistung mehr ohne Gegenleistung. Es gibt keine Grundsicherungsleistung für Nichtarbeit, es sei denn, der Staat oder die Behörde kann keine entsprechenden Jobs anbieten. Aber wenn sie es kann, ist sie dazu verpflichtet, die Mitwirkung der Betroffenen einzufordern, nach dem Motto „Leistung nur gegen Leistung“.

Es gibt das Gebot der uneingeschränkten Zumutbarkeit. Das war das große Problem, das sich Schröder damals im Bundestag von den Gewerkschaftsvertretern anhören musste. Danach ist jede Arbeit in dieser Gesellschaft zumutbar, weil wir de facto einen Mindestlohn haben, weil das Einkommen selbst dann, wenn die Arbeit weniger einbringt, als die Grundsicherungsleistung beträgt, auf das definierte kulturelle Existenzminimum aufgestockt wird. Damit kann also niemand mehr abstürzen.

Damit erhält ein allein lebender Arbeitslosengeld-II-Empfänger insgesamt 31-mal mehr, als der Mindestlohn in Moskau beträgt. Das ist unsere Definition von Grundsicherung. Das ist die untere Kante. Mehr ist den Menschen nach meinem Dafürhalten nicht zuzumuten. Es ist schwierig, damit zu leben. Ich habe Verwandte, die mit diesem Betrag klarkommen müssen und mit denen ich mich jeden Tag auseinander setzen muss. Ich weiß wovon ich spreche. Aber es ist ein Existenzminimum, das in dieser Höhe auf dieser Welt nirgendwo anders existiert.

(Beifall bei der CDU)

Ich könnte es noch weiter fortsetzen. Ich kürze das jetzt ab; denn wir wollen im Ausschuss noch darüber diskutieren. Darauf freue ich mich schon richtig, auch weil ich Ihre Begleitung brauche. Das ist jetzt ernsthaft gemeint, Herr Professor Paqué. Wir brauchen Ihre Begleitung. Vielleicht etwas komprimierter und etwas kürzer gefasst,

(Heiterkeit - Beifall bei der SPD)

aber ich freue mich, dass Sie mitwirken und dass Sie teilhaben dürfen am innovativsten Experiment der Arbeitsmarktgeschichte in Deutschland. Das wäre Ihnen an anderer Stelle nie passiert.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU und bei der SPD)

In diesem Sinne lasse ich jetzt auch Ihre Zwischenfrage zu.

Herr Professor Paqué, bitte schön. Sie haben das Wort.

Herr Haseloff, Sie haben mich auf charmanteste Weise mit einer Reihe von Aussagen total verwirrt.

(Lachen bei der SPD)

Aber, Herr Haseloff, lassen Sie mich ganz kurz einen Punkt noch einmal ansprechen. Sie haben in Ihren Ausführungen gesagt, es würde sich um den Versuch eines Transfers in den ersten Arbeitsmarkt handeln. Aber eigentlich zeigte der Großteil Ihrer Ausführungen dann doch, dass es sich bei der ganzen Sache letztlich um eine - ich formuliere es mal etwas sehr griffig - unbefristete ABM für Leute, die nicht mehr vermittelbar sind, handelt. Was ist denn die Grundphilosophie dieses Programms?

Meine zweite Frage schließt sich daran an. Ich halte sie für absolut zentral: An welche Altersgruppen richtet sich das Projekt? Ist es in der Tat, so wie ich ursprünglich dachte, an Ältere gerichtet, die unter objektivierbaren Gesichtspunkten mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Chance am Arbeitsmarkt haben und schwer vermittelbar sind? Oder geht es

(Unruhe bei der CDU)

- lassen Sie mich das bitte ausführen; das verlangt auch der Respekt; es sind wichtige Fragen, um die es hierbei geht - um die ordnungspolitische Zukunft Deutschlands? - Das ist kein Spaß mehr, wirklich.

Und die wird in Sachsen-Anhalt entschieden?

Ich bitte Sie, doch zuzuhören.

Meine weitere Frage ist: Betrifft es auch jüngere Leute, zum Beispiel einen 40-Jährigen, der körperlich gesund ist, der aber zahlreiche vergebliche Vermittlungsbemühungen hinter sich hat? Kann er tatsächlich in einem solchen Programm klassifiziert werden als ein nicht oder nur extrem schwer Vermittelbarer? - Dann ist er für den Rest seines Lebens stigmatisiert. Das hat mit Sozial- und Arbeitsmarktpolitik nichts mehr zu tun.