Protocol of the Session on June 26, 2008

Das Resümee des Einigungsprozesses, das wir heute, im Jahr 2008, kurz vor den Jubiläumsfeiern zum 20. Jahrestag des Mauerfalls und zum 20. Jahrestag der deut

sche Einheit ziehen können, lässt sich vielleicht an drei oder vier knackigen Zahlen festmachen.

Die Transfers, die im Rahmen der Wirtschaftsförderung laufen, sind innerhalb der Transfers im Zusammenhang mit der deutschen Einheit eigentlich marginale Größen. Der überwiegende Anteil der Transfers in der Bundesrepublik erfolgt in den Sozialversicherungssystemen. Nur ein Beispiel: Der Krankenkassenbeitrag betrüge bei uns in Ostdeutschland nicht 15 %, sondern läge bei 32 %. Die Arbeitslosenversicherung ist zu 30 % eigengedeckt. Die Rentenversicherung ist zu 40 % eigengedeckt. Die Pflegeversicherung ist nicht einmal zur Hälfte eigengedeckt.

Das ist soziale Marktwirtschaft. Unser Lebensstandard, den wir uns in Deutschland leisten, ist ganz konkret mit dieser sozialen Marktwirtschaft und mit diesem System der Solidarität verbunden.

(Beifall bei der CDU)

Wenn wir darum kämpfen, dass das auch vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und weiterer Öffnungen im Rahmen der Globalisierung so bleibt und wir die Standards nicht grundsätzlich absenken müssen, wenn wir versuchen, sie so zu steuern, dass sie finanzierbar bleiben und nicht nur durch die Generationenfolge abfinanziert werden - durch Schuldenaufnahme -, dann muss uns, sozusagen im Sinne der Eigenverantwortung, mehr einfallen als bisher, damit wir dieses System aufrechterhalten. - So weit vielleicht die generelle Einschätzung von meiner Seite.

Wenn ich Sachsen-Anhalt sehe, dann stelle ich fest, dass unser Bundesland durch Folgendes geprägt ist.

Wir sind inzwischen von den volkswirtschaftlichen Daten - das können wir morgen noch vertiefen - unter den neuen Bundesländern die Nummer 1. Wir erzeugen pro Arbeitsplatz die höchste Bruttowertschöpfung. Wir haben die höchste Arbeitsproduktivität. Wir haben diese Arbeitsproduktivität aber nicht nur dadurch erkauft, dass wir in den letzten Jahren eine Lohnzurückhaltung geübt haben, die zu den niedrigsten Löhnen geführt hätte. Nein, wir liegen dort im guten Mittelfeld.

Aber wir stellen fest, dass wir neben der registrierten Arbeitslosenzahl von 180 000 - mehrheitlich Langzeitarbeitslose - 10 000 unbesetzte Facharbeiterstellen haben, sodass wir 20 000 Dauerpendler und Fernpendler anschreiben müssen, um diese Stellen besetzen zu helfen. Das ist ein Widerspruch, den wir so nicht hinnehmen können.

Es stellt sich erstens die Frage, warum es immer noch diese hohe Zahl von Fernpendlern bei dieser hohen Zahl von freien Arbeitsplätzen gibt. Da stimmt etwas im System nicht. Die Arbeitgeberschaft ist gut beraten, anhand eines Quervergleichs der bundesdeutschen Standorte die Konditionen ihrer Arbeitsplätze neu zu bewerten. Die Attraktivität dieser Angebote muss deutlich besser werden. Ansonsten werden wir das Fachkräfteproblem nicht lösen. Ansonsten werden wir an dieser Stelle auch nicht weiterkommen und das Wachstum nach vorn treiben können.

Zweitens ist es auch verkehrt, an dieser Stelle nur über den Lohn zu reden; denn es geht auch um die allgemeine Zufriedenheit in einem Unternehmen, um die qualitativen Voraussetzungen, um die Unternehmenskultur und auch um das, was man individuelle Entwicklungsmög

lichkeiten nennt. Auch in diesem Bereich müssen klare Signale gesetzt werden. Auch in diesem Bereich brauchen wir Ansätze, die über das, was bisher praktiziert wird, hinausgehen.

Das ist neben dem Appell an die Arbeitgeber ein Appell an die Tarifparteien in ihrer juristischen Person und Funktion, wenn es darum geht, neue, innovative Wege zu finden, wie die Arbeitnehmerbeteiligung, wie die Ausgestaltung der Tarifstrukturen, wie entsprechende Vereinbarungen in den Unternehmen auszusehen haben, damit die Entwicklungsfähigkeit dieser Unternehmen aufrechterhalten wird, sich auf der anderen Seite aber trotzdem eine Entwicklung abzeichnet, die für alle attraktiv ist; denn um die Attraktivität unseres Standortes wird es in Zukunft immer mehr gehen, wenn es darum geht, auch den Wegzug zu bremsen. Also auch der Appell an die Gewerkschaften, hieran weiterzuarbeiten.

Natürlich gibt es an dieser Stelle eine ganze Reihe von negativen Effekten und auch negativen Beispielen zu nennen. Aber - das muss ich als Wirtschaftsminister ganz klar sagen - es sind Einzelbeispiele. Es ist nicht die Regel. Die Regel ist dadurch geprägt, dass sich beide Seiten bemühen, zu einem vernünftigen Ausgleich zu kommen. Die Gesamtentwicklung in Sachsen-Anhalt hat gezeigt, dass es für uns zum Standortvorteil und damit zum Attraktor für weitere Investitionen geworden ist. Wir haben nicht umsonst den höchsten Anteil auch an ausländischen Investitionen innerhalb der ostdeutschen Bundesländer nach Sachsen-Anhalt geholt.

Trotzdem - ich sage es noch einmal - besteht an dieser Stelle dringender Handlungsbedarf. Es muss ein entsprechender Organisationsgrad bestehen, um zum Beispiel darüber reden zu können, ob man einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt, damit also auch Mindestlöhne über den regulären Weg vereinbart werden können usw. Dafür müssen wir versuchen, die Attraktivität einer Mitgliedschaft sowohl im Arbeitgeberverband als auch in einer Gewerkschaft zu steigern. Dann sind wir wieder bei den Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaft, wie sie am Anfang bestanden haben, als es klare Strukturen, Positionierungen, aber auch verbindliche Vereinbarungen zwischen den einzelnen Akteuren gegeben hat.

Es war früher in einem Großbetrieb der Industrie üblich und eine Ehre, in einer Gewerkschaft zu sein. Es war für einen Arbeitgeber eine Ehre, in einem Arbeitgeberverband zu sein. Wenn das heute nicht mehr der Fall ist, dann müssen wir uns fragen, welches Zukunftsbild die gesellschaftlichen Eliten von unserer Gesellschaft haben und wie wir gerade im friedlichen Ausgleich der Interessenswidersprüche zu einem vernünftigen Fortentwicklungsweg in dieser Republik kommen wollen. Diesbezüglich müssen wir einen gesellschaftlichen Diskurs führen.

(Beifall bei der CDU)

Lassen Sie mich abschließend, weil Detlef Gürth auch schon vieles gesagt hat, noch Folgendes in den Raum stellen. Wenn es darum geht, darüber zu reden, wie wir dieses System wieder mit einer größeren Akzeptanz versehen, dann wird das sehr stark damit zusammenhängen, wie sich die gesellschaftlichen Eliten, die Multiplikatoren, selbst darstellen und wie sie selbst leben, ob wir von einer Vorbildfunktion ausgehen können oder ob wir letztlich Negativbeispiele durch die Gazetten getrieben bekommen. Da muss sich jeder Einzelne fragen,

wie er sein persönliches Leben zu führen gedenkt. Jeder hat es selbst in der Hand.

Natürlich gibt es immer das Primat der Politik. Auch die Wirtschaftspolitik ist zu großen Teilen Ordnungspolitik. Aber Ordnungspolitik lebt davon, dass die Akteure innerhalb des gesetzten Rahmens wissen, auf welchem ethischen Grundkonzept man selbst leben und arbeiten möchte.

Wenn diese ethischen Grundkonzepte nicht mehr allgemeinverbindlich sind und wenn auch keine Strukturen mehr da sind, die in der Lage sind, diese Konzepte und diese Werte weiterhin zu tradieren, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn es an vielen Stellen zu Erosionsprozessen kommt, die originär nichts mit sozialer Marktwirtschaft zu tun haben, sondern mit dem individuellen Entscheidungsvermögen konkret handelnder Menschen.

Deswegen sollten wir auch Diskussionen darüber führen, auch im Landtag und in der Landesregierung, wie wir dafür sorgen, dass Institutionen, also Strukturen, aber vor allen Dingen auch die kleinen Zellen wie Familie, Ehe und Ähnliches, die in einer offenen und demokratischen Gesellschaft als einzige in der Lage sind, dieses sicherzustellen, deutlicher in den Vordergrund gestellt und damit auch klar präferiert werden. Wir müssen, wenn wir Freiheit wollen, auch sicherstellen, dass die innerhalb dieses freiheitlichen Grundkonzeptes Handelnden wissen, was sie mit dieser Freiheit anzufangen haben und wie sie diese Freiheit für sich persönlich zukunftsfähig und generationsübergreifend ausgestalten wollen.

Man kann versuchen, eine Gesellschaft mithilfe des Steuersystems zusammenzuhalten, indem man versucht, die Spreizung der sozialen Schichten nicht zu sehr auseinandergehen zu lassen. Für Deutschland können wir zumindest reklamieren, dass eine der geringsten Spreizungen unter allen Industrienationen haben - das steuern wir auch durch unser Einkommensteuersystem -, dass wir nicht nur innerhalb der Industrienationen einen sozialen Maßstab gefunden haben, der, denke ich, akzeptabel, wenn auch fortentwicklungsbedürftig ist, dass wir aber in den ostdeutschen Ländern, vor allen Dingen auch in Sachsen-Anhalt noch über einen geringeren Spreizungsfaktor verfügen als generell in Deutschland üblich.

Daher steht nicht so sehr die Frage, wie wir diese Problematik einfangen; denn Arbeit muss sich lohnen und eine Leistungsgesellschaft lebt von dieser Spreizung. Es gibt auch eine ganz klare Korrelation zwischen Arbeitsproduktivität, Produktivität eines Systems und diesen Anreizkriterien. Vielmehr geht es darum, dass wir denjenigen, die um Chancengleichheit ringen, eine politische Perspektive eröffnen - auch in der Vision, die wir selber haben -, wenn es darum geht, dass sie nicht in dem sozialen Status verbleiben, in dem sie vielleicht unglücklicherweise groß geworden sind und in dem es keine Aufstiegschancen gab.

Es geht darum, dass es Aufstiegschancen im Sinne einer Leistungsgesellschaft gibt, sodass ich meine Leistung so einbringen kann, dass sich für mich persönlich eine positive Entwicklungsperspektive damit verbindet. Das ist die Frage des Schulsystems, das ist die Frage unseres Hochschulsystems, das ist letztlich auch die Frage eines Entwicklungssystems, das in jedem einzelnen Unternehmen sichergestellt werden muss, wenn es

darum geht, die Leistungsbereitschaft der Beschäftigten einzufordern.

All das ist unsere Aufgabe für die nächsten Jahre. Ich glaube, dass dann die soziale Marktwirtschaft eine Zukunft haben wird und dass sie auch Exportschlager für eine globalisierte Welt sein kann, die sich hoffentlich weiterhin positiv entwickeln wird. - Herzlichen Dank.

(Zustimmung bei der CDU und bei der SPD)

Vielen Dank, Herr Minister. Es gibt eine Nachfrage des Abgeordneten Herrn Gallert. Diese wollen Sie sicherlich beantworten? - Bitte schön, Herr Gallert.

Es sind zwei kurze Nachfragen. - Herr Minister, Sie sprachen vorhin davon, dass das Land Sachsen-Anhalt die höchste Arbeitsproduktivität aller Länder hat, also auf Platz 1 liegt. Meinten Sie damit alle Länder in der Bundesrepublik Deutschland oder die ostdeutschen Bundesländer?

Ich meinte die ostdeutschen Bundesländer. Wenn ich das nicht gesagt habe - -

Okay. Dann muss man sagen: Das ist seit 1995 so; das ist tatsächlich keine neue Erkenntnis.

Dann sagten Sie noch, wir hätten im Vergleich aller Industrieländer die geringste soziale Spreizung. Zu dieser Äußerung würde mich einmal die Quelle interessieren, denn dazu kenne ich andere Aussagen.

Da ich heute - auch auf Ihren persönlichen Wunsch hin - frei gesprochen habe, werde ich Ihnen nachher mein Manuskript dazu in die Hand geben.

Ja. Dann schauen wir mal.

Vielen Dank, Herr Minister, für die freie Rede

(Beifall bei der CDU)

und für die Beantwortung der Fragen.

Wir kommen jetzt zu den Debattenbeiträgen. Ehe ich die Debatte eröffne, begrüße ich Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Oschersleben und amerikanische Austauschschülerinnen auf der Südtribüne. Herzlich willkommen und viel Spaß heute bei uns!

(Beifall im ganzen Hause)

Ich rufe jetzt die erste Debattenrednerin auf, die Abgeordnete Frau Rogée von der Fraktion DIE LINKE. Frau Rogée, wir haben im Ältestenrat vereinbart, dass Sie in Ihrem Debattenbeitrag auch Ihren Antrag einbringen. Sie haben das Wort. Bitte schön.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Gürth, Herr Haseloff, ich weiß, dass die soziale Marktwirtschaft von Ludwig Erhard in der Bundesrepublik Deutschland enorme Erfolge hatte. Das ist ohne Frage.

(Zustimmung von Frau Weiß, CDU)

Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, soll er einmal gesagt haben: Wenn es den Unternehmen gut geht, dann geht es auch den Menschen bzw. den Arbeitnehmern gut.

Genau deshalb haben wir diesen Antrag gestellt; denn ich glaube, dieses Verhältnis ist gestört. Sie haben zum Teil schon darauf aufmerksam gemacht, Herr Haseloff hat auch ein paar Dinge genannt und ich möchte mich dieser gesellschaftspolitischen Debatte anschließen. Wir haben daran ein hohes Interesse. Ich schlage auch vor, meinen jetzigen Diskussionsbeitrag schon als Beitrag zu dieser Debatte zu betrachten.

Es geht uns um die Frage „Demokratie im Unternehmen“, also um die Frage der Wirtschaftsdemokratie. Deswegen unterstütze ich die These: Die politische Demokratie kann nur erhalten werden, wenn sie durch eine entwickelte Wirtschaftsdemokratie untermauert wird.

Damit uns nicht wieder Populismus oder Sonstiges vorgeworfen wird, zitiere ich Artikel 13 unserer Landesverfassung. Dieser Artikel ist auch im Grundgesetz verankert. Dort heißt es unter anderem - es ist nicht komplett -:

„Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.“

Meine Bewertung ist, dass unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen viele Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in einer Reihe von Unternehmen in ihrer persönlichen Würde und Entfaltung eingeschränkt werden.

Wie ist die Situation, die direkte Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen hat, in Sachsen-Anhalt? - In den letzten fünf Jahren ist eine große Anzahl von sozialversicherungspflichtigen Jobs verloren gegangen. Zu viele Menschen haben keine Arbeit. Im ersten Quartal 2008 gibt es 34 000 Beschäftigte weniger - Herr Haseloff, ich habe drei Mal gerechnet - als im vierten Quartal 2007. Ich weiß nicht, woher das, was Sie eben zur wirtschaftlichen Entwicklung gesagt haben, kommt. Aber vielleicht können wir darüber noch einmal reden.

(Minister Herr Dr. Haseloff: Darüber sprechen wir morgen!)